Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → ASTRONOMIE

GESCHICHTE/064: Galileis Revolution und die Transformation des Wissens (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 11/08 - November 2008
Zeitschrift für Astronomie

Galileis Revolution und die Transformation des Wissens

Von Jürgen Renn


Der geistige Umbruch am Anfang des 17. Jahrhunderts, der den Beginn der modernen Naturwissenschaften und insbesondere der modernen Astronomie markiert, ist untrennbar mit dem Namen Galileo Galilei verbunden. Wie kam es zu diesem Umbruch? Welche Rolle spielte Galilei tatsächlich dabei?


Vor knapp vierhundert Jahren richtete Galileo Galilei das Teleskop auf den Himmel und löste eine Revolution der Astronomie aus. Er sah, was kein Auge zuvor erblickt hatte: Berge und Krater auf dem Mond, die Monde des Jupiter und die Sterne der Milchstraße. Was er sah, deutete er als Zeugnisse für die Wahrhaftigkeit des kopernikanischen Weltbilds und nahm, mit der Veröffentlichung seines »Sidereus Nuncius« (wörtlich: Sternenbote), die öffentliche Auseinandersetzung mit dem offiziellen Weltbild der Kirche auf.

Aber Galilei hat nicht nur der Wissenschaft seiner Zeit neue Perspektiven eröffnet, sondern auch der modernen Wissenschaftsgeschichte. Dem 19. Jahrhundert galt er vor allem als der Erfinder der experimentellen Methode, nach dem Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré konnte er zum Begründer der mathematischen Naturwissenschaft werden, weil er der platonischen Philosophie folgte, während die neuere Literatur gerade auch die außerwissenschaftlichen Kontexte und Voraussetzungen seines Wirkens betont und Galilei als Häretiker, als Höfling oder als Künstler unter die Lupe nimmt. Allen diesen Interpretationen ist gemeinsam, dass sie Galilei als einen mehr oder weniger einzigartigen Protagonisten sehen und versuchen, jene Züge an ihm zu identifizieren, die ihm den Schritt vom Mittelalter in die Neuzeit der Wissenschaft erlaubt haben. Die Erklärung für den Umbruch des wissenschaftlichen Weltbilds, die sich mit seinem Namen verbindet, schreiben sie letztlich direkt oder indirekt seinem besonderen Genie zu - und bleiben sie damit im Grunde doch schuldig.


Eine wissenschaftshistorische Herausforderung

Es macht in der Tat stutzig, dass in gewisser Hinsicht alle diese Interpretationen der Revolution Galileis ihre Berechtigung haben. Es lässt sich zum Beispiel anhand seiner nachgelassenen und in Florenz aufbewahrten Manuskripte wirklich nachweisen, dass Galilei bereits raffinierte Experimente durchgeführt hat, und auch an Galileis künstlerischer Begabung und Prägung kann nach dem herausragenden Buch von Horst Bredekamp zu diesem Thema kein Zweifel mehr bestehen.

Es sollen daher im Folgenden zunächst einige Wendepunkte der Biografie Galileis kurz rekapituliert werden, um zu zeigen, dass sich sein Lebenslauf durch einschneidende Wechsel seines wissenschaftlichen Stils auszeichnet. Es wäre also zu kurz gegriffen, wollte man Galileis wissenschaftliche Leistungen ausschließlich mit einem dieser Stile in Verbindung bringen. Die Vielfalt seiner Interessen und Aktivitäten und das Schillernde seiner Biografie verweisen vielmehr auf einen umfassenderen Prozess der Wissenstransformation, der sich nicht auf einzelne Entdeckungen herausragender Persönlichkeiten reduzieren lässt, mögen sie auch so einzigartig erscheinen wie Galileis teleskopische Entdeckungen, mit denen die Epoche der optischen Astronomie begonnen hat. Denn der Schein trügt. Das Zeitalter der wissenschaftlichen Revolution, das sich mit Galileis Namen verbindet, ist auch ein Zeitalter der Parallelentdeckungen - ein weiteres Indiz für das Wirken dieses umfassenderen Prozesses der Wissenstransformation.

Um diesem Prozess auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, als nächstes einen Blick auf das geteilte Wissen jener Zeit zu werfen, also auf das Wissen, das den Zeitgenossen als gemeinsames Erbe ihrer Geschichte zur Verfügung stand und das den Horizont ihrer Denkmöglichkeiten bestimmte. Zu diesem gemeinsamen Reservoir gehörte, neben dem intuitiven Wissen über unsere Umwelt, das von allen Menschen geteilt wird, sowohl das praktische Wissen der Zeit, wie es zum Beispiel in den Handwerkstraditionen überliefert wurde, als auch das theoretische Wissen, das in der Renaissance durch die wiederentdeckten Schriften der Antike einen neuen Aufschwung erfahren hatte.

Die Dynamik der Wissensentwicklung, die das Zeitalter Galileis charakterisierte, lässt sich allerdings erst verstehen, wenn man schließlich auch die Tatsache berücksichtigt, dass diese Wissensressourcen eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der technischen Herausforderungen dieser Zeit spielten. In den europäischen Städten war seit dem Mittelalter eine Schicht von Wissenschaftler- und Künstler-Ingenieuren entstanden, die mit technischen Großprojekten wie dem Dombau, dem Bau von Festungsanlagen, dem Schiffsbau, dem Wasserbau oder der Artillerie befasst waren und vor diesem Hintergrund ein vitales Interesse an der Nutzung und Weiterentwicklung dieser Wissensressourcen besaßen, was auch immer deren Quelle im Einzelnen war (siehe Bildunterschrift 2).

Die Weiterentwicklung des überlieferten Wissens wurde ihrerseits durch die materielle Kultur und insbesondere durch die herausfordernden Gegenstände geprägt, mit denen diese Wissenschaftler-Ingenieure konfrontiert waren, von mechanischen Hebewerkzeugen über das Pendel und die Sprungfeder bis zur Projektilbewegung. Die Versuche, mit den beschränkten intellektuellen Mitteln der Zeit die Komplexität dieser herausfordernden Gegenstände zu bewältigen, löste eben jenen Prozess der Wissenstransformation aus, in dessen Verlauf aus der aristotelischen Naturphilosophie am Ende die klassische Mechanik und aus dem geozentrischen Weltbild der Antike die moderne Astronomie entstand.


Eine schillernde Persönlichkeit

Galilei begann seine wissenschaftliche Laufbahn als Mathematiker. 1589, im Alter von 25 Jahren, trat er den Lehrstuhl für Mathematik an der Universität von Pisa an. Wie insbesondere sein Briefwechsel mit bedeutenden Wissenschaftlern wie dem Jesuiten und Mathematiker Christopher Clavius und dem Wissenschaftler-Ingenieur Guidobaldo del Monte belegt, hatte Galilei sich zuvor durch seine mathematischen Studien zur Mechanik in der Tradition von Archimedes hervorgetan. Seine ingeniöse Beherrschung der euklidischen Beweistechnik und sein souveräner Umgang mit den von Archimedes aufgeworfenen Problemen der Statik hatte ihm die Anerkennung und Förderung dieser Meister des Fachs eingetragen, ohne die es in den damals noch unsicheren institutionellen Verhältnissen der Wissenschaft kein Fortkommen gegeben hätte.

Eigentlich aber hätte Galilei, dem Wunsch seines Vaters gemäß, Mediziner werden sollen - ein weitaus einträglicheres Gebiet akademischer Betätigung als die Mathematik. Galileis Vater Vincenzo war Musiker und hatte selbst ein bedeutendes Werk zur Musiktheorie publiziert. Durch seinen Vater hatte der junge Galileo offenbar schon früh einen Eindruck von den Erkenntnismöglichkeiten gewonnen, die der Einsatz mathematischer Überlegungen und experimenteller Techniken in einem Feld praktischen Wissens bot. Vielleicht war er deshalb auch besonders empfänglich für die Faszination des Unterrichts, den Ostilio Ricci an der Accademia del Disegno in Florenz bot. Ricci war möglicherweise ein Schüler des berühmten Wissenschaftler-Ingenieurs und Begründers der wissenschaftlichen Ballistik Niccolò Tartaglia und unterrichtete - auch auf der Grundlage von dessen Werken - euklidische Geometrie, praktische Rechentechniken in der Tradition von Luca Pacioli, aber auch Perspektive und Zeichentechniken, wie sie angehende Architekten und Künstler-Ingenieure für ihre Projekte benötigten. Es war jedenfalls offenbar dieser Unterricht, der Galilei schließlich dazu bewog, das Medizinstudium aufzugeben und sich ganz seinen Interessen an Mathematik und Mechanik zu widmen.

Nachdem Galilei 1589 seinen Lehrstuhl in Pisa angetreten hatte, änderte sich jedoch sein wissenschaftliches Profil. Wahrscheinlich unter dem Eindruck der naturphilosophischen Studien von Pisaner Kollegen wie Borro und Buonamici begann auch Galilei mit der Arbeit an einer philosophischen Schrift über die Bewegung, die in der wissenschaftshistorischen Literatur unter dem Titel »De Motu« bekannt geworden ist. In den verschiedenen Versionen dieser unveröffentlicht gebliebenen Frühschrift beschäftigte er sich mit aristotelischen Themen wie der Bewegung fallender Körper in verschiedenen Medien, die aber durch die Einbeziehung einfacher Maschinen wie der Waage und der schiefen Ebene erweitert wurden. Trotz der antiaristotelischen Polemik bildeten die aristotelische Physik und Unterscheidungen wie die zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung dennoch die Grundlage seiner Überlegungen. Gegenüber der scholastischen Tradition zeichnet sich Galileis Werk zum einen durch die Bezugnahme auf die Mechanik und zum anderen durch den Versuch aus, archimedische Begriffe und Theorien für eine Revision der aristotelischen Physik zu nutzen. So ersetzt Galilei zum Beispiel die aristotelische Behauptung, dass Körper um so schneller fallen, je schwerer sie sind, durch die an Archimedes orientierte These, dass ihre Fallgeschwindigkeit vom spezifischen Gewicht abhängt. Auch die herausfordernden Gegenstände der zeitgenössischen Technik wie das Pendel und die Projektilbewegung spielen in Galileis Traktat eine, wenn auch eher untergeordnete, Rolle.


Experimente zur Ballistik

Das Jahr 1592 markiert einen weiteren Wendepunkt in Galileis Laufbahn und zugleich den Beginn eines neuen wissenschaftlichen Stils. Es war Galilei durch die Fürsprache seines Gönners Guidobaldo del Monte gelungen, einen Ruf an die berühmte Universität von Padua auf den dortigen Lehrstuhl für Mathematik zu erhalten, der weitaus besser bezahlt war als die Position, die Galilei in Pisa innehatte. Auf dem Weg in die venezianische Republik nahm Galilei die Gelegenheit wahr, Guidobaldo auf seiner Burg Montebaroccio in der Nähe von Pesaro zu besuchen und mit ihm über gemeinsame wissenschaftliche Interessen zu diskutieren.

Einige Eintragungen in Guidobaldos Forschungsnotizbuch, das sich erhalten hat und heute in der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrt wird, geben Zeugnis von diesem Austausch und den Themen, die dabei zur Sprache kamen (siehe die Bildunterschriften 3 und 8). Zu diesen Themen gehörten offenbar das Gleichgewicht an schiefen Ebenen, das Schwingen von Saiten, die geometrische Form einer schwingenden Kette und die Kurve, die ein Projektil auf seiner Bahn beschreibt, wahrscheinlich aber auch das Werk von Giambattista Benedetti. Dieser hatte bereits einige Jahre vor Galilei in seinem Buch ähnliche Probleme behandelt wie Galilei in seinem Traktat »De Motu«, also zum Beispiel die Bewegung fallender Körper in Medien. Guidobaldo war solchen Studien gegenüber skeptisch, da sie sich seiner Meinung nach nicht mit der gleichen Strenge durchführen ließen, für die Archimedes in seinen Schriften zur Statik das Vorbild geschaffen hatte.

Dennoch führten Guidobaldo und Galilei gemeinsam ein Experiment zur Projektilbewegung durch, das schließlich zur Grundlegung einer neuen Theorie der Bewegung beitragen sollte, obwohl es, genau besehen, zunächst einmal eigentlich ohne präzises Ergebnis blieb. Sie färbten eine Kugel mit Tinte ein und warfen sie schräg über eine schiefe Ebene, so dass die Kugel eine bleibende Spur hinterließ, die, wie Guidobaldo in seinem Protokoll vermerkte, einer Parabel oder Hyperbel, vor allem aber auch der Form einer umgedrehten Kettenlinie glich (siehe Bildunterschrift 3).

Welche Schlussfolgerungen waren daraus zu ziehen? Während die genaue geometrische Form der Trajektorie sich aus diesem Experiment nicht präzise rekonstruieren ließ, war doch klar, dass es im Widerspruch zu der verbreiteten und auf der aristotelischen Dynamik beruhenden Ansicht stand, dass die Bahn eines Projektils unsymmetrisch verlaufen müsse. Nach dieser Ansicht, die in zahlreichen zeitgenössischen Traktaten zur Artillerie, angefangen mit Tartaglias berühmter »Nova Scientia«, zum Ausdruck kommt, bewegt sich ein Geschoss zunächst mit »gewaltsamer«, also gegen seine Natur gerichteter, Bewegung in mehr oder weniger gerader Linie aufwärts, bis allmählich seine Schwere die Oberhand gewinnt, so dass es sich schließlich mit »natürlicher« Bewegung auf gerader Linie nach unten seinem »natürlichen Ort«, dem Mittelpunkt der Erde nähert.

Die mehr oder weniger symmetrische Kurve, die das Experiment von Guidobaldo und Galilei hervorgebracht hatte, war mit dieser Ansicht nur schwer zu vereinbaren, bot andererseits aber auch nicht die Grundlage für eine völlige Abschaffung der aristotelischen Begrifflichkeit. Vielmehr schien der Vergleich der Projektiltrajektorie mit der umgedrehten Kettenlinie nahezulegen, dass in beiden Fällen die natürliche Tendenz schwerer Körper nach unten zu fallen und die »gewaltsame« Kraft, die sie daran hindert, dieser Tendenz unvermittelt nachzugeben, so zusammenwirken, dass eine symmetrische Kurve entsteht. Andere Überlegungen, die sich auf den Spezialfall eines horizontalen Wurfs stützten, machten plausibel, dass es sich bei der Projektiltrajektorie eher um eine Parabel als um eine Hyperbel handeln musste, wenn man einmal die durch den Vergleich mit der Kettenlinie unterstützte Annahme der Symmetrie zugrunde legte, obwohl das Experiment hierüber natürlich keinen exakten Aufschluss geben konnte. Aber alles in allem war es also denkbar geworden, die Trajektorie der Projektilbewegung und die sie konstituierenden Bewegungstendenzen mathematisch zu analysieren und aus der plausiblen Annahme ihrer Parabelform insbesondere das Fallgesetz, also den quadratischen Zusammenhang von zurückgelegten Wegen und Zeiten beim freien Fall, zu erschließen. Aus der Sicht der späteren Entwicklung war dieser Schluss ein Durchbruch, der zu einer Schlüsseleinsicht der klassischen Mechanik führte. Was aber bedeutete dieser Schluss für Galilei selbst?


Praktische Anwendung

Aus der Begegnung mit Guidobaldo del Monte im Jahre 1592 ging abermals ein neuer wissenschaftlicher Stil Galileis hervor, aber eben nicht der, den man aus heutiger Perspektive erwarten würde. Wie ein zeitgenössisches Manuskript bezeugt, wurde die Einsicht in die mathematische Gestalt der Wurfbahn nicht zum Ausgangspunkt eines wissenschaftlichen Traktats über die Bewegung, sondern zu einem - vielleicht nicht einmal zentralen - Bestandteil einer geplanten Abhandlung Galileis über die Artillerie. Der Besuch bei Guidobaldo wurde für Galilei zu einem Wendepunkt. Die Wende, die Galilei vollzog, war die vom Philosophen zum Wissenschaftler-Ingenieur, für den praktische und technische Herausforderungen im Mittelpunkt standen.

Offenbar beeindruckt vom breiten Spektrum der Aktivitäten Guidobaldos, von dessen Werkstatt, von seinem Engagement als Instrumentenbauer, militärischer Berater und Ingenieur, schuf sich Galilei in Padua neben seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor selbst ein solches praktisches Umfeld. Auch er richtete sich eine Werkstatt ein, bot Unterricht im Militärwesen an, entwickelte und verkaufte Instrumente wie seinen berühmten Proportionalzirkel, entwarf Schriften über Artillerie und Mechanik, alles ganz nach dem Vorbild Guidobaldo del Montes (siehe Bildunterschrift 4).

Diese praktische Wende der wissenschaftlichen Interessen Galileis vollzog sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum großen venezianischen Arsenal, eines der damals bedeutendsten »militärisch-industriellen Komplexe« der westlichen Welt. In seinem späteren Hauptwerk über die Mechanik, den 1638 veröffentlichten »Discorsi «, setzte Galilei den führenden Ingenieuren des Arsenals mit der Behauptung, dass Schlüsseleinsichten seiner Wissenschaft ihren praktischen Erfahrungen zu verdanken seien, ein literarisches Denkmal.


Eine Wissenschaft der Bewegung

Während seines Aufenthalts in der venezianischen Republik in den Jahren zwischen 1592 und 1610 vollzog sich allerdings eine weitere Wandlung von Galileis wissenschaftlichem Profil. Im Kontext vielfältiger naturphilosophischer und wissenschaftlicher Anregungen und Diskussionen, etwa mit dem großen venezianischen Intellektuellen Paolo Sarpi, begannen sich die zunächst mehr oder weniger isolierten Einsichten Galileis in die Eigenschaften von Bewegung in mechanischen Konstellationen wie dem Pendel, der schiefen Ebene, der Projektil- und der Fallbewegung zu einem Netzwerk von miteinander zusammenhängenden Schlüssen zu verdichten.

Allmählich entstand die Möglichkeit, aus diesem Geflecht von Schlüssen eine Theorie, ja eine neue Wissenschaft der Bewegung zu entwickeln. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildete die begriffliche Fassung der beschleunigten Bewegung mit Hilfe von in der mittelalterlichen Scholastik entwickelten Instrumenten für die Beschreibung von Veränderungsprozessen. Dazu gehörten insbesondere auch Diagramme, wie sie zuerst Nicolas Oresme im 14. Jahrhundert verwendet hatte, um die Beziehung zwischen einem Gesamtprozess und den momentanen Veränderungen, die ihn ausmachen, darzustellen (Bildunterschrift 5). Während die Anwendung dieser Begrifflichkeit auf die Bewegung im Mittelalter eher einen Einzelfall darstellte, wurde sie in den Händen von Galilei und seinen Zeitgenossen zu einem zentralen Instrument für die Analyse der beschleunigten Bewegung und zu einem Ausgangspunkt der späteren Differenzial- und Integralrechnung.

Wie Galileis zahlreiche aus dieser Zeit überlieferte Forschungsnotizen und Entwürfe belegen, versuchte er, die von ihm erkannten Gesetzmäßigkeiten der Pendel-, der Fall- und der Projektilbewegung miteinander in Zusammenhang zu bringen und nach dem Vorbild von Euklid und Archimedes deduktiv aus wenigen Prinzipien abzuleiten, die allerdings immer noch weitgehend in den begrifflichen Voraussetzungen der antiken Wissenschaft - wie etwa die Unterscheidung zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung - verwurzelt waren. Die Überraschungen und Misserfolge, die Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten, auf die Galilei bei diesen Versuchen stieß, hinderten ihn zunächst daran, seine Ergebnisse in einen überzeugenden Ableitungszusammenhang zu stellen und zu einer in sich stimmigen neuen Wissenschaft von der Bewegung abzurunden. Aber Galileis Exploration des von der vorklassischen Mechanik abgesteckten Rahmens führte zugleich dazu, eine Weiterentwicklung der begrifflichen Grundlage, die seinen Ausgangspunkt dargestellt hatte, in Gang zu setzen und diesen Rahmen letztlich zu sprengen. Es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass Galilei ab etwa 1602 intensiv an der Ausarbeitung einer solchen neuen Theorie der Bewegung arbeitete und spätestens seit 1604 den Eindruck gewonnen hatte, dass er den Schlüssel für eine wissenschaftliche Revolution in den Händen hielt. Seine übrigen Beschäftigungen, seine Lehre an der Universität, aber auch sein praktisches Engagement traten demgegenüber zunehmend in den Hintergrund, ja wurden zu einer Last, von der er sich zu befreien trachtete, um sich ganz der Ausarbeitung seiner neuen Theorie widmen zu können.

Unter den sozialen Bedingungen der Wissenschaft der frühen Neuzeit, in der sich eigenständige Institutionen für Forschung und Lehre gerade erst herauszubilden begonnen hatten, gab es eigentlich nur einen Weg, der zu einer solchen Befreiung führen konnte - die Patronage durch einen mächtigen Gönner. Zum Patronagesystem der Zeit gehörte es, das Ansehen und den Ruhm des Gönners durch unerhörte kreative Leistungen zu erhöhen, die ohne dessen Schutz und Fürsorge unmöglich gewesen wären. Dieses System hatte sich seit der Renaissance in engem Zusammenhang mit der Förderung von Kunst und Architektur entwickelt, so dass Künstler in wechselnden Rollen als Maler, Architekten, Ingenieure, technische Berater und Höflinge seine eigentlichen Protagonisten waren. In ihre Fußstapfen mussten Wissenschaftler wie Galilei treten, wollten sie ähnlich erfolgreich sein wie zum Beispiel ein Leonardo oder Michelangelo. Aber für einen Wissenschaftler-Ingenieur, einen praktischen Mathematiker, war es nicht leicht, eine solche höfische Karriere anzutreten, denn es war vor allem die symbolische Strahlkraft kreativer Leistungen, die den Zugang zu den Höfen der Zeit befördern konnte.


Das Teleskop

Im Jahre 1609 eröffnete sich für Galilei durch die Erfindung des Teleskops nicht nur ein neuer Blick auf den Himmel, sondern auch die Aussicht auf eine solche Karriere. Damit begann ein neuer Stil seine wissenschaftlichen Aktivitäten zu prägen. Ganz der Wissenschaftler-Ingenieur, pries Galilei das von ihm anhand der im Frühjahr 1609 erhaltenen Nachrichten über die ursprünglich in Holland gemachte Erfindung nachgebaute und verbesserte Fernrohr zunächst der venezianischen Republik vor allem wegen seiner praktischen und militärischen Vorzüge an. Seine astronomischen Entdeckungen - die Beobachtungen des Mondes und der Phasen der Venus, die Auflösung der Milchstraße in einzelne Sterne, aber vor allem die Entdeckung der vier großen Jupitermonde - änderten Galileis Situation jedoch grundlegend.

Durch die atemberaubend rasche Veröffentlichung dieser Entdeckungen im »Sidereus Nuncius« (das epochale Büchlein erschien bereits am 12. März 1610) wurde Galilei zu einem in ganz Europa und bald auch in China bekannten Astronomen, zum prominentesten Fürsprecher des kopernikanischen Weltbilds und zu einem Herausforderer des geozentrischen Weltbilds der Kirche. Nicht zuletzt durch die künstlerische Qualität der bildlichen Darstellungen seiner Entdeckungen im Zusammenhang mit ihrer Interpretation und ihrer Ausbeutung im Kontext des Patronagesystems der Zeit wurde Galilei zum wissenschaftlichen Pendant Michelangelos und zum Hofphilosophen der Medici in Florenz. Es ist daher auch kein Zufall, dass sein Schüler Viviani den Mythos schuf, Galileis Geburtsdatum falle auf den Tag genau mit dem Sterbedatum Michelangelos zusammen. (In Wahrheit wurde Galilei am 15. Februar 1564 in Pisa geboren, drei Tage vor dem Tod Michelangelos in Rom.)

Galilei widmete die von ihm entdeckten Jupitermonde den Medici, als wären sie ein von ihm geschaffenes Kunstwerk, und stilisierte sich selbst zu einem neuen Adam, dem Gott Einblicke in eine bisher verschlossene Dimension der Schöpfung gewährt hatte. Dies schien ihm, ebenso wie den großen Künstlern seiner Epoche, das Recht zu einer Interpretation dieser Schöpfung aus der ihm eigenen Perspektive zu geben. Für Galilei bestand dieses Recht nicht nur darin, unabhängig von der Bibel in dem in der Sprache der Mathematik geschriebenen Buch der Natur zu lesen, sondern auch darin, auf dieser Grundlage das von der Kirche sanktionierte Weltbild der aristotelischen Naturphilosophie zu hinterfragen und wo nötig, insbesondere in der Frage des geozentrischen Weltbilds, zu korrigieren. Seine großen naturphilosophischen Werke, wie der »Saggiatore« von 1623 und der Dialog über die beiden großen Weltsysteme von 1632, waren deshalb nicht nur für einen engeren akademischen Kreis bestimmt, sondern hatten auch dieses weitergehende Ziel.

Von Galilei, der seine astronomischen Entdeckungen dank seiner zeichnerischen Begabung und seiner künstlerischen Ausbildung an der Accademia del Disegno als Akte kreativen Sehens suggestiv darstellen konnte, führt ein direkter Weg über Galilei, den Höfling und Hofphilosophen der Medici, dessen Ehrgeiz nicht davor zurückschreckte, das Weltbild der katholischen Kirche reformieren zu wollen, zu Galilei, dem vermeintlichen Häretiker, und schließlich zu Galilei, dem von der Inquisition zum Abschwören vom Kopernikanismus verurteilten Märtyrer der Wissenschaft, der für das Scheitern seiner Reform mit der Beschneidung der weltanschaulichen Implikationen seiner Forschungen und mit Hausarrest bezahlen musste. Immerhin führte diese Beschränkung dazu, dass Galilei sich während seines Hausarrests in Arcetri, nahe bei Florenz, wieder der Theorie der Bewegung zuwandte und seine in Padua begonnene Arbeit an einer Weiterentwicklung der antiken Mechanik fortsetzte. 1638 schloss er diese Bemühungen mit der Veröffentlichung der »Discorsi« ab, die zwei neuen, von Galilei begründeten Wissenschaften gewidmet sind: der Theorie der Festigkeit der Materie und der Theorie der Bewegung.


Das geteilte Wissen der vorklassischen Mechanik

Das wechselvolle Schicksal Galileis macht deutlich, dass weder ein bestimmter Stil noch eine einzige Methode für seinen wissenschaftlichen Erfolg ausschlaggebend war, sondern vielmehr seine Fähigkeit, von den sich ihm jeweils bietenden Denk- und Handlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Die Wechsel seines wissenschaftlichen Profils weisen ebenso auf diese persönliche Qualität wie auf die unterschiedlichen Wege hin, die in der gesellschaftlichen und intellektuellen Landschaft der Zeit objektiv möglich waren. In diesem historischen Parcours waren offenbar aber auch andere Wege gangbar, die dennoch zu vergleichbaren Ergebnissen führen konnten.

Eine eindrucksvolle Illustration dieser Möglichkeit ist die erstaunliche Parallelität der wissenschaftlichen Leistungen des englischen Wissenschaftler-Ingenieurs Thomas Harriot, den man zu Recht als einen »englischen Galilei« ansehen kann (siehe die Bildunterschriften 6 und 7). Etwa zur gleichen Zeit wie Galilei und unabhängig von diesem hatte Harriot ein Fernrohr auf den Himmel gerichtet sowie Experimente und Berechnungen zur Fall- und Wurfbewegung angestellt. Er fand das Fallgesetz, rang ebenso wie Galilei um dessen Ableitung mit Hilfe aus dem Mittelalter überlieferter Methoden aus den Eigenschaften der beschleunigten Bewegung und zeichnete eine der ersten detaillierten Mondkarten.

Im Gegensatz zu Galilei hat Harriot allerdings keine großartigen Veröffentlichungen seiner Entdeckungen hinterlassen, sondern nur tausende von Manuskripten mit Forschungsnotizen und Entwürfen. Seine Laufbahn im Kontext des anglikanischen und monarchisch regierten Englands verlief völlig anders als die Galileis im katholischen Italien mit seinen vielen größeren und kleineren Staaten. Obwohl nicht dem Zugriff der Inquisition unterworfen, waren die Publikationsmöglichkeiten Harriots in England beschränkter als die Galileis in Italien. Wer aber die offensichtlichen Unterschiede zwischen Harriot und Galilei vor allem dazu nutzt, den einen Grund für den überlegenen Erfolg Galileis in einer bestimmten persönlichen Qualifikation zu identifizieren, begibt sich der sehr viel aussichtsreicheren Möglichkeiten, durch einen Vergleich der beiden auf das geteilte Wissen zu schließen, das ihre beide Wege erst ermöglicht hat.

Wie sich am Beispiel der Mechanik zeigen lässt, gehörte zu diesem gemeinsamen Wissensreservoir intuitives, praktisches und theoretisches Wissen, das in der Alltagserfahrung, in Handwerkstraditionen, und in der technischen Literatur seit der Antike überliefert wurde. Übersetzer und Herausgeber wie Federico Commandino, welche die Tradition des Humanismus mit den Interessen von Wissenschaftler-Ingenieuren verbanden, hatten die Schriften antiker Autoren wie Euklid und Archimedes zur Mathematik und zur Mechanik wieder zugänglich gemacht. Einen der gemeinsamen Ausgangspunkte des theoretischen Wissens bildeten die Aristoteles zugeschriebenen »Mechanischen Fragen«, in denen der kraftsparende Effekt verschiedener mechanischer Werkzeuge auf den Hebel zurückgeführt wird. Ein weiterer Ausgangspunkt für Versuche, mechanische Technologie mit Hilfe einfacher Prinzipien zu erklären, war die Zurückführung komplexer Maschinen auf eine Reihe einfacher Maschinen, ein Verfahren, das zuerst von Heron von Alexandria (wahrscheinlich im ersten Jahrhundert n. Chr.) angewandt wurde und das der Frühen Neuzeit durch einen Kommentar von Pappus zu Heron überliefert worden war. Die Idee der Zurückführung komplexer auf einfache Maschinen stand im Zentrum des von Galileos Mentor Guidobaldo del Monte Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlichten Standardwerks zur Mechanik.

Das geteilte Wissen über Mechanik, das der Frühen Neuzeit als Erbe von Antike und Mittelalter zur Verfügung stand, war keineswegs einheitlich in seinen begrifflichen Strukturen. Es gab daher auch zu divergierenden Standpunkten und Kontroversen Anlass, in denen das Entwicklungspotenzial dieses Wissens weiter ausgelotet und entfaltet wurde. Während für Guidobaldo zum Beispiel der archimedische Begriff des Schwerpunkts im Zentrum seiner theoretischen Analyse stand, war es für seine Zeitgenossen Niccolò Tartaglia und Giovanni Battista Benedetti der auf den mittelalterlichen Mathematiker Jordanus Nemorarius zurückgehende Begriff des positionellen Gewichts. Dieser Begriff erlaubte es, die unterschiedliche Wirkung eines Gewichts in Abhängigkeit von seiner Lage, etwa am Winkelhebel oder auf der schiefen Ebene, zu erfassen - Themen, mit denen sich Guidobaldo eher schwer tat (Bildunterschrift 8).

Vor einem so heterogenen begrifflichen Hintergrund kamen diese Autoren in wesentlichen Fragen der Mechanik zum Teil zu unterschiedlichen Resultaten. Handschriftliche Anmerkungen Guidobaldos in einem erst vor kurzem aufgefundenen persönlichen Exemplar von Benedettis Buch zur Mechanik zeigen, wie schwierig offenbar das gegenseitige Verständnis in einem Gebiet war, das damals an der Grenze des wissenschaftlichen Fortschritts lag. Erst durch die Ausarbeitung der Konsequenzen der in den verschiedenen Begriffssystemen gezogenen Schlüsse und den intensiven Austausch in einem europaweiten Netzwerk von Gelehrten entstanden aus den Wissensressourcen der vorklassischen Physik schließlich die Grundbegriffe der klassischen Mechanik. Galileis Mechanik und insbesondere seine Studien zur Bewegung an der schiefen Ebene wären ohne die Voraussetzung dieses geteilten Wissens ebenso undenkbar wie seine astronomischen Leistungen, die ja ebenfalls auf praktischen und theoretischen Traditionen beruhen, die bis in die Antike zurückreichen.


Herausfordernde Gegenstände

Den eigentlichen Katalysator für die Transformation des Wissens der vorklassischen Physik bildeten die herausfordernden Gegenstände der zeitgenössischen technischen Praxis. Die Wissenschaftler-Ingenieure, die sich - oft im Zusammenhang architektonischer, technischer oder militärischer Großprojekte wie dem Dombau, der Artillerie oder dem Festungsbau - mit diesen Gegenständen auseinandersetzten, waren daher, jedenfalls im Bereich der Mechanik, das Rückgrat der wissenschaftlichen Revolution der frühen Neuzeit. Sie schufen nicht nur die Erfahrungsgrundlage der neuen Wissenschaft, sondern aktivierten auch die zum Teil sehr verschiedenartigen Wissensressourcen, aus denen sich diese Revolution speiste, mit dem Ziel, die herausfordernden Gegenstände ihrer Praxis intellektuell zu meistern.

So wurden Wissenstraditionen zusammengeführt, die bis dahin weitgehend isoliert voneinander überliefert wurden, wie etwa das praktische Wissen über den Schiffbau und das theoretische Wissen über die einfachen Maschinen. Meistens überschritt der intellektuelle Anspruch, der sich mit Fragen wie der Stabilität einer Domkuppel, der optimalen Auslegung eines Ruders oder der Form einer hängenden Kette verband, die intellektuellen Möglichkeiten der Zeit. Aber die Herausforderung an die verfügbaren Wissensressourcen, die diese Gegenstände darstellten, wurde für die Wissenschaftler-Ingenieure zum Motor für Exploration des in diesen Wissensressourcen liegenden intellektuellen Potenzials und führte schließlich zu Grundeinsichten der späteren klassischen Physik, auch wenn diese nicht immer den ursprünglichen Erwartungen entsprachen, die ja noch in den begrifflichen Vorstellungen der Vorklassik verhaftet waren.

Die Dankbarkeit, die Galilei für die technischen Experten des venezianischen Arsenals empfand und in seinen »Discorsi« zum Ausdruck brachte, hatte ihren realen Grund offenbar in seiner Auseinandersetzung mit einem solchen herausfordernden Gegenstand. Schon früh war er durch einen hohen Funktionär des Arsenals mit den Problemen der Stabilität in Berührung gekommen, die der Bau immer größerer Schiffe, motiviert durch eine immer aufwändigere Bewaffnung, aufwarf. Ähnliche Probleme waren auch aus der Architektur und dem Maschinenbau bekannt. Ausgehend von den »Mechanischen Fragen« des Aristoteles begann Galilei daher mit Versuchen, das Problem der Bruchfestigkeit eines Körpers mit Hilfe des Hebelgesetzes zu verstehen. Damit wurde ein herausfordernder Gegenstand der zeitgenössischen Ingenieurpraxis zum Ausgangspunkt einer der beiden neuen Wissenschaften, die Galilei in seinen »Discorsi« vorstellte - der Lehre von der Festigkeit der Materie.

Auch Galileis zweite neue Wissenschaft, die Lehre von der Bewegung, hat ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit einem herausfordernden Gegenstand der zeitgenössischen Praxis, der Ballistik (Bildunterschriften 3 und 9). Galilei selbst hatte ja die Einsichten in die Gestalt der Bahnkurve aus dem gemeinsam mit Guidobaldo durchgeführten Experiment zunächst in einen solchen praktischen Kontext gestellt. Darüber hinaus bot der Erfahrungsschatz der zeitgenössischen Artilleristen Anhaltspunkte für die Entwicklung einer Theorie der Projektilbewegung, ausgehend etwa von der Abhängigkeit der Schussweite von der Anfangsgeschwindigkeit und vom Winkel des Schusses, und der Existenz eines Winkels, für den die Schussweite maximal wird.

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass auf dieser empirischen Grundlage zusammen mit dynamischen Überlegungen zum Verhalten der »gewaltsamen« und »natürlichen« Komponenten der Bewegung nicht nur Galilei, sondern auch andere Wissenschaftler-Ingenieure wie Thomas Harriot mit Erfolg an einer solchen Theorie arbeiten konnten. Galilei ließ sich dabei bis zum Schluss, also bis zur Veröffentlichung seiner Theorie in den »Discorsi«, von der vermeintlichen Einsicht leiten, dass die Trajektorie der Projektilbewegung und die Kettenlinie dieselbe Form besitzen und eine Parabel darstellen. Aus diesem - aus heutiger Sicht nicht haltbaren - Grund bestand auch für ihn, im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen, kein Zweifel an der symmetrischen Gestalt der Projektiltrajektorie. Heute weiß man dagegen, dass die Kettenlinie keine Parabel ist und - typisch für einen herausfordernden Gegenstand - von einer Funktion dargestellt wird, für deren Beschreibung die Mathematik der Galileizeit noch nicht gerüstet war. In Galileis Manuskripten haben sich dagegen ingeniöse Versuche erhalten, die Parabelgestalt der Kettenlinie zu beweisen, zum Beispiel durch ihre Annäherung als Faden mit einzelnen Gewichten, deren Gleichgewichtslage Galilei mit den Methoden Guidobaldos zu bestimmen suchte (siehe Bildunteschrift 10).


Die Bewegung der Planeten

Auch die Astronomie und insbesondere die Planetenbewegung boten der Wissenschaft herausfordernde Gegenstände, deren praktische Bedeutung mit den Bedürfnissen der Kalenderreform und der Navigation zusammenhingen. Ihre Rolle als herausfordernde Gegenstände der Wissenschaft erhielten sie dagegen zum einen durch die Versuche, die Himmelsbewegungen mechanisch zu erklären, und zum anderen durch den weltanschaulichen Kontext, in den solche Versuche durch das dominierende Weltbild der Kirche unvermeidlich hineingerieten.

Zum Beispiel hat Galilei bereits früh versucht, seine Überlegungen zur Fall- und Wurfbewegung für eine mechanische Erklärung der Entstehung des Planetensystems fruchtbar zu machen. Er stellte sich vor, dass der Schöpfer die Planeten von einem bestimmten Punkt aus in Richtung der Sonne fallen lässt, um sie dann in eine Kreisbahn umzulenken, auf der sie schließlich mit der durch den vorangehenden Fall erreichten Geschwindigkeit um die Sonne kreisen. Und er hoffte, dass er so die aus Keplers Angaben entnommene Beziehung zwischen Bahngeschwindigkeit und Abstand von der Sonne mechanisch erklären könnte. Obwohl Galileis Berechnungen dieses Modell nicht so bestätigen konnten, wie er es erwartet hatte, veröffentlichte er die Idee dennoch als eine plausible Ausweitung seiner Theorie der Bewegung auf die Himmelsmechanik. In ähnlicher Weise versuchte Galilei seiner Analyse der Pendelbewegung eine kosmologische Bedeutung abzugewinnen und sie als Stütze der kopernikanischen Auffassung heranzuziehen, indem er den Wechsel von Ebbe und Flut als Pendelschwingung und als Folge der beschleunigten Bewegung der Erde um sich selbst und auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne zu interpretieren versuchte.


Die Transformation des Wissens

Galileis Irrtümer, seine Annahme, dass die Kettenlinie Parabelgestalt besitzt, seine Erklärung der Kosmogonie durch das Fallgesetz, seine Überzeugung, dass sich Ebbe und Flut aus der kopernikanischen Bewegung der Erde erklären lassen, wie auch die uns oft skurril anmutenden Vorstellungen seiner Zeitgenossen zeigen, wie sehr sich das Wissenssystem der vorklassischen von demjenigen der klassischen Physik unterscheidet. Wie aber fand der Übergang zwischen beiden statt, wie vollzog sich diese wissenschaftliche Revolution? Der langfristige Charakter der Wissensentwicklung, der für die Tradierung über lange Zeiträume wie dem von der Antike bis zur Neuzeit entscheidend ist, und ihre Abhängigkeit von externen Umständen, wie der Entfaltung der Stadtkultur mit ihren Freiräumen und ihren Ansprüchen an technische Intelligenz, zeigen, dass es für die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen wahrscheinlich keine allgemein gültige Formel gibt.

Dennoch lassen sich, ähnlich wie es für die Evolution der Lebensformen möglich ist, auch für die Entwicklung des Wissens bestimmte Mechanismen identifizieren, die einen solchen Transformationsprozess verständlicher machen. Dazu gehört der überraschende Umstand, dass die großen begrifflichen Durchbrüche, wie zum Beispiel die Erkenntnis des für die klassische Physik so zentralen Trägheitsprinzips, meist nicht am Anfang, sondern am Ende eines solchen Prozesses stehen - und zwar als Ergebnis der Umstrukturierung eines hochentwickelten Wissenssystems, und nicht seiner Aufgabe zugunsten eines völlig neuen »Paradigmas«, wie Thomas Kuhn es formulieren würde.

Die Weiterentwicklung des Wissenssystems der vorklassischen Physik wurde vor allem durch die Herausforderungen vorangetrieben, mit denen sich Wissenschaftler-Ingenieure wie Galilei konfrontiert sahen. Dieser Ausbau führte - wenn auch oft nur auf schwankender Grundlage - zu Ergebnissen (wie zum Beispiel der Einsicht in die Parabelgestalt der Projektilbewegung), die ihrerseits schließlich zur Formulierung neuer Begriffe führten, die dann den Weg zu einer überzeugenderen Begründung der erreichten Einsichten weisen konnten.

Es ist daher auch kein Zufall, dass das Trägheitsgesetz noch nicht explizit in Galileis Begründung seiner Bewegungstheorie eingeht, sondern bestenfalls am Rande seiner Überlegungen aufscheint, aber von seinen Schülern und Nachfolgern wie selbstverständlich als deren zentrale Grundlage behandelt wird (Bildunterschrift 11).

Die Transformation des Wissens, die Galileis Revolution ausmacht, war also durch eine Verlagerung des begrifflichen Zentrums in einer Art »Kopernikusprozess « gekennzeichnet. Wie bei Kopernikus die Sonne statt der Erde zum Zentrum der Planetenbewegung wurde, ohne dass dabei die technischen Einsichten der geozentrischen Astronomie verloren gingen, erhielten ursprünglich marginale Einsichten des Wissenssystems der vorklassischen Physik eine zentrale Rolle für die Grundlegung der klassischen Physik, die trotz ihrer unterschiedlichen Begrifflichkeit letztlich auf den Einsichten von Galilei und seinen Zeitgenossen gegründet war.


Der Autor Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung zählen die wissenschaftlichen Revolutionen, die mit den Namen Galileo Galilei und Albert Einstein verbunden sind.


Literaturhinweise:

Bredekamp, H.: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Akademie Verlag, Berlin 2007.

de Padova, Th., und Staude, J.: Galilei, der Künstler. In: Sterne und Weltraum 12/2007, S. 36 - 41.

Renn, J. (Hrsg.): Galileo in Context. Cambridge University Press, 2001.

Schemmel, M.: The English Galileo: Thomas Harriot's Work on Motion as an Example of Preclassical Mechanics, Springer, 2008.

Weblinks: www.astronomie-heute.de/ artikel/968998


ZUSATZINFORMATION:

Der Umbruch von 1609

Das kommende Jahr 2009 wurde als Jahr der Astronomie ausgerufen: Vor vierhundert Jahren führte Galilei die ersten teleskopischen Himmelsbeobachtungen durch, und mit der Veröffentlichung von Johannes Keplers »Astronomia Nova« begann die eigentliche Himmelsmechanik. Mit diesem Beitrag eröffnen wir eine Artikelserie, die in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin entsteht und diese Epoche des Umbruchs am Beispiel Galileis und seines astronomischen Werkes beleuchtet.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

1. Galileo Galilei (1564 - 1642) im Alter von rund 70 Jahren. Das von Justus Sustermans im Jahr 1636 gemalte Porträt befindet sich in den Uffizien in Florenz.

2. Technische Großprojekte in ganz Europa förderten die Entwicklung der Ingenieurwissenschaften und waren ein Motor der Wissenstransformation. Hier als Beispiel die Aufrichtung des Vatikanischen Obelisken durch den Architekten Domenico Fontana auf dem heutigen Petersplatz in Rom im Jahre 1590.

3. In seinem Notizbuch »Meditatiunculae« notierte Guidobaldo del Monte 1592 die Ergebnisse eines Experiments zur Wurfbewegung, das er wahrscheinlich gemeinsam mit Galilei bei dessen Besuch in jenem Jahr durchgeführt hat.

4. Diese Schussparabeln zeichnete Galilei mit Hilfe durchgepauster Kettenlinien.

5. Galileis Analyse der beschleunigten Bewegung

6. Erstaunliche Parallelität der wissenschaftlichen Leistungen: Mondzeichnung von Galilei (links) und Mondkarte von Harriot (rechts), beide etwa 1610...

7. ...und Studien zur Flugbewegung geworfener Körper in Manuskripten von Galilei (links) und Harriot (rechts). Guidobaldo Del Monte, »Meditatiunculae«, 1592, mit Anmerkungen zu Benedettis Analyse des Winkelhebels

8. Guidobaldo Del Monte, »Meditatiunculae«, 1592, mit Anmerkungen zu Benedettis Analyse des Winkelhebels

9. Galileis Notizen zu einem Experiment, bei dem eine Kugel mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten horizontal abgeschossen wird und dann frei fällt. Galilei vergleicht die gemessenen mit seinen berechneten Schussweiten.

10. Konstruktion der tiefsten Lage des Schwerpunkts eines an seinen Enden aufgehängten Fadens mit drei Gewichten in gleichen Abständen

11. Diese handschriftlichen Marginalien eines Schülers in seinem Handexemplar der »Discorsi « (Galileis Hauptwerk zur Mechanik) enthalten erste Hinweise auf das Trägheitsgesetz.


© 2008 Jürgen Renn, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
Sterne und Weltraum 11/08 - November 2008, Seite 32 - 42
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528-0, Fax: 06221/528-246
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Tel.: 06221/912 66 00, Fax: 06221/912 67 51
Internet: www.astronomie-heute.de

Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2009