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BERICHT/050: Biologie - mit System neu definiert (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - I.2012
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Biologie - mit System neu definiert

von Hans-Jörg Rheinberger



Die Begriffe Systembiologie und synthetische Biologie haben derzeit Hochkonjunktur - wie in der Geschichte der Biologie schon mehrfach. Aber was bedeuten sie in wissenschaftlicher Hinsicht? Sind sie Ausdruck einer tief greifenden Veränderung dieser Wissenschaftsdisziplin oder nur verkaufsfördernde Schlagworte, die alten Wein in neue Schläuche verpacken und öffentlichkeitswirksam präsentieren? Eine Analyse.


Wir erleben gegenwärtig eine geradezu inflationäre Verwendung der Begriffe Systembiologie und synthetische Biologie in den Lebenswissenschaften. Nicht nur Forschungsprogramme, Zeitschriften, Datenbanken, Institute und Unternehmen sind dabei, sich ihrer zu bemächtigen. Auch immer mehr Wissenschaftler benützen sie zur Beschreibung ihrer Arbeit. Das Phänomen ist nicht neu, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.


Genetik stellte die Grundfragen des Lebens

Die Genetik etablierte sich im frühen 20. Jahrhundert als eine Spezialdisziplin innerhalb der Biologie. Sie war aber gleichzeitig mehr als das. Sie entwickelte den Anspruch, so etwas wie eine experimentell fundierte allgemeine Biologie darzustellen. Und sie war damit auch erfolgreich. Die Genetik stellte die Grundfragen des Lebens, soweit das mit experimentellen Mitteln möglich war. Darüber hinaus führte sie die Arbeit mit Modellorganismen in die Biologie ein und begründete eine Art des Experimentierens, welche die Biologie gewissermaßen auszeichnete - das Kreuzungsexperiment, wie es schon Gregor Mendel Mitte des 19. Jahrhunderts ausführte.

Diese experimentelle Revolution wurde von einem konzeptionellen Umbruch begleitet. Wilhelm Johannsen führte 1909 den Begriff Gen ein und unterschied zwischen Gen und Merkmal, zwischen Genotyp und Phänotyp. Diese Unterscheidung erwies sich als äußerst folgenreich: Sie etablierte für Lebewesen eine Hierarchie von Innen und Außen, von Zentrum und Peripherie, von Wesen und Erscheinung. Die damit einhergehende Tendenz zu einem Gen-zentrierten Denken sollte den Lebenswissenschaften des gesamten 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufdrücken.

Das Verhältnis von Gen und Merkmal machte es möglich, grundlegende Fragen zu den Erscheinungen des Lebens zu untersuchen. Mit den damals zur Verfügung stehenden experimentellen Verfahren der klassischen Genetik ließ sich allerdings nicht klären, woraus Gene bestehen, und vor allem nicht, wie sie die Ausprägung von Merkmalen beeinflussen.

Beides wurde erfolgreich von der um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstehenden molekularen Genetik in Angriff genommen. Wir haben es hier eher mit einem Bruch als mit einem nahtlosen Übergang von der klassischen zur molekularen Genetik zu tun. In dieser molekularbiologischen Revolution identifizierten die Biophysiker, Biochemiker und Biologen einer neuen Generation die Nukleinsäuren als das genetische Material und begriffen die Genexpression als Übersetzung von genetischer Information in biologische Funktion.

Die folgende Entwicklung der molekularen Genetik zur molekularen Genomik hatte zwei weitere Konsequenzen: Zum einen pulverisierte sie den allzu simplen "Gen für"-Begriff der klassischen und der frühen molekularen Genetik. Zum anderen führte sie zur Gentechnologie und Genomanalyse. Gentechnologie und Genomanalyse wiederum begründeten eine neue Form von molekularer Zellbiologie mit einer ungeahnten Fülle von Anwendungen. Diese wurde seit den 1970er-Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrtausends entwickelt und verfeinert, ohne dass es die Wissenschaftsgemeinschaft für nötig erachtet hätte, dafür neue Bezeichnungen einzuführen.

Das änderte sich um die Jahrtausendwende, zur Zeit des erfolgreichen Abschlusses des Humangenomprojekts und des Scheiterns einer ersten Welle von Gentherapieversuchen in der Medizin. Seitdem kursiert eine Fülle von neuen Bezeichnungen für den nächsten Schritt - viele von ihnen angelehnt an den Begriff der Genomik: Man hört von Transkriptomik, Proteomik, Metabolomik, selbst von Organomik.

Aber zwei Begriffe ragen aus allen heraus: Systembiologie und synthetische Biologie. Beide haben es innerhalb kürzester Zeit zu großer Popularität gebracht und füllen nicht nur die Gazetten, sondern auch die wissenschaftlichen Journale, einschließlich einer Fachzeitschrift, die beide zusammen im Titel führt: Systems and Synthetic Biology.


Die vermeintlich modernen Begriffe hatten schon früher Konjunktur

Beide Bezeichnungen haben gemeinsam, dass erstens unklar ist, wie denn die neuen, der Phase der klassischen Genetik und der Molekulargenetik vergleichbaren Begriffe lauten, die man als Künder einer neuen Ära ansehen könnte. Und zweitens sind es Bezeichnungen, die zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte der Biologie bereits Konjunktur hatten.

"System" hat zu unterschiedlichen Zeiten in der Geschichte der Lebenswissenschaften Unterschiedliches bedeutet. Die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts war geprägt und getrieben von einem Systembegriff als Ordnungskategorie der Mannigfaltigkeit der Lebensformen. Linnés Systema naturae steht stellvertretend dafür.

Das änderte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert. Seit der Begriff Biologie geprägt wurde und damit eine eigenständige experimentelle biologische Wissenschaft auf den Plan trat, hat sich an der Trennlinie zwischen Physik, Chemie und Biologie immer wieder die Debatte entfacht, wie weit man die Zergliederung der Lebewesen treiben könne, ohne das Leben selbst aus dem Blick zu verlieren. Man kann vielleicht sogar die Behauptung wagen, dass der damit verbundene neue Systemgedanke - in der Form eines Ganzen, das mehr ist als seine Teile - die Biologie als Wissenschaft überhaupt erst aus der Taufe hob. Immanuel Kant sprach von Lebewesen als "organisierten und sich selbst organisierenden Wesen".

An der Entwicklungsbiologie des späten 19. Jahrhunderts entzündete sich dann erneut eine Debatte zwischen Entwicklungsmechanikern auf der einen Seite und mehr systemisch denkenden Biologen auf der anderen. Die theoretischen Bemühungen der Systembiologie des frühen 20. Jahrhunderts drehten sich um Begriffe wie Fließgleichgewicht und Feld. Ihre Verfechter blieben aber zumeist Außenseiter und als Theoretiker der experimentellen Biologie gegenüber randständig.

In den 1950er- und 1960er-Jahren war es dann die biologische Kybernetik, die das Systemdenken in der Biologie von der molekularen Ebene bis zum Verhalten in den Mittelpunkt stellte. In ihrem Sog schlug der Molekularbiologe und Nobelpreisträger François Jacob den allgemeinen Begriff des Integrons für die Hierarchie von Regelkreisen vor, denen Organismen unterworfen sind. Interessanterweise verschwand parallel zum Einsetzen der Gentechnologie in den 1970er-Jahren und zum Sequenzierungsboom der 1980er- und 1990er-Jahre der Begriff der Kybernetik langsam, aber sicher aus der biologischen Literatur. Begriffe wie das Integron wurden praktisch gar nicht aufgegriffen.


Geht es um den Organismus - oder um die Organisation wissenschaftlicher Arbeit?

Was zeichnet nun den immer lauter werdenden Ruf nach einer Systembiologie aus? Sydney Brenner, der 2002 den Nobelpreis für seine Arbeiten zur genetischen Regulation der Organentwicklung beim Fadenwurm Caenorhabditis elegans bekam, sieht darin weiter nichts als ein Modewort, hinter dem sich keine Substanz verbirgt. "Systembiologie ist keine Wissenschaft", erklärte er kategorisch in einem vor Kurzem gegebenen Interview. Er vertritt darin zugleich die Meinung, dass die wichtigen neuen Erkenntnisse in den Lebenswissenschaften weiterhin im bewährten analytischen Modus der Molekularbiologie gewonnen werden.

Das sieht eine neue Generation von Lebenswissenschaftlern offensichtlich anders. Es muss aber dringend geklärt werden, was den Systemcharakter der gegenwärtigen Systembiologie ausmacht. Ist die Fokussierung auf die genetische Ebene der Organismen an ihr Ende gelangt? Gibt es neue Begriffe, die das Repertoire der Molekularbiologie - genetisches Programm, Strukturgene, Regulatorgene - erweitern oder es vielleicht gar ersetzen? Begriffe wie der des Netzwerks, der heute in den Wissenschaften insgesamt weite Verbreitung gefunden hat, sind wohl viel zu unspezifisch, um eine solche Rolle zu übernehmen.

Oder rechtfertigen neue Labor- und Computertechniken den Begriff Systembiologie? So liefern Hochdurchsatz-Technologien wie DNA- und Proteinchips sowie die neue Generation von Sequenzierverfahren heute massenhaft Daten über die Abläufe in Zellen. In diesem Zusammenhang wäre "System" jedoch eher ein Ausdruck für die ungeheuren Datenmengen, die in den Laboratorien mithilfe von Chips und Robotern erzeugt werden und sich ohne Computerprogramme nicht mehr auswerten lassen.

Wir hätten es folglich in erster Linie mit den Eigenschaften eines technischen Systems zu tun - nämlich der Organisation der Arbeit der Biologen und damit einer Parallelwelt von Datenproduktion und Datenverarbeitung - und weniger mit den Eigenschaften des Organismus, dem diese Arbeit letztlich gilt. Wenn das so wäre, stellte sich natürlich die Frage, wie sich beide Welten zueinander verhalten. Leider versuchen die Beteiligten kaum, sich über solche Fragen Klarheit zu verschaffen.

Kommen wir zur synthetischen Biologie. Nachdem sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Ansicht Louis Pasteurs durchgesetzt hatte, dass Lebewesen nur aus bereits existierenden Keimen und nicht spontan auf der heutigen Erde entstehen, beschäftigte sich die Biologie das gesamte 20. Jahrhundert hindurch mit der Frage, wie organisches Leben auf der Erde überhaupt entstehen konnte. Entsprechende Synthesen gelangen allerdings bis heute nur bruchstückhaft. Der gegenwärtige Begriff einer synthetischen Biologie bezieht sich denn auch nur am Rande auf diese Ansätze.

Von synthetischer Biologie haben Wissenschaftler im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder gesprochen, zunächst in Anlehnung an die synthetische Chemie. Diese verfolgte das Ziel, im Labor nicht nur organische Stoffe aus existierenden Elementen nachzubilden, sondern auch Stoffe zu erzeugen, die in der Natur in dieser Form gar nicht vorkommen.

Auch im Zusammenhang mit den ersten Erfolgen der Gentechnologie in den 1970er-Jahren wurde der Begriff gelegentlich verwendet. Damals setzte sich aber nicht der Begriff der synthetischen Biologie flächendeckend durch, sondern die Begriffe der Gentechnologie und des genetic engineering. Diese beiden Bezeichnungen beherrschten die öffentliche Debatte dann für drei Jahrzehnte.

Einen Boom verzeichnen der Begriff der synthetischen Biologie und derjenige der Systembiologie erst seit dem Beginn des neuen Jahrtausends. Auch hier muss man die Frage stellen, ob wir es mit einem bloßen, gar nicht wissenschaftlich motivierten Etikettenwechsel zu tun haben, also einem Versuch, die öffentliche Wahrnehmung in neue Bahnen zu lenken. Oder hat sich etwa in den Begriffen oder den Techniken der Manipulation des Lebens gegenüber dem 20. Jahrhundert ein qualitativer Sprung vollzogen, der die neue Bezeichnung rechtfertigt?

Die Verwendung des Ausdrucks ist diffus. Heute fallen etwa die Experimente des US-Forschers Craig Venter unter den Begriff der synthetischen Biologie. Venter möchte ganze Bakteriengenome künstlich nachbauen und mit ihnen ein natürliches Genom ersetzen. Gemeint sind außerdem die Versuche, ein bakterielles Minimalgenom festzulegen, mit dem sich ein Bakterium gerade noch fortpflanzen kann.

Unter die synthetische Biologie fällt aber auch der dauerhafte Einbau biologisch-chemischer Teilsysteme in Lebewesen, die diese mit neuen Eigenschaften ausstatten. Darüber hinaus werden gelegentlich die Verwendung modifizierter Nukleinsäuren als Erbmaterial oder die Versuche zur Veränderung des genetischen Codes zur synthetischen Biologie gerechnet.

Handelt es sich in allen diesen Fällen aber nicht um die Verwendung oder Weiterentwicklung von Techniken, die noch bis vor zehn Jahren als Gentechnologie oder allgemeiner als Biotechnologie bezeichnet wurden? Was ist der Grund für die neue Selbstbeschreibung?


Die neue Sprachregelung begegnet allgemeiner Skepsis

Zwei Szenarien sind denkbar. Das eine, polemisch zugespitzt formuliert: Der sanfte Begriff der Synthese dient heute dazu, einer positiveren Haltung zur gezielten und dauerhaften Modifizierung von Lebewesen Vorschub zu leisten und auf diese Weise der verbreiteten Skepsis gegenüber der Gentechnologie mit einer neuen Sprachregelung zu begegnen und neue Fördergelder anzuziehen.

Das andere Szenario: Die Lebenswissenschaften befinden sich tatsächlich in einem Umbruch, der in seinen Ausmaßen die Molekularbiologie und die rekombinanten DNA-Technologien des vergangenen Jahrhunderts in den Schatten stellt und ein neues Zeitalter einer durch Menschen gelenkten biologischen Evolution am Horizont erscheinen lässt.

In diesem Fall wäre Darwin schließlich von seiner eigenen Analogie eingeholt worden. Bekanntlich hatte er seine Theorie der natürlichen Evolution am Modell der künstlichen Evolution ausgerichtet, wie er sie von den Züchtern seiner Zeit kannte. Wir stünden heute vor der Situation, dass die Züchter ("Designer") unserer Zeit nun Ernst mit dieser Übernahme machen. Das aber bedürfte einer ganz anderen Debatte.


DER AUTOR

Hans-Jörg Rheinberger, Jahrgang 1946, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Er befasst sich vor allem mit den Veränderungen, denen Fragestellungen und experimentelle Herangehensweisen in der Biologie im Laufe der Zeit unterworfen sind. Der gebürtige Liechtensteiner hat Biologie und Philosophie in Tübingen und Berlin studiert und ist unter anderem Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina.


Bildunterschrift einer nicht im Schattenblick veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Netzkarte einer Zelle: Jedes biologische System besteht aus einem verschachtelten Geflecht kleinerer Reaktionswege. Ohne solche komplexen Verbindungen würde das Leben nicht funktionieren.

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, I.2012, S. 12-16
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2012