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ORNITHOLOGIE/123: Millionen Bergfinken am Schlafplatz (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 4/2009

Wintergäste aus dem Norden: Millionen Bergfinken am Schlafplatz

Von Leander Khil, Otto Samwald und Michael Tiefenbach


Nur sehr selten bekommt man die Möglichkeit, in Europa ein solches Naturschauspiel zu bestaunen. Wo dank der Buchenmast Massenschlafplätze überwinternder Bergfinken entstehen, erleben Vogelkundler eine Vielzahl an ornithologischen Superlativen, die ihresgleichen suchen. Millionen Finken, gejagt von einer erstaunlichen Menge an Greifvögeln, eine imposante Geräuschkulisse und Unmengen von Vogelkot sind die Schlagworte, mit denen sich diese seltenen Ereignisse am besten beschreiben lassen. In diesem Winter gab es solche Bergfinkenmassen gleich zwei Mal in Mitteleuropa zu sehen. Das Brutgebiet dieses bekannten Taiga-Bewohners erstreckt sich als breiter Streifen über ganz Eurasien, von der Atlantikküste Norwegens bis an die Küsten Kamtschatkas. Die südliche Grenze des regelmäßigen Brutareals verläuft in Europa über Südskandinavien und St. Petersburg, wobei einzelne Brutnachweise im 20. Jahrhundert sogar in den österreichischen und italienischen Alpen erbracht wurden. Der Großteil der europäischen Bergfinken verlässt das Brutgebiet Mitte September bis Anfang November in südwestlicher Richtung. Die Wahl des Überwinterungsgebietes richtet sich jedes Jahr nach dem Nahrungsangebot in den potenziellen Zielregionen - Winterortstreue ist beim Bergfinken selten.


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Grund zur Versammlung: die Buchenmast

In Abständen von etwa vier bis sechs Jahren produzieren Buchen besonders viele Samen, es kommt zu sogenannten Mastjahren. Für Bergfinken bedeuten Vollmastjahre ein außergewöhnlich gutes Nahrungsangebot, denn im Winterhalbjahr sind Buchensamen eine ihrer Hauptnahrungsquellen.

Da die Tiere ihre Überwinterungsgebiete nach Buchenmastregionen ausrichten, kommt es in Mitteleuropa immer wieder zu gewaltigen Ansammlungen von Bergfinken.

Schon seit dem 15. Jahrhundert sind Masseneinflüge des Bergfinken vor allem aus der Schweiz dokumentiert, bis heute gibt es viele weitere Nachweise solcher Ereignisse aus Luxemburg, Frankreich, Süddeutschland und Slowenien.

Das gemeinsame Übernachten in großen, dichten Massen bringt für Vögel mehrere wesentliche Vorteile mit sich: Der Prädationsdruck auf das einzelne Individuum nimmt massiv ab, da in der Gruppe die Wahrscheinlichkeit von einem Räuber erbeutet zu werden sinkt und die Masse zu einer besseren Feindentdeckung und -abwehr fähig ist. Des Weiteren können große Vogelansammlungen gerade bei weit verstreuten Nahrungsressourcen als Informationszentren dienen: Bereits erfolgreichen Individuen können andere zu deren Nahrungsplätzen folgen. Ein dritter Vorteil ergibt sich durch das dicht gedrängte Sitzen am Schlafplatz. Für in Gruppen schlafende Vögel entstehen durch die Nähe zu vielen anderen Individuen bessere mikroklimatische Bedingungen als für einzelne Vögel. Ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie dicht Bergfinken an Massenschlafplätzen beieinander sitzen, findet sich im "Handbuch der Vögel Mitteleuropas": Mit zwei Schrotschüssen sollen an einem Schlafplatz bis zu 213 Bergfinken erlegt worden sein. Im Winter 2008/09 wurden in Europa zwei Massenschlafplätze bekannt. Ein bis drei Millionen Bergfinken sammelten sich ab Mitte Januar allabendlich in der Ostslowakei nahe Gelnica. Ebenfalls Anfang des Jahres 2009 wurde bei Lödersdorf, im Südosten Österreichs, ein Massenschlafplatz von mehreren Millionen Tieren entdeckt, der sich nach Angaben der lokalen Bevölkerung, bereits Anfang Dezember an dieser Stelle gebildet hatte.


Ungewöhnliche Vogelschwärme

An einem Spätnachmittag Mitte November ist erstmals ein nicht enden wollender, 50 bis 100 Meter breiter "Schlauch" fliegender Bergfinken im steirischen Raabtal zu beobachten, der sich vom einen bis zum anderen Horizont erstreckt. Die ungewöhnlichen Bergfinkenschwärme in der Region sind in den nächsten Wochen nicht zu übersehen. Besonders am Nachmittag sind die Nahrung suchenden Vogelmassen für viele Menschen sehr auffällig.

Der Schlafplatz befindet sich in einem kleinen Mischwald in einer Geländesenke auf 307 Metern Seehöhe und umfasst eine Fläche von ungefähr 1,7 Hektar. Die nächtliche Präsenz der Vögel ist auch am Tag im Wald unübersehbar: Vogelkot und Federn lassen den Waldboden auch ohne Niederschlag wie schneebedeckt erscheinen. Herumliegende Flügel und Rupfungen auf Baumstümpfen zeugen davon, dass das reiche Nahrungsangebot nicht ungenutzt bleibt.


Ein Naturschauspiel der Extraklasse

Nachmittags spielt sich hier ein einmaliges Naturschauspiel ab: Etwa eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit treffen Finkenschwärme aus allen Himmelsrichtungen in dem kleinen Talkessel nahe der Ortschaft Lödersdorf ein. Ständig von den bereits wartenden Greifvögeln verfolgt, kommen die Vögel nicht zur Ruhe und kreisen über dem Wald. Im Flug jagen rund zwanzig Sperber und bis zu drei Wanderfalken, auch bis zu zehn Mäusebussarde nutzen das einmalige Nahrungsangebot und greifen sich die Finken aus den Baumkronen. Selten ist ein Merlin dabei, und abends geben auch Waldkäuze und ein Uhu ihre Anwesenheit im Wald bekannt.

Mehr und mehr Bergfinken stoßen in der folgenden Stunde dazu, bis Millionen Individuen ihre Kreise ziehen. Ein Geräusch, dem Rauschen des Meeres gleich, erfüllt den Ort. Die riesigen Schwärme sind zum Teil so dicht, dass ein Zusammenstoßen der Vögel unvermeidbar scheint - beobachtet hat das aber bisher niemand. Lediglich die zahlreichen Individuen, die beim Einflug in den Talkessel die letzte Kuppe gelegentlich nur knapp über dem Erdboden überfliegen und mit dem Maschendrahtzaun einer Obstplantage kollidieren, kurz hängen bleiben und dann weiterfliegen, zeugen davon, dass die Tausenden Individuen, von denen jeder Fink umgeben ist, doch zu einer gewissen Unaufmerksamkeit führen.

In der einbrechenden Dämmerung versammeln sich die Finken zuerst auf freistehenden Baumgruppen am Waldrand in unmittelbarer Nähe des eigentlichen Schlafplatzes und lassen diese frühlingshaft und wie blühend erscheinen. Während die Vögel im Flug meist still sind und man nur das Rauschen der Millionen Flügel wahrnimmt, zwitschern jetzt plötzlich alle Tiere, und die Geräuschkulisse wird noch einmal imposanter. Wenn das Licht zur Jagd nicht mehr ausreicht, ziehen sich die Taggreifvögel zurück. Die sitzenden Bergfinken erheben sich und schließen sich den noch fliegenden Schwärmen an. In wenigen Minuten setzen sämtliche Tiere in den benachbarten Wald über, der in den nächsten Momenten von ohrenbetäubendem Gezwitscher erfüllt wird.

Wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwunden ist, mag der Tag zu Ende sein, der Kampf um die besten Schlafplätze beginnt aber erst. Die begehrtesten Plätze zur Nachtruhe sind die dichten Kronen der hohen Fichten und Tannen. Hier ist es um bis zu 1°C wärmer als in unbelaubten Bäumen. Ein guter Übernachtungsplatz kann überlebenswichtig sein: In einem anderen Untersuchungsgebiet wurde für einen Schwarm von zwei Millionen Bergfinken eine tägliche Sterberate von bis zu 5600 Individuen errechnet.


Ein Spektakel - nicht nur für Vogelbeobachter

Der Bergfinkenschlafplatz bei Lödersdorf, der erste dieser Größenordnung in Österreich, löste ein beispielloses Interesse in der Bevölkerung aus.

Durch große Medienpräsenz in allen lokalen und vielen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen sowie Berichterstattungen im Fernsehen und Internet zog der Massenschlafplatz eine erstaunliche Anzahl Schaulustiger, sogar aus dem benachbarten Ausland, an den Ort des Geschehens. Nicht nur an sonnigen Wochenenden war ein Besuch des Massenschlafplatzes eine willkommene Alternative zum Familienspaziergang - bei angenehmem Wetter versammelten sich mehrere Hundert Menschen um sich ein Bild des Schauplatzes zu machen, der von den Medien gelegentlich mit Szenen aus Hitchcock's "Die Vögel" verglichen wurde. Viele Videos, die dem Betrachter das gesamte Geschehen viel besser vermitteln, als es Fotos können, finden sich seitdem auf Internet-Videoplattformen wie Youtube.

Den besonderen Besucherandrang an den Wochenenden nutzten die menschlichen Anwohner verständlicherweise aus: Die an Ferngläsern und unzähligen Kameras frierenden Hände konnte man sich schon bald an heißem Glühwein und Tee wärmen.

Durch das unerwartete Interesse der Menschen und mangels Fahr- und Betretungsverboten wurden von Jägern und Ornithologen gleichermaßen bald Befürchtungen geäußert, ob die ständige Zuschauerpräsenz um und im Schlafplatz nicht zu dessen Auflösung führen könnte. Zum Glück trat aber nichts dergleichen ein, die Bergfinken scheinen vom menschlichen Treiben ganz offensichtlich wenig Notiz zu nehmen.


Wissenschaftliche Bearbeitung

Naturgemäß gestaltet sich die zahlenmäßige Erfassung einer solch großen Vogelmenge als ungemein schwierig. Um trotzdem realitätsnahe Zahlen zu erhalten, wurde versucht, die eintreffenden Vogelschwärme standardisiert fotografisch zu erfassen um anschließend die Gesamtzahl durch Hochrechnung zu ermitteln. So ließ sich der Gesamtbestand des Lödersdorfer Schlafplatzes auf rund 3-5 Millionen Finken eingrenzen.

Anhand zahlreicher Beobachtungen von großen Bergfinkenschwärmen in der Umgebung lässt sich der Aktionsradius der nahrungssuchenden Trupps auf maximal 45 Kilometer abseits des Schlafplatzes festlegen und deckt sich damit weitestgehend mit dem Verbreitungsareal der Buche in der Region.

Um Informationen über die genaue Herkunft der Vögel, die Alters- und Geschlechtszusammensetzung sowie über Gewichtsveränderungen der nächtigenden Individuen zu erlangen, beringten die Autoren ab Mitte Januar Bergfinken am Schlafplatz. Im wöchentlichen Abstand wurden in Japannetzen insgesamt über 1200 Exemplare gefangen, vermessen und mit Aluminiumringen markiert.

Etwa 20 Kilometer nordwestlich des Schlafplatzes, nahe der Ortschaft Ilz, wurden zwischen Oktober und Ende Februar von Helene Pacher mehr als 1100 nahrungssuchende Bergfinken tagsüber mithilfe einer Kleinvogelreuse gefangen. Es wurden noch im Bearbeitungszeitraum sowohl ein am Schlafplatz beringtes Individuum wenige Tage später in Ilz kontrolliert, als auch ein dort markierter Vogel Wochen später am Schlafplatz wieder gefangen. Durch den Vergleich der Daten beider Fangorte lassen sich zum Beispiel Gewichtsveränderungen im Tagesverlauf ermitteln.

Erste Ergebnisse zeigten unter den Fänglingen einen Jungvogelanteil von 53 %, zudem wurden 57 % der Vögel als Männchen bestimmt. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums von einem Monat nahm das Durchschnittsgewicht beider Geschlechter um jeweils etwa 2,5 Gramm ab. Diese Gewichtsabnahme könnte einerseits ein Hinweis auf eine Verminderung der Nahrungsressourcen in der Region sein, Schneefälle im betreffenden Zeitraum wären aber eine ebenfalls naheliegende Erklärung. Detaillierte Auswertungen der Untersuchungen werden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Bis dahin ist besonders auf Wiederfunde beringter Bergfinken aus den Brutregionen oder zukünftigen Überwinterungs- und Rastgebieten zu hoffen.

Bereits in den 1960er und 70er Jahren wurden in derselben Region rund 8000 Bergfinken von Helmut Haar beringt. Wiederfunde dieser Vögel belegten unter anderem die geringe Winterortstreue der Art und erbrachten sogar einen Totfund aus dem Brutgebiet in Westsibirien.

Zur Auflösung von Massenschlafplätzen kommt es oft nach ergiebigen Schneefällen, nach denen die Vögel die Bucheckern am Waldboden nicht mehr erreichen können. Wenn solche Schneefälle und Störungen ausbleiben, ist es eine Frage der Zeit, wie lange sich die großen Schwärme nachts am selben Ort aufhalten. Die bisher dokumentierten großen Bergfinken-Schlafplätze zeigten, dass es etwa drei Monate dauert, bis die Nahrungsressourcen im Umkreis eines solchen Schlafplatzes aufgebraucht sind oder die täglichen Nahrungsflüge zu weite Distanzen in Anspruch nehmen. Spätestens dann lösen sich die Schlafplätze langsam auf.

Mitte Februar wurde auch in Lödersdorf eine Verminderung der Individuenzahl bemerkbar. Die Zeit der ersten Abwanderungen passt gut mit der späten Entstehung des Massenschlafplatzes in der Ostslowakei zusammen. Ob sich hier aber tatsächlich Vögel, die zuvor in Österreich überwinterten, auf ihrem Heimweg nach Sibirien gesammelt haben, könnte nur durch Wiederfänge beringter Vögel sicher gesagt werden.


Literatur zum Thema:

Glutz von Blotzheim, U. N. & K. M. Bauer (1997): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 14/II, Passeriformes (5. Teil). Aula-Verlag, Wiesbaden.

Haar, H. (1975): Der Bergfink (Fringilla montifringilla) als Durchzügler und Wintergast in der Oststeiermark (Aves). Mitt. Abt. Zool. Landesmus. Joanneum. 4/2: 105-114.

Jenni, L. (1993): Structure of a Brambling Fringilla montifringilla roost according to sex, age and body-mass. Ibis 135: 85-90.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 4/2009
56. Jahrgang, April 2009, S. 139-143
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2009