Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → ASTRONOMIE

FORSCHUNG/483: Kosmologie - Der Dunkle Kosmos (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 9/13 - September 2013

Serie Astronomie (VI)
Der Dunkle Kosmos

Gewöhnliche Materie scheint im Universum kaum eine Rolle zu spielen, vielmehr wird es laut aktuellen Theorien von unsichtbarer Dunkler Materie und Dunkler Energie dominiert. Mit raffinierten Beobachtungstechniken versuchen Forscher, diesen mysteriösen Phänomenen auf die Spur zu kommen.

Von Volker Springel



AUF EINEN BLICK
 
Licht am Ende des dunklen Tunnels?

1. Die These, dass »gewöhnliche« Materie, aus der Galaxien, Sterne und auch Menschen bestehen, im Universum nur eine Nebenrolle spielt, ist gewagt. Doch gibt es gute Gründe für sie.

2. Ein großer Teil der Materie im Kosmos könnte demzufolge aus Dunkler Materie bestehen. Teilchendetektoren und astronomische Beobachtungen könnten ihr Geheimnis demnächst lüften.

3. Eine viel größere Herausforderung bleibt die Dunkle Energie. Neuartige Weltraumexperimente wie Euclid, das um 2020 starten soll, könnten aber auch hier neue Erkenntnisse liefern.


Am 14. Mai 2009 schießt fauchend eine Ariane-5-Rakete vom Europäischen Raumbahnhof Kourou in den Himmel. Im Gepäck hat sie den Satelliten »Planck«, der über mehrere Jahre hinweg die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung - das heiße Echo des Urknalls - auffangen und mit bahnbrechender Präzision vermessen soll. Etwa 60 Tage dauerte Plancks Reise zu seinem Bestimmungsort am so genannten Lagrange-Punkt 2, 1,5 Millionen Kilometer von unserem Planeten entfernt. Dort, auf der Nachtseite der Erde, heben sich die Fliehkraft und die Schwerkraft von Erde und Sonne gerade auf, so dass der Satellit kräftefrei schwebt. Dieser Ort ist ideal geeignet, um jenseits aller irdischen Störungen auf die schwachen Signale vom Ursprung unseres Universums zu lauschen.

Ein Jahr später, im Mai 2010, starten Wissenschaftler im Forschungszentrum Jülich unter meiner Beteiligung die Millennium-XXL-Simulation. 12.388 Prozessoren von Juropa, einem der leistungsfähigsten Supercomputer der Welt, beginnen, am bisher größten und detailreichsten Modell des Universums zu arbeiten. Die Rechnung geht von Plancks Beobachtungen der kosmischen Kinderstube aus und bestimmt, was sich daraus über einen Zeitraum von mehr als 13 Milliarden Jahren hinweg entwickelt. Der Computer arbeitet sich dabei durch Trilliarden von Rechenoperationen.

Beiden Projekten gemeinsam ist, dass sie nach einem tieferen Verständnis des so genannten kosmologischen Standardmodells suchen. In dieser Theorie wird das stoffliche Universum von einer geheimnisvollen Substanz dominiert, nämlich der Dunklen Materie. Ebenfalls im Spiel ist eine weitere, nicht minder seltsame Komponente, die der allgegenwärtigen Schwerkraft entgegenwirkt: die so genannte Dunkle Energie. Sie treibt das Universum auseinander und sorgt unter anderem dafür, dass in ferner Zukunft die Galaxien immer weiter voneinander fortgerissen werden.

Was wissen wir über diese Phänomene bereits? Und wie sollen wir die ersten Hinweise auf die mögliche Natur der Dunklen Materie interpretieren? Noch ist die Lage verworren und man fühlt sich an das Rätselduell in dem Roman »Der Kleine Hobbit« von J.R.R. Tolkien erinnert, in dem Smeagol Bilbo Beutlin fragt:

Man kann es nicht sehen, kann's nicht aufstören,
kann es nicht fressen und kann's auch nicht hören,
liegt hinter den Sternen und unterm Gestein,
rieselt in alle Höhlen hinein,
kommt zuerst und folgt auch zuletzt,
löscht alles Leben, bis keiner mehr schwätzt.

Während im Buch die richtige Antwort auf das Rätsel lautet: »Es ist die Dunkelheit«, fühlen sich heutige Astronomen dabei an Dunkle Materie und Dunkle Energie erinnert. Weil Physiker stets um Vereinfachung des Verständnisses der Natur bemüht sind, darf man aber davon ausgehen, dass sie diese fantastisch anmutenden Begriffe nicht ohne Not eingeführt haben. Und tatsächlich: Für die außergewöhnliche Behauptung, dass zwei bislang unbekannte Substanzen das gesamte Universum dominieren, fanden sie mittlerweile auch außergewöhnlich starke Belege.

Vor gut 40 Jahren setzte sich bei Astronomen allmählich die Erkenntnis durch, dass Galaxien aus mehr bestehen müssen als aus dem, was man im Teleskop sieht, also Sterne, Staub und Gase. Bis dahin hatte man geglaubt, diese »normale« Materie, die Physiker als baryonische Materie bezeichnen, wäre die einzige relevante Materieform im Universum. Vor allem Messungen der so genannten Rotationskurven von Spiralgalaxien ließen aber den Eindruck entstehen, dass Masse fehlte. Die Sterne in den Außenbereichen solcher Scheibensysteme rotieren nämlich viel zu schnell, als dass sie von der Schwerkraft der sichtbaren Materie auf ihrer Bahn gehalten werden könnten. Ähnliches hatte auch schon der Astronom Fritz Zwicky in den 1930er Jahren bemerkt: Die Sternsysteme im Coma-Galaxienhaufen bewegen sich viel schneller als erwartet. Ihre Schwerkraft reicht bei weitem nicht aus, um ein Auseinanderstieben des Galaxienhaufens zu verhindern. Ergo muss es in großen Galaxienhaufen, auch »dunkle Materie« geben, vermutete Zwicky - eine Substanz, die zwar unsichtbar ist, sich aber zumindest durch ihre Schwerkraft bemerkbar macht.

Richtig ernst genommen wurde die Hypothese der Dunklen Materie aber wohl erst, als man im kosmischen Mikrowellenhintergrund winzige Temperaturschwankungen entdeckte. Dies gelang zunächst dem COBE-Satelliten, später Ballon-Experimenten wie Boomerang und Maxima, dann dem berühmten WMAP-Satelliten und jetzt eben Planck (siehe auch »Plancks Himmelskarte« in SdW 7/2013, S. 19). Der Mikrowellenhintergrund ist die Restwärme des heißen Urknalls, in die wir wie in ein extrem gleichförmiges Wärmebad aus uralten Photonen eingebettet sind. Durch die Ausdehnung des Universums ist dieses Strahlungsfeld nun allerdings auf eine Temperatur von nur noch 2,73 Kelvin über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt.

Mikrowellenhintergrund verrät Materiedichte im jungen Universum

Darin finden sich kleinste Schwankungen, die um wenige Zehntausendstel von seiner mittleren Temperatur abweichen und ein charakteristisches Fleckenmuster ergeben. Diese Fluktuationen entstanden bereits im frühen Universum, nämlich durch Schwingungen der normalen baryonischen Materie relativ zu den Photonen, modifiziert durch eine Materieform, die anders als die Baryonen nicht in Wechselwirkung mit dem Strahlungsfeld trat. Berechnungen zufolge hängen die statistischen Eigenschaften des Fleckenmusters von den Dichten der normalen baryonischen Materie und der Dunklen Materie im Universum ab, aber auch von weiteren kosmologischen Parametern wie der Ausdehnungsrate des Universums.

Aus Plancks Messungen der Temperaturfluktuationen lassen sich diese Informationen nun sehr genau auslesen. Wir können so den Materieinhalt des Kosmos bestimmen, als das Universum etwa 380.000 Jahre alt war. Denn aus dieser Zeit stammt der Mikrowellenhintergrund. Als die Temperatur nach dem heißen Urknall auf etwa 4000 Kelvin abgesunken war, konnten die frei herumfliegenden Wasserstoff- und Heliumkerne Elektronen einfangen und wurden so zu transparenten Atomen, durch welche Strahlung dringen konnte.

In den letzten 15 Jahren stellte sich heraus, dass ein einfaches Friedmann-Lemaître-Modell, also eine isotrope und homogene Lösung der Einstein'schen Allgemeinen Relativitätstheorie, das gemessene Fluktuationsmuster sehr genau beschreibt. Dieses Modell firmiert unter dem Namen »ΛCDM« (Lambda Cold Dark Matter) und ist zum Standardmodell der Kosmologie avanciert. Es wird durch nur sechs Zahlen beschrieben, die sich durch Hunderttausende von statistisch unabhängigen Messgrößen im Mikrowellenhintergrund mit einer Genauigkeit von 1,4 bis 2,6 Prozent - mit einer Ausnahme, wo der Wert bei etwa 13 Prozent liegt - bestimmen lassen. Die große Überraschung: Es scheint wesentlich weniger baryonische als nicht-baryonische Dunkle Materie zu geben. Letztere besteht vermutlich aus noch unbekannten Elementarteilchen, die schon sehr früh aus dem Vakuum erzeugt wurden, als der Kosmos noch extrem heiß war. Bald aber reichte dessen Temperatur nicht mehr aus, um weitere solcher Teilchen zu erzeugen. Sie entkoppelten sich also vom thermischen Gleichgewicht des Universums und unterliegen seither fast nur noch der gravitativen Wechselwirkung. Mit gewöhnlicher Materie treten sie daher kaum in Kontakt und durchdringen unseren Planeten ebenso ungestört wie Menschen und ihre Messinstrumente.

Anfangs müssen die Dunkle-Materie-Teilchen sehr schnell gewesen sein. Wegen ihrer frühen Entkopplung vom thermischen Gleichgewicht und ihrer vergleichsweise großen Masse machte sich aber der Einfluss der raschen Raumausdehnung auf ihre Geschwindigkeit stark bemerkbar. Mit dem schnellen Wachstum des Kosmos wurden ihre Geschwindigkeiten unerheblich, weshalb man sie auch als »kalte Dunkle Materie« bezeichnet (englisch: cold dark matter, CDM). Erst später, als winzige Störungen der Dichte im homogenen Universum die kosmische Strukturbildung in Gang setzten, kam die Dunkle Materie erneut in Bewegung.

Doch selbst sie löst das Problem der »fehlenden Masse« noch nicht ganz. Astronomische Beobachtungen haben gezeigt, dass der Raum auf großen Skalen flach ist. Er krümmt sich nur dort, wo große Massen wirken - etwa um die Sonne herum und erst recht in der Umgebung eines Schwarzen Lochs. Die Allgemeine Relativitätstheorie sagt nun voraus, dass in einem flachen Raum die Materiedichte im Universum einen bestimmten kritischen Wert besitzen muss. Diesen bringen aber selbst baryonische und Dunkle Materie gemeinsam nicht auf die kosmische Waagschale. Offenbar existiert irgend etwas, das den fehlenden Beitrag liefert. Diese Dunkle Energie ist noch völlig rätselhaft; man kann darunter eine Art Nullpunktenergie des Vakuums verstehen oder auch schlicht eine »kosmologische Konstante Λ«.

Einen solchen konstanten Beitrag zur kosmischen Energiedichte zog bereits Einstein als eine Erweiterung der Relativitätstheorie in Betracht, wenn auch aus anderen Gründen. Auf dieser einfachsten Art von Dunkler Energie - sie führt rein rechnerisch zu den beobachteten Daten, besitzt aber wenig Erklärungskraft - beruht das ΛCDM-Standardmodell. Aus ihm folgt, dass die Dunkle Energie für 68,3 Prozent der heutigen kosmischen Energiedichte verantwortlich ist und die Dunkle Materie für 26,8 Prozent. Baryonische Materie steuert nur die restlichen 4,9 Prozent bei. Das Frappierende ist nun, dass diese aus dem Mikrowellenhintergrund gewonnenen Erkenntnisse mit einer Vielzahl von anderen Beobachtungen übereinstimmen, die auf völlig unabhängigen Wegen gemacht wurden. Erst das macht die Hypothese von Dunkler Energie und Dunkler Materie so überzeugend.

Möchte man zum Beispiel die Entstehung der Elemente im frühen Universum per Computersimulation modellieren, benötigt man dafür die noch heute messbare Information, in welchem Verhältnis damals die Isotope Deuterium und Wasserstoff vorkamen. Berechnet man nun auf Basis von ΛCDM die sich ergebende Baryonendichte, stimmt das Ergebnis sehr gut mit dem von Planck gewonnenen überein - obwohl die Elementsynthese von völlig anderen physikalischen Vorgängen abhängt, nämlich von Kernreaktionen in den ersten Minuten nach dem Urknall, als noch Temperaturen von 1010 Kelvin herrschten.

Ein anderes Beispiel liefern große Galaxienhaufen. Man geht davon aus, dass sie einen repräsentativen Mix an Materie enthalten. Mit dem starken Gravitationslinseneffekt oder Analysen der Röntgenemissionen des heißen Plasmas zwischen den Galaxien lässt sich ihre Masseverteilung genau untersuchen. Die erhaltenen Werte stimmen mit jenen überein, die man aus anderen Verfahren gewinnt, etwa aus Berechnungen der Galaxienbewegungen oder auch aus Massenrekonstruktionen auf Grund des Sunyaev-Zeldovich-Effekts, der sich als eine Art Schattenwurf der Galaxienhaufen auf dem Mikrowellenhintergrund bemerkbar macht. Addiert man schließlich die Masse des Gases und die Massen der Sterne in allen Galaxien eines Haufens und berechnet, wieviel Dunkle Materie dort existieren muss, erhält man das gleiche Verhältnis zwischen baryonischer und dunkler Masse, das sich auch aus dem Mikrowellenhintergrund ergibt.

Das Wachstum kosmischer Strukturen kann man ebenfalls als aussagekräftigen Test auffassen, ob es die Dunkle Materie wirklich gibt. Ausgehend von den beobachteten Anfangsbedingungen kurz nach dem Urknall lässt es sich präzise berechnen. Auf großen Skalen gelingt dies sogar analytisch - man kann die Gleichungen also direkt lösen und muss nicht zu numerischen Simulationen greifen -, da hier die Schwankungen der Materiedichte klein bleiben. Auf kleinen Skalen muss man wie bei der Millennium-XXL-Simulation dann allerdings Supercomputer zu Hilfe nehmen, um das Zusammenballen der Materie zu einzelnen Galaxien und Galaxienhaufen zu berechnen.

Man kann nun durch Beobachtungen die Größe der mittleren Dichteschwankungen in verschiedenen Epochen bestimmen und erfährt so, wie ausgeprägt die kosmischen Strukturen sind. Das gelingt mit ganz unterschiedlichen Methoden. So liefern Absorptionslinien in den Spektren ferner Quasare eindimensionale topografische Karten der Verteilung des neutralen Wasserstoffs - zu einer Zeit, als das Universum nur 1,5 bis 3,5 Milliarden Jahre alt war. Man kann auch Gravitationslinsen im späteren Universum nutzen oder schlicht zählen, wie häufig Galaxienhaufen heute sind. Entscheidend ist bei all dem, dass die Geschwindigkeit des Wachstums der Dichteschwankungen stark von der Menge der Dunklen Materie abhängt. Daher entwickeln nur Simulationen, denen das richtige kosmologische Modell zu Grunde liegt, zu den passenden Zeitpunkten Strukturen der beobachteten Stärke. Wiederum besteht ΛCDM all diese Tests mit fliegenden Fahnen.

Die Liste ließe sich fortsetzen, eine besonders wichtige Beobachtung sei aber ausdrücklich erwähnt. Im so genannten Bullet Cluster (Aufnahme unten) verschmelzen derzeit zwei Galaxienhaufen, die vor langer Zeit miteinander kollidiert sind. Seine baryonische Komponente können wir anhand ihrer Röntgenemissionen vermessen, während sich die Verteilung der Gesamtmasse, in die sowohl baryonische als auch Dunkle Materie einfließt, aus den Positionen der Galaxien sowie aus Gravitationslinseneffekten bestimmen lässt. Interessanterweise erscheinen die Baryonen räumlich gegen den überwiegenden Teil der Masse verschoben. Die derzeit plausibelste Erklärung: Während der Zusammenstoß das baryonische Gas stoppte, scheint sich der größte Teil der Massepartikel einfach durchdrungen zu haben - genau so, wie man es für die Dunkle Materie erwartet, die nur die Schwerkraft fühlt, aber mangels weiterer Wechselwirkungen nicht mit anderen Teilchen zusammenstößt. Computermodelle auf Basis von ΛCDM, welche die Materiebewegungen im Cluster beschreiben, stützen diese Interpretation noch.

Auch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie stellen manche Forscher auf den Prüfstand

Die Evidenz für Dunkle Materie scheint also überwältigend groß. Ob wir die vorliegenden Daten korrekt interpretieren, hängt aber entscheidend davon ab, dass wir auch das Gravitationsgesetz korrekt verstehen. Anders gesagt: Wer zur Erklärung unserer Beobachtungen ohne die Annahme Dunkler Materie auskommen will, muss ein anderes Gravitationsgesetz entwickeln, als es die allgemeine Relativitätstheorie beschreibt. Auf Mordehai Milgrom geht eine solche Idee zurück. MOND, die Modifizierte Newton'sche Dynamik (siehe »Gibt es Dunkle Materie?« von Mordehai Milgrom, SdW 10/2002, S. 34), postuliert, dass die Stärke der Gravitationskraft nie unter einen bestimmten Wert fällt. So erklärt sie die Rotationskurven von Galaxien recht gut und wurde durch die Tensor-Vektor-Skalar-Theorie (TeVeS) von Jacob Bekenstein mittlerweile auch relativistisch verallgemeinert, gilt in dieser Form also auch für Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit.

Leider beschränken sich die Erfolge von MOND auf die Skala einzelner Galaxien. Will man mit ihr etwa den Bullet Cluster beschreiben, erfordert dies doch wieder die Existenz von Materie, die nicht gewöhnliche Materie sein kann. Der Spielraum für neuartige Gravitationsgesetze ist durch die vielen Präzisionstests der Relativitätstheorie im Sonnensystem ohnehin stark eingeschränkt. Auch die TeVeS-Theorie ist so gut wie ausgeschlossen. Dies haben Tests des Gravitationsgesetzes auf sehr großen Skalen gezeigt, bei denen Daten zu Gravitationslinsen, Galaxien-Clustering und der Geschwindigkeiten von Galaxien auf intelligente Weise miteinander kombiniert wurden.

Kein besseres Modell in Sicht

Zwar suchen manche Forscher auch weiterhin intensiv nach Theorien und Gravitationsgesetzen, die die Annahme von Dunkler Materie möglicherweise verzichtbar machen. Doch nach Lage der Dinge sind wir mit der gewagt scheinenden Idee konfrontiert, dass eine weitere stoffliche Komponente in Form unbekannter Elementarteilchen existiert. Mangels Modellen, die auch nur annähernd so erfolgreich sind wie ΛCDM, bleibt sie derzeit sogar die konservativste Erklärungsmöglichkeit. Worum handelt es sich also bei ihr? In der Vergangenheit haben Teilchenphysiker schon mehrfach die Existenz neuer fundamentaler Partikel vorausgesagt und sie in vielen Fällen dann auch entdeckt. Geleitet wurden sie dabei stets vom Standardmodell der Teilchenphysik, einer unglaublich erfolgreichen Theorie, die alle bekannten Elementarteilchen und deren Wechselwirkungen sehr gut beschreibt. Die neuen Funde komplettierten dabei allmählich das Teilchensortiment in diesem System, bis als vorläufiger Höhepunkt der Suche der lang ersehnte Nachweis des Higgs-Bosons am Beschleuniger LHC bei Genf gelang. Es kann den Ursprung der Masse von Teilchen erklären und bildet damit eine Art Schlussstein des Standardmodells.

Allerdings wissen wir, dass auch dieses Modell nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Denn es gilt wohl nur in einem beschränkten Energiebereich, vor allem aber lässt es die Gravitation komplett außen vor. Deshalb fahnden Forscher schon lange nach Erweiterungen des Modells, die letztlich auf eine umfassendere und einfachere Beschreibung der Natur abzielen. »Einfacher« bezieht sich hierbei nicht unbedingt auf die mathematische Formulierung der Theorie, sondern darauf, dass eine neue Theorie auf eine kleinere Zahl freier Parameter und Grundprinzipien gegründet sein sollte. Einer der am meisten diskutierten Kandidaten für eine solche Erweiterung ist die Supersymmetrie, die für jedes Teilchen des Standardmodells die Existenz eines supersymmetrischen Partnerteilchens postuliert. Aus kosmologischer Sicht ist sie besonders interessant, da das leichteste supersymmetrische Teilchen, das Neutralino, genau die Eigenschaften eines idealen Kandidaten für Dunkle Materie haben dürfte: Es wäre stabil, sehr schwer und würde nur schwach mit normaler Materie wechselwirken, wäre mithin ein so genanntes WIMP-Teilchen (englisch: weakly interacting massive particle, schwach wechselwirkendes massebehaftetes Teilchen). Außerdem wäre es im frühen Universum genau in der richtigen Menge entstanden, um die heute beobachtete Dichte der Dunklen Materie erklären zu können. Die meisten Physiker werden aber erst von der Supersymmetrie überzeugt sein, wenn die Neutralino-Teilchen tatsächlich in einem Detektor aufgespürt und ihre Eigenschaften vermessen wurden. Aber wie detektiert man Teilchen, über die man kaum etwas weiß?

Immerhin wissen wir, dass die Dichte der Dunklen Materie auf der Bahn der Sonne um das Zentrum der Milchstraße etwa 0,3 Gigaelektronvolt (GeV; Physiker geben Teilchenmassen in Energieeinheiten an) pro Kubikzentimeter beträgt. Man erwartet also etwa ein bis drei Teilchen pro Liter, falls es sich bei den Teilchen um WIMPs handelt, von denen man vermutet, dass sie typischerweise Massen um etwa 100 GeV besitzen. Alle Teilchen der Dunklen Materie innerhalb des Orbits der Erde um die Sonne summieren sich dann auf nur etwa 75 Millionen Tonnen. Das ist weniger als ein Trillionstel der Sonnenmasse; im Sonnensystem selbst spielen sie also praktisch keine Rolle. Ganz anders verhält es sich auf großen Distanzen im Universum. Hier wirkt die Dunkle Materie gleichsam als gigantischer Staubsauger, der das Zusammenballen von Materie durch seine gravitative Wirkung verstärkt und das Wachstum der Galaxien so erst ermöglicht.

Mit etwas Glück kann man die Dunkle Materie aber auch auf der Erde aufspüren. Im Gran-Sasso-Labor in Italien, einem der fortgeschrittensten seiner Art, sind mehr als tausend Meter unter dem Fels mehrere Teilchendetektoren in einer großen Experimentierhalle aufgebaut. Der Fels schirmt sie gut vor der kosmischen Strahlung ab, die die Erde unablässig mit energiereichen Protonen und anderen Teilchen bombardiert, während die Dunkle-Materie-Teilchen ungehindert durch ihn hindurchfliegen. Dies verringert die Kakophonie der Ereignisse, aus der man die seltenen Wechselwirkungen von Teilchen der Dunklen Materie mit dem Detektormaterial herausfiltern muss. Auch andere Störquellen wie die natürliche Radioaktivität schalten die Experimentatoren im Gran Sasso so gut wie möglich aus. Dann muss man den Teilchen nur noch genügend Detektormaterial in den Weg stellen. Denn gelegentlich treten Neutralinos eben doch mit Atomkernen in Wechselwirkung und versetzen ihnen dabei einen starken Stoß, den man dann unter anderem durch das dabei ausgestrahlte Szintillationslicht nachweisen kann.

Sind Dunkle-Materie-Teilchen vielleicht schon gemessen worden?

Aktuelle Experimente, die dieses Ziel verfolgen, sind etwa CoGeNT in den USA sowie CRESST, Xenon 100 oder auch DAMA/Libra. Die drei letzteren sind alle im Gran-Sasso-Labor installiert. Einige scheinen schon Signale aufgeschnappt zu haben, die man als Dunkle Materie deuten könnte. Allerdings gelang es noch nicht, sie bei anderen Experimenten zu verifizieren. Das macht die aktuelle Situation gleichzeitig verwirrend und spannend. So berichten die Forscher von DAMA/Libra bereits seit 2008, dass sie - mittlerweile mit hoher statistischer Aussagekraft - ein mit den Jahreszeiten schwankendes Signal messen. Das ist auch zu erwarten: Die Sonne umkreist das galaktische Zentrum mit einer Bahngeschwindigkeit von 220 Kilometer pro Sekunde und durchpflügt dabei die Dunkle Materie der Milchstraße. Im Sommer addiert sich die Bewegung der Erde zu dieser Geschwindigkeit, im Winter wird ihre effektive Geschwindigkeit geringer - entsprechend sollte auch der Teilchenfluss durch die Detektoren variieren.

Hat man die Dunkle Materie also bereits gefunden? Vielleicht. Aber es gibt gute Gründe, skeptisch zu bleiben. Auch die CoGeNT-Daten schienen eine Weile lang eine jährliche Modulation anzudeuten, zeitlich allerdings etwas versetzt. Doch andere Experimente, insbesondere die sehr empfindlichen Detektoren Xenon 100 im Gran Sasso sowie CDMS in Kalifornien, hätten dieses Signal eigentlich ebenfalls finden müssen. Zur Konfusion trägt auch bei, dass einige schwache Hinweise, die andere Experimente gefunden haben, auf Dunkle-Materie-Teilchen in einem ganz anderen Massenbereich als DAMA hindeuten.

Die Jagd auf WIMPs und ihren ersten direkten Nachweis in einem Detektor bleibt also spannend. In den nächsten Jahren sollte sich die Situation aber klären, da die Experimentatoren die Empfindlichkeit ihrer Detektoren schon in naher Zukunft extrem erhöhen werden und außerdem eine Forschergruppe das DAMA-Experiment am Südpol wiederholen will.

Bleibt die Suche trotz aller Anstrengungen erfolglos, würde es für die Idee der Dunklen Materie sicher enger werden. Allerdings könnte man bei einigen Experimenten auch auf das falsche Pferd gesetzt haben - falls es sich nämlich bei Dunkler Materie um Axionen handelt. Diese unterscheiden sich stark von WIMPs, sind ungleich leichter und lassen sich - sofern es sie gibt - am besten in starken Magnetfeldern detektieren, wo sie sich in Photonen umwandeln können. Nach solchen Teilchen suchen Physiker ebenfalls bereits, wenn auch noch nicht mit derselben Intensität wie die Neutralinoforscher. Axionen bieten den Vorteil, dass sich ihre Bewegungsenergie recht leicht bestimmen lassen sollte. Mit ihrer Hilfe könnte man also sogar die Geschwindigkeitsverteilung der Dunklen Materie im kugelförmigen Außenbereich der Milchstraße vermessen, dem Halo, und so Hinweise auf die galaktische Entstehungsgeschichte finden. Diese Art der Dunkle-Materie-Astronomie ist aber ganz entschieden noch Zukunftsmusik.

Einen anderen Weg zum Nachweis von Dunkler Materie bietet die Gamma-Astronomie. Neutralinos sind ihre eigenen Antiteilchen, würden also bei ihrem Zusammentreffen zu zwei sehr energiereichen Gammaphotonen zerstrahlen (Grafik in der Druckausgabe). Dies geschieht allerdings nur selten, denn der Wirkungsquerschnitt der schwachen Wechselwirkung und damit die Wahrscheinlichkeit einer solchen Interaktion ist sehr gering. Zudem müssen sich zwei Teilchen auch erst einmal finden, wofür es hoher Dichten bedarf. Dennoch müssten wir von dort, wo die Dichte der Dunklen Materie besonders hoch ist, ein schwaches Leuchten im Gammaspektrum wahrnehmen. Weltraumteleskope wie Fermi könnten es direkt registrieren. Oder aber wir vermessen die Teilchenschauer, die einzelne Gammaquanten in den obersten Atmosphärenschichten auslösen und die von Cherenkov-Teleskopen auf der Erde registriert werden.

Das stärkste Signal, so sagen hochauflösende numerische Milchstraßensimulationen wie das Projekt Aquarius des internationalen Zusammenschlusses Virgo voraus, sollte aus dem galaktischen Zentrum kommen. Denn dort wäre die Neutralino-Dichte am höchsten, so dass sich zumindest gelegentlich zwei Teilchen zur gegenseitigen Vernichtung treffen. Allerdings gibt es in dieser Region auch jede Menge anderer energiereicher Strahlungsquellen, etwa Pulsare oder die unmittelbare Umgebung eines supermassereichen Schwarzen Lochs, die das Signal leicht überdecken könnten. Deshalb kann es klüger sein, weiter abseits der galaktischen Scheibe zu schauen und ein schwächeres, dafür weniger verschmutztes Signal in Kauf zu nehmen. Oder man versucht, einen nahen dichten Klumpen Dunkler Materie ins Visier zu bekommen.

Man kann sogar nahe gelegene Galaxienhaufen untersuchen. Denn lokale Verklumpungen Dunkler Materie werden vom ΛCDM-Modell in so großer Zahl vorhergesagt, dass die von ihnen ausgehende Vernichtungsstrahlung in der Summe eine sehr hohe Leuchtkraft erreichen sollte. Allerdings konnte man bisher noch nichts derartiges nachweisen, sondern nur die möglichen Werte der fundamentalen Parameter supersymmetrischer Teilchentheorien weiter einschränken.

Für einige Aufregung sorgt derzeit Fermis Entdeckung, dass die Intensität der Gammastrahlen aus dem galaktischen Zentrum bei etwa 130 GeV besonders hoch ist. Im für die Suche nach Dunkler Materie günstigsten Fall könnte es sich um eine Signatur der Vernichtungsstrahlung handeln, aus der sich sogar direkt die Masse der Teilchen ergeben würde. Im ungünstigeren - und leider wahrscheinlicheren - Fall narrt ein verzwicktes Messproblem die Astrophysiker. Möglicherweise werden erst weitere Experimente wie das geplante, sehr leistungsfähige Cherenkov Telescope Array Licht ins Dunkel bringen.

Einen anderen indirekten Hinweis auf Dunkle Materie fand vor Kurzem das AMS-2-Experiment an Bord der Internationalen Raumstation (siehe »Mit der ISS der Dunklen Materie auf der Spur«, SdW 9/2010, S. 22). Seine Instrumente messen das Verhältnis von kosmischen Positronen zu Elektronen. Interessanterweise entdeckt AMS-2 um so mehr Positronen, je höher deren Energie ist - sie könnten bei der gegenseitigen Vernichtung von Dunkle-Materie-Teilchen entstanden sein. Die Messergebnisse bestätigen nicht nur ältere Ergebnisse des PAMELA-Satelliten, sondern werden auch von einigen theoretischen Modellen vorhergesagt. Allerdings kann man die AMS-2-Messungen auch mit anderen astrophysikalischen Prozessen erklären. Die AMS-2-Daten bleiben darum für den Moment nicht mehr als ein elektrisierender Fingerzeig.

Trotz allem bleibt aber denkbar, dass es die Dunkle Materie aus dem ΛCDM-Modell gar nicht gibt. Beweisen ließe sich dies dadurch, dass dessen Voraussagen zu Widersprüchen mit Beobachtungsergebnissen führen, die nicht aus der Welt zu diskutieren sind. Auf kleinen Skalen, auf der Ebene einzelner Galaxien, gibt es tatsächlich einige Spannungen zwischen Theorie und Beobachtung. So sagt das Standardmodell eine deutlich größere Zahl von Satellitengalaxien voraus, als sie in der Umgebung der Milchstraße beobachtet werden. Auch die Form der Rotationskurven im Zentrum einiger Galaxien beschreibt das ΛCDM nicht gut. Umstritten ist allerdings, wie ernst man diese Diskrepanzen zum jetzigen Zeitpunkt nehmen sollte. Das Problem besteht darin, dass die baryonische Dichte auf den betroffenen Skalen so groß wird, dass sich die Dunkle Materie durch deren Schwerkrafteinfluss umverteilt. Ein solcher Prozess lässt sich aber derzeit nur mit großen Unsicherheiten berechnen; wir wissen also schlicht nicht genau, was ΛCDM für diese Situation voraussagt. Deshalb arbeitet man intensiv an verlässlicheren Berechnungen, um entscheiden zu können, ob sich diese Spannungen in Wohlgefallen auflösen oder ob sie gar die Kalte Dunkle Materie vom Sockel stoßen. Alles in allem stehen die Chancen wohl gut, dass wir diese Frage in den nächsten Jahren beantworten können.

Dann aber wartet gleich eine weitere große Herausforderung auf uns. Ende der 1990er Jahre entdeckten Forschungsteams um Saul Perlmutter sowie um Brian Schmidt und Adam Riess, dass sich die Ausdehnung des Universums immer mehr beschleunigt. Systematisch hatten die 2011 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichneten Wissenschaftler weit entfernte Supernovae vom Typ Ia beobachtet. Bei einer solchen thermonuklearen Explosion, die sich über Milliarden Lichtjahre hinweg beobachten lässt, wird ein Weißer Zwerg zerstört, ein kleiner, heißer Stern. Weil diese Vorgänge eine hohe Universalität aufweisen, kann man aus den gemessenen Lichtkurven ihre absolute Helligkeit berechnen. Solche Supernovae gelten daher als »Standardkerzen«, die einen klassischen kosmologischen Test erlauben, nämlich das Verhältnis zwischen kosmologischer Rotverschiebung, also der »Dehnung« von Licht durch die Expansion des Raums, und scheinbarer Helligkeit, also der auf der Erde noch messbaren Lichtintensität, zu bestimmen.

Die Dunkle Energie beginnt, das kosmische Energiebudget zu dominieren

Bei kleinen Abständen liefert der Test das Hubble'sche Gesetz, demzufolge sich Galaxien umso stärker voneinander entfernen, je weiter sie voneinander entfernt sind. Bei größeren Abständen kommt zusätzlich die zeitliche Veränderung der kosmischen Ausdehnungsrate mit ins Spiel. Die Supernova-Daten zeigten nun überraschend, dass sich das Universum seit etwa fünf Milliarden Jahren beschleunigt ausdehnt. Als Ursache dafür kommt nur Dunkle Energie in Frage, also eine abstoßende Kraft. Diese wiederum muss eine bestimmte Stärke besitzen, um die Daten zu erklären. Und tatsächlich stimmt die Stärke der erforderlichen abstoßenden Kraft mit den Ergebnissen überein, die wir aus Analysen des Mikrowellenhintergrunds und anderen kosmologischen Beobachtungen gewinnen.

Ist die Dunkle Energie einfach eine kosmologische Konstante, beeinflusst sie lediglich die Ausdehnungsrate des Universums und besitzt damit nur sehr indirekten Einfluss auf die kosmische Strukturentstehung. Dann war auch ihr Beitrag zur kosmischen Energiedichte im jungen Universum eher unerheblich gegenüber dem Beitrag der Materie. Interessanterweise wird sich die Rolle der Dunklen Energie aber in Zukunft ändern. Denn schon jetzt hat sie begonnen, das Energiebudget des Universums zu dominieren. Anders als die Dunkle Materie wird sie durch die Raumausdehnung nicht kontinuierlich verdünnt, sondern behält einen konstanten Wert. Dies ist zumindest im ΛCDM-Modell der Fall, in dem sie ja explizit als Konstante angenommen wird. (In anderen Modellen kann sich die Stärke der Dunklen Energie auch ändern.) Das Universum ist also in eine Phase exponentieller Expansion eingetreten, die sich im Lauf der Zeit - über Hunderte von Jahrmilliarden hinweg - dadurch äußern wird, dass immer größere Bereiche des Kosmos hinter unseren Sichthorizont entschwinden.

Warum aber leben wir gerade zu einer Zeit, in der die Dunkle Energie und die Dunkle Materie ungefähr gleiche Beiträge zur kosmischen Energiedichte liefern? Viele Physiker sind überzeugt, dass diese Koinzidenz nicht einfach zufällig zustande kommt. Stattdessen sollte es einen Grund geben, der sie auf natürliche Weise erklärt. In manchen Modellen wie der Quintessenz-Theorie, welche die Dunkle Energie mit einem sich dynamisch entwickelnden Skalarfeld beschreibt, klappt das schon ganz gut. In der Regel bringen solche hypothetischen Skalarfelder auch neue Wechselwirkungen zwischen Dunkler Materie und Dunkler Energie mit ins Spiel. Die wiederum könnten den Prozess der kosmischen Strukturentstehung beeinflussen, wofür es aber noch keine Indizien gibt.

Radikalere Denkansätze setzen auf Modifikationen des Gravitationsgesetzes selbst. Dazu zählen nichtlineare Erweiterungen der Relativitätstheorie wie die so genannte f(R)-Gravitation und auch Theorien, in denen der Raum mehr als drei Dimensionen besitzt. Am weitesten gehen die abstrakten Konzepte der Stringtheorie oder der Schleifenquantengravitation. Diese versuchen nichts geringeres als die beiden Grundpfeiler der modernen Physik zu vereinheitlichen, also die Quantenfeldtheorie, die drei der vier Grundkräfte beschreibt, mit der Gravitationstheorie Einsteins zu verschmelzen. Noch sind diese Ansätze nicht ausgereift, aber vielleicht gelingt es den Stringtheoretikern, die komplexe Mathematik ihrer Modelle so weit zu bändigen, dass sie sich künftig auf kosmologische Fragen anwenden lässt. Und möglicherweise liefert sie dann auch Hinweise auf die Natur der Dunklen Energie.

An Hypothesen mangelt es jedenfalls nicht, wenn sie auch oft exotisch anmuten. In jedem Fall brauchen wir neue Beobachtungsdaten, um die vielen Ideen zu ordnen und die guten von den irreführenden zu trennen. Seit einigen Jahren bemüht man sich daher verstärkt, nicht nur die beschleunigte Expansion noch genauer zu überprüfen, sondern auch, die Expansionsgeschichte des Universums zu rekonstruieren. Denn wenn man versteht, wie diese ablief, kann man auch die Eigenschaften des Dunkle-Energie-Felds genauer bestimmen.

Die verschiedenen Theorien zu dieser Frage unterscheiden sich in ihren Voraussagen für die so genannte Zustandsgleichung der Dunklen Energie, unter der man das Verhältnis w von Druck und Energiedichte versteht. Für eine kosmologische Konstante Λ liegt dieses Verhältnis konstant bei w = -1, aber für alternative Modelle ergeben sich andere, im allgemeinen zeitlich veränderliche Werte. Wichtigstes Ziel ist es daher, den Parameter w so präzise zu vermessen, dass sich die vermuteten Abweichungen von w = -1 in den Daten zeigen. Gelänge das, wäre die kosmologische Konstante und damit auch das einfache ΛCDM-Modell widerlegt. Gleichzeitig könnte die neue Information theoretische Überlegungen in die richtige Richtung leiten.

Das ambitionierteste Projekt auf diesem Gebiet ist die neue Satellitenmission Euclid der ESA. Dieser kosmische Späher soll gegen Ende der Dekade gestartet werden und eine Reihe physikalischer Effekte nutzen, um die Raumexpansion zu vermessen. Dazu zählen in erster Linie der schwache Gravitationslinseneffekt, der zu kleinen, aber systematischen Verzerrungen der Bilder entfernter Galaxien führt, sowie die Baryonischen Akustischen Oszillationen. Letztere sind die schon erwähnten Schwingungen der baryonischen Materie, die sich im Mikrowellenhintergrund bemerkbar machen. Diese wurden auch der großräumigen Materieverteilung aufgeprägt und lassen sich deshalb in der Verteilung der Galaxien im Universum nachweisen.

Diese Oszillationen kann man wie einen gigantischen Maßstab nutzen. Beobachtet man, welche Größe sie zu verschiedenen Zeiten der kosmischen Entwicklung besaßen, lässt sich die Ausdehnungsgeschichte des Universums rekonstruieren. Euclid wird dazu die Rotverschiebungen von mehr als 100 Millionen Galaxien vermessen. Daneben wird der Satellit noch die Elliptizitäten von mehr als zwei Milliarden Galaxien bestimmen. In ihnen äußern sich die Verzerrungseffekte auf Grund des schwachen Gravitationslinseneffekts, aus denen man wiederum Messungen der Stärke der kosmischen Dichteschwankungen zu verschiedenen Zeiten und damit der Wachstumsgeschwindigkeit kosmischer Strukturen gewinnen kann. Im Ergebnis ist dies ein weiteres unabhängiges Verfahren, mit dem wir die Dunkle Energie vermessen können - und ein gigantisches Projekt, an dem schon jetzt mehr als tausend Wissenschaftler beteiligt sind.

Werden Astrophysiker mit unterschiedlichen Erklärungen für dasselbe Phänomen konfrontiert, wählen sie in der Regel die einfachste als die wahrscheinlichste aus. Dieses Prinzip ist als Ockhams Rasiermesser bekannt und lässt sich auch auf die Hypothese anwenden, dass das Universum zum größten Teil aus einem noch unbekannten Dunkelstoff besteht. So gewagt diese erscheint, so schlägt doch die Annahme, dass Dunkle Materie und Dunkle Energie tatsächlich existieren, alle anderen Konzepte um Längen, wenn man sie auf ihre Plausibilität und Einfachheit überprüft. Doch erst indem wir die Dunkle-Materie-Teilchen eines Tages direkt nachweisen, können wir alle weiterhin berechtigten Zweifel an ihrer Existenz ausräumen. Noch schwieriger dürfte es aber sein, Skeptiker von der Existenz der Dunklen Energie zu überzeugen. Denn diese wird sich, wie anzunehmen ist, dem direkten Nachweis in irdischen Laboren wohl vollständig entziehen.

Die Suche nach nach den dunklen Substanzen im Universum bleibt daher eine der größten Herausforderungen der Astrophysik. Gleichzeitig ist sie von grundlegender Bedeutung für die Kosmologie. Denn wenn sich ΛCDM bewahrheitet, ist das baryonische Material, aus dem auch wir selbst bestehen, ziemlich unwichtig für das Schicksal des Universums. Das macht uns aber nur zu umso spezielleren Wesen.


DER AUTOR
Volker Springel ist seit 2010 Professor für Theoretische Astrophysik an der Universität Heidelberg und forscht am Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS). Springel erhielt mehrere Preise, darunter den Heinz Maier-Leibnitz-Preis der DFG (2004) und den Klung-Wilhelmy-Weberbank-Preis für Physik (2009). Mit seinen immer umfangreicher werdenden Simulationen geht er der Frage nach, wie sich im Lauf der Entwicklung des Universums aus der vorhandenen Materie Sterne und Galaxien entwickelten.


DIE SERIE IM ÜBERBLICK
 
Die größten Rätsel der Astronomie

Teil 1 - Heiße Stürme im Kosmos / Gerhard Börner, April 2013
Teil 2 - Giganten im All / Gerhard Börner und
- Zeugen des Urknalls / Marek Abramowicz und Julia Tjus, Mai 2013
Teil 3 - Aus Staub geboren / Thomas Henning, Juni 2013
Teil 4 - Faszinierende Neue Welten / Lisa Kaltenegger, Juli 2013
Teil 5 - Das wechselhafte Leben der Sterne / Ralf Launhardt, August 2013
Teil 6 - Der Dunkle Kosmos / Volker Springel, September 2013


QUELLEN
Frenk, C., White, S.D.M.: Dark Matter and Cosmic Structures. In: Annalen der Physik 524, S. 507-534, 2012
Bertone, G., Hooper, D., Silk, J.: Particle Dark Matter: Evidence, Candidates and Constraints. In: Physics Reports 405, S. 279-390, 2005
Peebles, P.J.E.: Seeing Cosmology Grow. In: Annual Review of Astronomy and Astrophysics 50, S. 1-28, 2012
Amendola, L.: Cosmology and Fundamental Physics with the Euclid Satellite. 6. Juni 2012. Abrufbar unter arxiv.org/abs/1206.1225


WEBLINK
Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1201694


w i s - wissenschaft in die schulen

Didaktische Materialien für den Unterricht zum Thema »Dunkle Materie« kostenfrei herunterladen unter:
www.wissenschaft-schulen.de/dunklematerie


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 61:
Diese 3-D-Darstellung der Verteilung Dunkler Materie basiert auf Messungen des schwachen Gravitationslinseneffekts mit dem Weltraumteleskop Hubble. Dargestellt sind Flächen gleichen Gravitationspotenzials. Nach oben und nach vorne sind die Himmelskoordinaten aufgetragen, während die Zeitkoordinate von rechts (dem jungen Universum) nach links (unsere Gegenwart) weist. Das Diagramm zeigt, wie die anfangs recht gleichmäßig verteilte Materie im Lauf der Zeit zunehmend »verklumpt«.

Abb. S. 62:
Die Daten des Planck-Satelliten, der den Mikrowellenhintergrund kartierte (Temperaturunterschiede sind in der Grafik farbkodiert), bestätigen das Standardmodell der Kosmologie, demzufolge Dunkle Materie und Dunkle Energie das Universum dominieren.

Abb. S. 64 oben:
Die Planck-Messungen präzisierten bisherige Aussagen über die Zusammensetzung der Energiedichte im Universum und bestätigten das kosmologische Standardmodell damit erneut.

Abb. S. 64 unten:
Der Bullet Cluster ist das Ergebnis der Kollision zweier Galaxienhaufen. Dunkle Materie (blau koloriert, mit Gravitationslinsen nachgewiesen) und heißes Gas (rot, durch seine Röntgenstrahlung identifiziert) erscheinen klar voneinander getrennt, weil sie lediglich durch ihre Schwerkraft miteinander wechselwirken.

Abb. S. 66:
Die Millennium-XXL-Simulation, durchgeführt unter Beteiligung des Autors, umfasst einen Raumwürfel mit einer Kantenlänge von 13,4 Milliarden Lichtjahren. Basierend auf dem ΛCDM-Modell gelingt ihr eine Beschreibung des Universums, deren statistische Eigenschaften sehr nahe an denen der Realität liegen. Der Zoomfaktor zwischen den einzelnen Bildern beträgt jeweils acht.

Abb. S. 67:
Treffen zwei der von der Supersymmetrie vorhergesagten Neutralinos aufeinander, zerstrahlen sie. Astrophysiker versuchen, die dabei emittierte Gammastrahlung ebenso wie die entstehenden Positronen und Antiprotonen zu registrieren, um so indirekte Hinweise auf die Existenz von Dunkler Materie zu erhalten.

Abb. S. 68:
Diese vom Weltraumteleskop Fermi erstellte Karte zeigt die Quellen von Gammastrahlen (rot und gelb) in der Milchstraße. Unter den Emissionen verbirgt sich möglicherweise auch die Vernichtungsstrahlung von Dunkle-Materie-Teilchen.

Abb. S. 69:
Der Fund des Higgs-Teilchens komplettierte 2012 das Standardmodell der Teilchenphysik (links). Existiert die so genannte Supersymmetrie, würde jede darin enthaltene Teilchenart darüber hinaus noch in einer »Super«-Variante vorkommen (rechts). Nachweisen ließ sich dies bislang aber nicht. Das Neutralino, das als Kandidat für Dunkle-Materie-Teilchen gilt, wird in der Supersymmetrie als Überlagerung eines Binos (B~, hier nicht dargestellt), eines Higgs (H) und eines Higgsinos (H~) beschrieben.

Abb. S. 70:
Aus welchen Bestandteilen setzt sich die im gesamten Kosmos enthaltene Energie zusammen? In den ersten 10.000 bis 100.000 (104 bis 105) Jahren nach dem Urknall dominierte die Strahlung, anschließend übernahm die Materie für lange Zeit das Zepter. Dann, rund zehn Milliarden (1010) Jahre nach dem Urknall, kam es dem ΛCDM-Modell zufolge zu einem neuen Wendepunkt. Seither trägt die Dunkle Energie den größten Teil zur kosmischen Energiedichte bei.

© 2013 Volker Springel, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

*

Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 9/13 - September 2013, Seite 60 - 70
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Telefon: 06221/9126-600, Fax 06221/9126-751
Redaktion:
Telefon: 06221/9126-711, Fax 06221/9126-729
E-Mail: redaktion@spektrum.com
Internet: www.spektrum.de
 
Spektrum der Wissenschaft erscheint monatlich.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 84,00 Euro pro Jahr
für 12 Hefte.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2014