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FORSCHUNG/884: Das Gedächtnis hinterlässt Spuren (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 1.2013
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Das Gedächtnis hinterlässt Spuren

von Harald Rösch



Am Anfang gab es nur einen kleinen Trampelpfad zwischen dem Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried und dem Stadtrand von München. Inzwischen ist an der Münchner Peripherie ein riesiger Biocampus entstanden, und aus dem Pfad wurde ein breiter Weg. Tobias Bonhoeffer zufolge funktionieren Lernen und Gedächtnis ganz ähnlich: Intensiv benutzte Wege werden ausgebaut, unwichtige Strecken oder Sackgassen stillgelegt.


In Friedrichshafen herrschte am 1. April 1984 brasilianische Stimmung. "Rio am Bodensee!", titelte die BILD-Zeitung zwei Tage später. Der Anlass für die Euphorie: Die Volleyballmannschaft der Stadt hatte den Spitzenreiter aus Sindelfingen bezwungen und sich damit den Aufstieg in die erste Bundesliga gesichert. Fast vier Stunden hatten sich die beiden Mannschaften einen offenen Schlagabtausch geliefert, ehe das Heimteam den fünften Satz und damit das bis heute längste Volleyballspiel in der Geschichte der Bundesliga für sich entschied. Groß war hingegen die Enttäuschung der Verlierer. Darunter auch der damals 24-jährige Tobias Bonhoeffer, Stammspieler beim VfL Sindelfingen und der Juniorennationalmannschaft und heute Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried.

Zehn Jahre später kam die Gelegenheit zur Revanche. In einem Freundschaftsspiel trafen die Gegner von damals erneut aufeinander. "Nach dem Spiel hatte ich den schlimmsten Muskelkater meines Lebens - vermutlich weil ich genauso spielen und die gleichen Bewegungen machen wollte wie zu meiner aktiven Zeit, aber nicht mehr die Muskulatur dafür hatte", sagt Bonhoeffer rückblickend. Die Fähigkeiten von früher waren also immer noch im Kopf, nur der übrige Körper konnte nicht mehr so wie damals. Diese Erfahrung ist Sinnbild für das, was Bonhoeffer seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere antreibt: Wie speichert das Gehirn, was es einmal gelernt hat?


Synapsen als Datenspeicher

Anders als künstliche Speichermedien wie Festplatten und DVDs arbeitet das Gehirn nicht mit Magnetismus oder Lasern, um Informationen festzuhalten. Stattdessen besteht es aus unzähligen Nervenzellen, die elektrische Impulse von einer Zelle zur nächsten weiterleiten. Verbunden sind sie über sogenannte Synapsen. Hier trifft das Senderorgan einer Nervenzelle, das Axon, auf die bäumchenartig verzweigten Empfangsantennen einer anderen Zelle - die Dendriten. An der Synapse selbst wird das elektrische Signal mit einem chemischen Botenstoff von einer auf die nächste Zelle übertragen.

Heute weiß man: Die Synapsen übertragen nicht nur Impulse, sie sind auch die Informationsspeicher des Gehirns. Denn sie können die elektrischen Signale mit unterschiedlicher Intensität von einer Zelle zur nächsten leiten, sie also verstärken oder abschwächen. Das Gehirn baut so häufig gebrauchte Verbindungen zwischen Zellen aus und reduziert die wenig benutzten. Diese sogenannte synaptische Plastizität - in Fachkreisen auch bekannt als synaptische Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD) - ist die Grundlage dafür, dass das Gehirn anpassungs- und lernfähig ist.

Lernen und Gedächtnis sind folglich an den Synapsen elektrisch messbar. Aber nicht nur das, sie hinterlassen anatomische Spuren im Gehirn. Und Bonhoeffer hat diese Spuren Ende der 1990er-Jahre, zusammen mit seinem Mitarbeiter Florian Engert, als einer der Ersten mit eigenen Augen gesehen: neue Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen.

Möglich wurde dies durch eine neuartige Mikroskopiertechnik, die ZweiPhotonen-Mikroskopie. Dabei rastert ein Laserstrahl ein Objekt Schicht für Schicht ab und bringt einen Fluoreszenzfarbstoff zum Leuchten. Ein Computer setzt das abgestrahlte Licht aus jeder Schicht wieder zu einem dreidimensionalen Bild zusammen. Anders als frühere Mikroskope schädigt das Laserlicht des Zwei-Photonen-Mikroskops Nervenzellen nicht, sodass die Forscher damit viel besser lebende Zellen beobachten können.

Bonhoeffers Team setzte die Technik zunächst an Nervenzellen aus Zellkulturen ein. Die Wissenschaftler interessierten sich vor allem für die Wirkung synaptischer Langzeitpotenzierung auf die sogenannten dendritischen Dornen, kleine Auswüchse auf den verzweigten Dendriten der Zellen und ihren Zellkörpern. Sie tragen den Empfängerteil der Synapsen. Der Senderteil liegt, durch einen winzigen Spalt getrennt, auf dem Axon der vorgeschalteten Zelle. Wenn also die Verstärkung oder Abschwächung von Synapsen die Verbindungen zwischen Nervenzellen sichtbar verändert, dann muss dies an den Dornen zu erkennen sein.


Zellen mit unzähligen Kontakten

Ein dendritischer Dorn kommt jedoch selten allein: Mehrere Zehntausend Dornen kann eine Nervenzelle besitzen. Diese enorme Zahl ist einer der Gründe, warum sich anatomische Veränderungen an den Synapsen so schwer verfolgen lassen. Denn niemand weiß, über welche Synapsen Nervenzellen im Gehirn miteinander verbunden sind und welche der Dornen sich folglich verändern könnten.

Trotzdem ist es den Martinsrieder Forschern in einem bahnbrechenden Experiment gelungen, die Vorgänge an den Dornen live zu verfolgen. Ihr Trick: Zunächst legten sie die elektrische Aktivität der Nervenzellen mit einem Hemmstoff lahm. Nur in einem winzigen Bereich wuschen sie den Hemmstoff mit einem Spülsystem aus dem Gewebe und riefen dort synaptische Langzeitpotenzierung hervor. So konnten sie die Zahl der infrage kommenden Synapsen entscheidend einschränken und beobachten, dass die Verstärkung der Synapsen neue Dornen wachsen lässt.

In weiteren Studien wiesen die Neurobiologen nach, dass die neu gebildeten Dornen tatsächlich Synapsen tragen und die zu den Dornen gehörigen Sendestationen auf den Axonen ebenfalls umgebaut werden. Damit war klar, dass besonders aktive Nervenzellen nicht nur die Stärke ihrer Synapsen verändern, sondern sogar komplett neue Verbindungen bilden können. Auch das umgekehrte Phänomen beobachteten die Wissenschaftler: Die Langzeitabschwächung von Synapsen lässt Dornen schrumpfen oder ganz verschwinden. Wenig benutzte Verbindungen können folglich aufgegeben werden.

Doch was haben diese Ergebnisse mit Lernen und Gedächtnis zu tun? Schließlich handelt es sich bei den untersuchten Zellen um Nervenzellen, die mehrere Tage lang in einem Brutschrank gelegen hatten. Zudem wurde die synaptische Plastizität mit künstlichen elektrischen Reizen ausgelöst. Die Versuchsbedingungen entsprachen also nicht gerade denen natürlicher Lernvorgänge im Gehirn.

Deshalb untersuchte Mark Hübener die Vorgänge an den Synapsen im intakten Gehirn. Zusammen mit seinen Kollegen beobachtete der langjährige Mitarbeiter Bonhoeffers die Nervenzellen in den obersten Schichten der Großhirnrinde einer Maus mit dem Zwei-Photonen-Mikroskop. Hübener ist nicht nur Experte für solche In-vivo-Studien, er ist auch bestens vertraut mit dem Sehsystem im Gehirn, vor allem mit einem Teil der Sehrinde - dem sogenannten primären visuellen Kortex. Er misst dort die Aktivität von Nervenzellen und analysiert, wie die Sehinformationen aus den Augen verarbeitet werden. "Daher wissen wir, dass sich diese Gehirnregion umorganisieren kann, wenn sich die ankommenden Informationen aus den Augen ändern. Dabei lernen die Nervenzellen, neue Reize zu verarbeiten", erklärt Hübener.

Zu einem Umbau der primären Sehrinde kommt es beispielsweise, wenn Nervenzellen in der Sehrinde von einem geschlossenen Auge längere Zeit keine Signale mehr bekommen. "Neurone, die zuvor von beiden Augen gleichermaßen Impulse erhalten haben, reagieren nach ein paar Tagen verstärkt auf das offene Auge. Der Einfluss des geschlossenen Auges wird dagegen zurückgefahren."


Umschalten aufs andere Auge

Über mehrere Wochen hinweg beobachteten die Forscher, was passiert, wenn ein Auge mehrere Tage lang geschlossen bleibt. Und tatsächlich: Werden normalerweise nur sehr wenige dendritische Dornen neu gebildet oder abgebaut, so verdoppelte sich die Zahl neuer Dornen nach dem Verschluss eines Auges innerhalb weniger Tage. Die Nervenzellen besaßen anschließend fast zehn Prozent mehr Dornen auf ihren Dendriten als zuvor. "Die neuen Dornen tragen vermutlich Synapsen, die die Zellen mit dem offenen Auge verbinden", sagt Hübener.

Bei ihren Untersuchungen gehen die Forscher wie Neurochirurgen in einem Krankenhaus vor, inklusive Vollnarkose und Herzmonitor. Durch ein kleines Fenster im Schädeldach können sie bis zu einem halben Millimeter tief ins Gehirn blicken und einzelne Nervenzellen mitsamt ihrer Dornen beobachten. Eine Meisterleistung, wenn man bedenkt, dass selbst winzige Erschütterungen wie Herzschlag und Atmung die Bilder der Nervenzellen völlig verwackeln können. Mussten die Nervenzellen früher mühsam über eine Mikroelektrode mit einem Fluoreszenzfarbstoff gefüllt werden, damit sie im Zwei-Photonen-Mikroskop sichtbar wurden, produzieren heute genetisch veränderte Mäuse den Fluoreszenzfarbstoff in einzelnen Nervenzellen gleich selbst. Sie leuchten also von ganz allein.

Das Gehirn ändert also seine Verschaltung, wenn es neue Reize verarbeiten muss. Bonhoeffer und Hübener zufolge sind auch klassische Lern- und Gedächtnisvorgänge unter dem Mikroskop sichtbar: als neu entstehende oder verschwindende dendritische Dornen. Kritiker halten dem entgegen, dass klassisches Lernen nicht mit der Anpassung an veränderte Signale aus den Sinnesorganen vergleichbar ist und möglicherweise anders funktioniert.

Ein Einwand, den Bonhoeffer nicht gelten lässt: "Die verschiedenen Formen der Plastizität im Gehirn unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern nur graduell. Ob unser Gehirn auf veränderte Reize aus den Augen reagieren muss, ob wir eine Sprache lernen oder sportliche Fähigkeiten wieder abrufen - all dies läuft auf zellulärer Ebene wahrscheinlich sehr ähnlich ab."

Einig sind sich Neurowissenschaftler aber in einem: Lernen findet an den Synapsen statt. Das Vergessen auch. Eine Faustregel "neue Dornen = lernen, Abbau von Dornen = vergessen" wäre dabei aber sicher zu simpel. Wenn beim Lernen Dornen hinzukommen, werden parallel andere abgebaut und umgekehrt, damit das Netzwerk des Gehirns im Gleichgewicht bleibt.


Schaltkreise für das Gedächtnis

Aus Trampelpfaden zwischen Nervenzellen werden Straßen. Das Gedächtnis bahnt sich also seine Wege durch das Gehirn und verschaltet viele, oft weit verstreute Nervenzellen miteinander. Jeder Gedächtnisinhalt folgt dabei seinem eigenen Weg. "Deshalb nützt es wenig, Fußball zu spielen, um Volleyball zu lernen. Beide Fähigkeiten hinterlassen individuelle Spuren im Gehirn."

Auch Tobias Bonhoeffer folgt Spuren - denen seiner Familie. Denn der Name Bonhoeffer hat Tradition in der Wissenschaft. Schon der Urgroßvater, Karl Bonhoeffer, war ein bekannter Psychiater an der Berliner Charité. Der Großvater, Karl Friedrich, hat das Max-Planck-Institut für physikalische Chemie in Göttingen so maßgeblich geprägt, dass das heutige Institut den Beinamen "Karl-Friedrich-Bonhoeffer-Institut" trägt. Und der Vater, Friedrich, war Direktor am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie.

Drei Generationen Wissenschaft also, davon zwei in der Max-Planck-Gesellschaft. Druck, einen ähnlichen Weg einzuschlagen, spürte Tobias Bonhoeffer trotzdem nicht. "Mein Vater riet mir sogar, Jura zu studieren." Aber vielleicht war die Karriere als Wissenschaftler durch die Familiengeschichte doch vorgezeichnet. Denn viele Sonntage begleitete der junge Tobias seinen Vater ans Tübinger Institut und staunte beim Blick durch die dortigen Mikroskope über den Aufbau von Spinnenbeinen und Brennnesselblättern.

Vor die Entscheidung gestellt, ob er Biologie oder vielleicht doch lieber Physik studieren wolle, setzte er sich einfach in den Hörsaal der nahe gelegenen Uni. Eine Vorlesung über Thermodynamik faszinierte ihn dann doch stärker als der Gewebeaufbau von Tiefseeschwämmen - das gab den Ausschlag für die Physik. Doch schon für die Doktorarbeit forschte er an einem biologischen Thema, und nach Forschungsaufenthalten in New York und Frankfurt kam er nach Martinsried, wo er erst eine Forschungsgruppe und später die Abteilung "Synapsen - Schaltkreise - Plastizität" übernahm.


Konstanz trotz ständigen Umbaus

Synapsen können sich also ein Leben lang an neue Anforderungen anpassen. Selbst das Gehirn eines Erwachsenen ist keinesfalls starr und unverrückbar verdrahtet, wie lange angenommen. Im Gegenteil, es ist so flexibel, dass Wissenschaftler rätseln, wie es überhaupt etwas dauerhaft speichern kann. "Unsere Messungen zeigen, dass jeden Tag etwa ein Prozent der dendritischen Dornen in der Sehrinde neu gebildet werden oder verschwinden. Rechnet man das hoch, müssten demnach sämtliche Dornen innerhalb von drei Monaten einmal ausgetauscht werden. Wie das Gehirn unter diesen Bedingungen konstant arbeiten kann, ist ein völliges Rätsel", sagt Bonhoeffer.

Trotz dieses ständigen Umbaus gibt es aber Dornen, die ein Leben lang stabil bleiben. Diese Beobachtung machten amerikanische Wissenschaftler im Mäusegehirn. Auch Hübeners Team hat in seinem Experiment beobachtet, dass manche Dornen dauerhafter sind als andere. "Die Dornen, die bei geschlossenem Auge gebildet wurden, bleiben bestehen. Sie schrumpfen lediglich ein wenig, wenn das Auge wieder offen ist. Wird es ein weiteres Mal verschlossen, wachsen sie wieder. Offenbar werden sie dann reaktiviert - was natürlich einfacher und schneller geht, als immer wieder komplett neue Dornen zu bilden." Dies erklärt auch, warum einmal Gelerntes beim zweiten Mal leichter im Gedächtnis bleibt: Die Pfade sind schon vorgegeben, die notwendigen Dornen sind ja schon da.

Nicht immer müssen Dornen folglich neu entstehen oder verschwinden. Größenveränderungen könnten mindestens ebenso wichtig sein. In der Tat belegen die Ergebnisse verschiedener Forschungsgruppen, dass Dornen durch Langzeitpotenzierung größer werden und durch Langzeitabschwächung schrumpfen. Denn größere Dornen tragen offenbar größere und stärkere Synapsen. So hat Volker Scheuss aus dem Bonhoeffer-Team herausgefunden, dass wichtige Synapsenproteine in wachsenden Dornen zunehmen. "Große Dornen sind nur dauerhaft, wenn sie auch große Synapsen besitzen. Größere Synapsen können dann Signale besser übertragen", erklärt Scheuss (s. Kasten).


KASTEN

Warum besitzen Nervenzellen dendritische Dornen?

Unmittelbar nach der Geburt befinden sich die meisten Synapsen des Gehirns direkt auf den Dendriten. Später sitzen fast alle erregenden Synapsen auf dendritischen Dornen. Welche Vorteile bietet das?

  • Eine Nervenzelle kann mit ihren Dornen leichter andere Zellen in ihrer Umgebung kontaktieren. Die Dornen können dabei spiralförmig um den Dendriten herum angeordnet sein, um dadurch die Wahrscheinlichkeit des Kontaktes zu einem Axon zu maximieren. Die Suche wird noch dadurch erleichtert, dass die Dornen schnell ihre Form und Größe verändern und so aktiv nach einem Partner suchen können.
  • Durch ihre geringe Größe und den schmalen Durchmesser isolieren die Dornen ihre Synapsen vom Dendriten. Dadurch können die einlaufenden elektrischen Signale der einzelnen Synapsen getrennt voneinander verarbeitet werden.
  • Dendritische Dornen hindern Signalmoleküle an der Ausbreitung zu anderen Synapsen. Auf diese Weise können Synapsen individuell verstärkt oder abgeschwächt werden.

Synapsen werden im Alter weniger

So bleibt das menschliche Gehirn zeitlebens lernfähig. Allerdings gehen die Vernetzung zwischen den Nervenzellen und die Fähigkeit, neue Verbindungen einzugehen, mit zunehmendem Alter zurück. Werden noch in den ersten Wochen nach der Geburt besonders viele neue Dornen gebildet, so überwiegt schon bald der Abbau: In der primären Sehrinde gibt es nie mehr so viele Synapsen wie im Alter von drei Monaten, in der präfrontalen Hirnrinde - einer Region für höhere geistige Fähigkeiten - ist das Maximum nach drei bis fünf Jahren erreicht. Dieser Abbau ist notwendig, denn so kann das Gehirn auswählen, welche Verbindungen es tatsächlich benötigt, und die übrigen eliminieren.

In der Kindheit lernt das Gehirn besonders leicht. Außerdem gibt es Perioden, in denen Nervenzellen äußerst empfänglich für ganz bestimmte Reize sind. Solche sensiblen Phasen beginnen abrupt, haben aber kein festes Ende, sondern lassen langsam immer mehr nach. Sprache ist so ein Beispiel: Die sensible Phase dafür beginnt im Alter von ungefähr einem Jahr und hält bis zur Pubertät an. Danach nimmt die Fähigkeit zum Sprachenlernen langsam ab, ohne aber völlig zu versiegen.

Eine entscheidende Rolle für den Beginn sensibler Phasen spielen Netzwerke aus hemmenden Nervenzellen, also Zellen, die durch ihre Aktivität andere Zellen blockieren können. Sensible Phasen setzen in der Entwicklung erst dann ein, wenn diese hemmenden Netzwerke ausgereift sind.

Mark Hübener hat mit seinen Kollegen auch solche hemmenden Nervenzellen untersucht. Schalteten die Forscher einen kleinen Bereich der Netzhaut im Auge durch einen Laserblitz aus, verloren die hemmenden Nervenzellen, die in der primären Sehrinde normalerweise Signale aus diesem Bereich erhalten, einen Teil ihrer Dornen. Die hemmenden Neuronen reagierten dabei im Vergleich zu den zuvor beobachteten erregenden Nervenzellen deutlich schneller. Ihre Synapsen sind bereits wieder stabil, wenn der Umbau der erregenden Zellen gerade erst beginnt.

Hübener vermutet deshalb, dass die Plastizität hemmender Synapsen der erste Schritt für die Umorganisation der Hirnrinde ist. Der Abbau von Dornen der hemmenden Neurone erhöht die Aktivität der erregenden Nervenzellen. Sie bilden daraufhin vermehrt neue Dornen und bauen bestehende ab. Die betroffene Region wird dann so umorganisiert, dass sie künftig auf Seheindrücke von angrenzenden, noch funktionierenden Regionen der Netzhaut reagieren kann.


Lernen mit Gefühl

Neben hemmenden Nervenzellen beeinflussen noch andere Faktoren die Lern- und Gedächtnisfähigkeit: Gefühle beispielsweise oder Aufmerksamkeit. Aber statt wie die hemmenden Zellen einzelne Synapsen regulieren Gefühle und Aufmerksamkeit ganze Zellen und Gehirnregionen. "Deshalb lernen wir leichter, wenn wir konzentriert sind und uns das Lernen Spaß macht", erklärt Bonhoeffer. Negative Gefühle können wiederum so stark sein, dass eine einzige schlechte Erfahrung ein Leben lang anhält.

Noch steht der endgültige Nachweis aus, dass die Veränderung der Dornen und Synapsen die Voraussetzung für Lernen ist. Ein Experiment dafür hat sich Bonhoeffer schon ausgedacht: Er würde die neuen Dornen gern mit einer Markierung versehen, mit der sie nach der Bildung wieder entfernt werden könnten - eine Art Selbstmordschalter für dendritische Dornen also. Wenn die neuen Verbindungen tatsächlich unverzichtbar sind, müsste das Gelernte wieder vergessen werden.

"Leider gibt es einen solchen Schalter noch nicht. Außerdem hätte man vermutlich Tausende von Dornen einzeln zu markieren", sagt Bonhoeffer. Aber angesichts der enormen Fortschritte der Neurowissenschaften in den letzten Jahren ist dieses Gedankenexperiment vielleicht gar nicht so abwegig. So könnten eines Tages vielleicht gezielt Erinnerungen aus dem Gehirn gelöscht werden, indem die dazugehörigen Dornen ausgeschaltet werden, wie man es heute schon aus Science-Fiction-Filmen kennt.

Tobias Bonhoeffer will also noch viel lernen über das Lernen. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für die Aktivitäten von früher. Volleyball spielt er deshalb kaum noch. Aber wenn, dann ist er gerüstet: Die dendritischen Dornen dafür sind ja noch vorhanden.

Filme zum Thema:
www.mpg.de/5773068/Lernen_Bonhoeffer
www.mpg.de/6915155/synapsen_
langzeitpotenzierung


AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • Lernen hinterlässt im Gehirn anatomisch sichtbare Spuren: Manche dendritische Dornen nehmen mit ihren Synapsen an Größe zu oder werden vollständig neu gebildet. Andere schrumpfen oder verschwinden komplett.
  • Die veränderten Verbindungen verknüpfen neue Nervenzellen miteinander. Gelerntes wird also als eine Verschaltung vieler Nervenzellen gespeichert. Eine einzelne Zelle kann so an vielen Gedächtnisinhalten gleichzeitig beteiligt sein.
  • Das Gehirn durchläuft sensible Phasen, in denen es besonders lernfähig ist. Hemmende Nervenzellen spielen für den Beginn dieser Phasen eine wichtige Rolle: Ihre Synapsen werden als erste umgebaut.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Moderne Lasermikroskope zeigen die Vielfalt der synaptischen Dornen auf einem Dendriten einer Hippocampus-Nervenzelle: Die stummeligen, pilzartigen oder fadenförmigen Dornen tragen die Kontaktstellen zu anderen, hier nicht sichtbaren Zellen.

Tobias Bonhoeffer (links) und Volker Scheuss planen einen neuen Strahlenverlauf für ein Zwei-Photonen-Lasermikroskop. Der Laser muss verschiedene Umlenkspiegel und Linsen korrekt durchlaufen, bevor er auf das Mikroskop trifft.

Leuchtende Nervenzellen: Genetisch veränderte Mäuse mit einem Gen für ein Leuchtprotein in ihrem Erbgut erleichtern den Forschern ihre Arbeit. So können sie die Nervenzellen mit all ihren dendritischen Verästelungen und Dornen beobachten (links). Rechts: Lernvorgänge lassen neue dendritische Dornen entstehen. Nach kurzer Zeit sind vier Dornen hinzugekommen (rote Pfeile). Ein Dorn hat einen fadenförmigen Fortsatz gebildet, ein sogenanntes Filopodium (zweiter Pfeil von rechts).

Nervenzellen sind Kunstwerke der Natur: Tobias Bonhoeffer und Mark Hübener (rechts) diskutieren vor zwei Nervenzellen, die sie vieltausendfach vergrößert an die Wand der Kaffeeecke projiziert haben.

Wie Lernen die Synapsen verändert: 1: Ein Dendrit einer Nervenzelle (blau) besitzt auf seinen Dornen Synapsen mit Axonen anderer Zellen (grün, rot). 2: Lernen oder ein neuer Reiz lassen einen dendritischen Dorn sprießen, der den Dendriten mit einer neuen Zelle (gelb) verbindet. 3: Wird das Erlernte weiter trainiert oder hält der Reiz länger an, so werden die Synapse auf dem neuen Dorn ausgebaut und der Dorn vergrößert; der alte Dorn wird nicht mehr gebraucht und verschwindet. 4: Bleibt das Training oder der Reiz aus, schrumpft der Dorn und die zugehörige Synapse wird geschwächt oder inaktiviert. 5: Soll dieselbe Fähigkeit wieder genutzt werden, kann der noch bestehende Kontakt ausgebaut werden. Das Gehirn lernt dann schneller als beim ersten Mal.

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Dieser Text kann direkt heruntergeladen werden unter:
www.mpg.de/mpforschung

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, 1.2013, S. 20-26
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2013