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MELDUNG/333: Paläontologie - Europas Nashörner mit cleveren Ernährungsstrategien (idw)


Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen - 12.01.2015

Was auf den Tisch kommt, wird gefressen - Europas Nashörner mit cleveren Ernährungsstrategien



Weimar, den 12.01.2015. Eiszeitpaläontologe Prof. Dr. Ralf-Dietrich Kahlke von der Senckenberg Forschungsstation für Quartärpaläontologie in Weimar hat gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Eline van Asperen von der Liverpool John Moores Universität das Fressverhalten der ausgestorbenen europäischen Nashornarten Stephanorhinus kirchbergensis und Stephanorhinus hemitoechus untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass die damals auch in unseren Breiten beheimateten sogenannten "Wald"- bzw. "Steppennashörner" sich in ihrer Ernährung nicht an ihre namensgebenden Lebensräume hielten. Die Studie ist kürzlich im Fachjournal "Quaternary Science Reviews" erschienen.

Das heutige afrikanische Spitzmaul-Nashorn ernährt sich bevorzugt von weicher Pflanzenkost - zu seiner Leibspeise gehören Blätter, die es von Ästen und Zweigen abstreift. Das in Afrika beheimatete Breitmaulnashorn dagegen ist vollständig an harte Grasnahrung angepasst. Bei den ausgestorbenen europäischen Nashornarten Stephanorhinus kirchbergensis und Stephanorhinus hemitoechus, landläufig als "Wald"- bzw. "Steppennashorn" bezeichnet, ging man bisher ebenfalls von einer engen Nahrungsspezialisierung aus.

"Wir haben die Nahrungsspektren der beiden Nashornarten untersucht und dabei zu unserer Überraschung festgestellt, dass sich die Tiere in Extremsituationen eine beachtliche Flexibilität in ihrer Ernährung bewahrten", erklärt Prof. Dr. Ralf-Dietrich Kahlke, Leiter der Senckenberg Forschungsstation für Quartärpaläontologie in Weimar.

Beide Arten entstanden in einer Zeitspanne relativ lang andauernder Warmzeiten, welche gute Voraussetzungen für die Entstehung von Nahrungsspezialisten bot. "Wir sind deshalb davon ausgegangen, dass die Tiere eine sehr deutliche Bindung an die Nahrungsressourcen von Wald oder Steppe hatten", ergänzt Kahlke.

Gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Eline van Asperen von der Liverpool John Moores Universität in Großbritannien hat Kahlke fossile Nashornzähne von zahlreichen Fundstellen in Deutschland und Großbritannien untersucht. Anhand der Gebisse von über 200 fossilen Nashornindividuen wurde mit der "Mesowear-Methode" zur Untersuchung der Zahnabnutzung das Nahrungsspektrum der ausgestorbenen Dickhäuter rekonstruiert. Die zwischen 350.000 und 100.000 Jahre alten Belegstücke stammen überwiegend aus den Sammlungen der Senckenberg Forschungsstation in Weimar - mit tausenden Präparaten von über 400 Individuen die größte Sammlung fossiler Nashornreste Europas.

"Obwohl beide untersuchte Nashornarten durchaus verschiedene Lebensräume bevorzugten - Wald oder Offenland - und auch eine entsprechende Morphologie für eine Nahrungsspezialisierung hatten, zeigen unsere Untersuchungen, dass beide Tiere sogenannte 'mixed feeder', also 'Gemischtfresser' waren", erläutert Kahlke und fügt hinzu: "Demnach konnten sie sowohl weiche Blätterkost, als auch harte Gräser zu sich nehmen."

Das ursprünglich aus Asien eingewanderte "Waldnashorn" Stephanorhinus kirchbergensis war größer als alle heutigen Nashörner und "sowohl die Form seines Gebisses, als auch die horizontale Kopfhaltung lassen eine Bevorzugung von Nahrung aus Wäldern erkennen", sagt Kahlke. Das etwas kleinere "Steppennashorn" Stephanorhinus hemitoechus hingegen hatte eine abgesenkte Schädelhaltung - das und die Zahnmorphologie deuten darauf hin, dass die Tiere auf härtere Bodenvegetation spezialisiert waren.

Anhand zahlreicher Fundstellen hat das britisch-deutsche Team festgestellt, dass die ausgestorbenen Nashörner bei einem vielfältigen Nahrungsangebot zwar ihre Präferenzen hatten, bei einem eintönigen Angebot aber durchaus "über ihren "'ökologischen Schatten' springen konnten und mit dem vorlieb nahmen was die Natur ihnen bot", ergänzt Kahlke. Diese Überlebensstrategie - trotz Spezialisierung die Fähigkeiten zur Nahrungsumstellung beizubehalten - wurde erstmals so deutlich für eine Großsäugetiergruppe des Eiszeitalters nachgewiesen.

Auch Landschaftsrekonstruktion müssen hinsichtlich der überraschenden Ergebnisse überdacht werden. Der Weimarer Eiszeitforscher erläutert: "Eine Fundstelle mit vielen 'Waldnashörnern' bedeutet nicht zwangsläufig, dass sich die Fundstelle in waldreicher Umgebung bildete." Zudem schließt Kahlke Auswirkungen auf aktuelle Schutzkonzepte nicht aus: "Unsere Studie ist vielleicht ein Denkanstoß, um die Lebensräume heutiger Tierarten besser zu verstehen. Eventuell entspricht der Lebensraum heutiger bedrohter Arten nicht immer ihrem ökologischen Optimum, sondern resultiert aus einer ähnlichen Flexibilität, wie bei den pleistozänen Nashörnern."


Publikation:

Eline N. van Asperen, Ralf-Dietrich Kahlke: Dietary variation and overlap in Central and Northwest European Stephanorhinus kirchbergensis and S. hemitoechus (Rhinocerotidae, Mammalia) influenced by habitat diversity. Quaternary Science Reviews, Volume 107, 2015, Pages 47-61, ISSN 0277-3791,
http://dx.doi.org/10.1016/j.quascirev.2014.10.001.

Die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt an Lebensformen zu erforschen und zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen erhalten undnachhaltig nutzen zu können - dafür arbeitet die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung seit nunmehr fast 200 Jahren. Diese integrative "Geobiodiversitätsforschung" sowie die Vermittlung von Forschung und Wissenschaft sind die Aufgaben Senckenbergs. Drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden zeigen die Vielfalt des Lebens und die Entwicklung der Erde über Jahrmillionen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main wird von der Stadt Frankfurt am Main sowie vielen weiteren Partnern gefördert.
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen, Judith Jördens, 12.01.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2015


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