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ORNITHOLOGIE/171: Der Vogel mit den hasenartigen Füßen - das Alpenschneehuhn (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 9/2009

Die Forschungsgeschichte der alpinen Vogelwelt -
Der Vogel mit den hasenartigen Füßen - das Alpenschneehuhn

Von Josef Feldner


Über viele Jahrhunderte hinweg wurden die Alpen von Menschen gemieden, bis mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts eine rasante Erschließung dieses vormaligen Durchgangsraumes begann. Neben der Ersteigung der höchsten Gipfel war die Erkundung der Natur gleichzeitig zentraler Motor in der Erforschung eines Lebensraumes im Herzen Mitteleuropas und bietet auch noch heute eine Vielzahl von spannenden Fragen.


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Obgleich Hannibal, einer der größten Feldherren der Antike, die Alpen bereits 218 v. Chr. mit einer stattlichen Heerschar und 37 Elefanten überquert hatte, blieb dieses Terrain für die meisten Menschen bis ins ausgehende Mittelalter eine Terra incognita. Was die Vogelarten in diesem Gebiet betrifft, so finden sich nur bei dem römischen Gelehrten Plinius sehr dürftige Informationen über einige wenige alpine Arten, wie Alpenschneehuhn, Alpendohle und Birkhuhn. Dabei lobt er vor allem Erstere für ihren Wohlgeschmack und erläutert zudem, dass die hasenartigen Füße namensgebend für diese Vogelart waren.

Bevor man sich jedoch dem Thema der Alpenornithologie näher widmet, bedarf es einer terminologischen Umreißung der Alpen an sich, bei der eine Vielzahl von unterschiedlichsten theoretischen Definitionen, wie geologische, hydrologische, klimatische, florale oder faunistische zur Anwendung kommen. Dem allgemeinen Verständnis nach handelt es sich bei den "Alpen" um ein hohes Gebirge in Europa, das sich vom Ligurischen Meer bis nach Pannonien erstreckt. Liegt die unmittelbare Bedeutung auf dem hohen Gebirge, das vom Alpenvorland über das Mittelgebirge bis hin zur nivalen Stufe mit den gletscherumrankten Gipfeln reicht, sollen sich die Betrachtungen der Alpenornithologie auf die Zone der hochmontanen über die subalpine und alpine zur nivalen Region beziehen. Auch bei dieser Eingrenzung gibt es noch genügend fließende Übergänge, die sich nolens volens nicht ausschließen lassen.

Dünn und zäh flossen die Informationen im Mittelalter, in dem die Scholastik als Leitgedanke alles Leben und Handeln der Menschen bestimmte und so den Blick nicht für Neues und Unbekanntes freigab. Erst mit dem Aufbrechen dieser verkrusteten Gedankenwelt und mit der einfacheren Wissensverbreitung durch den Buchdruck, der die langwierig zu erstellenden Manuskripte ablöste, wurde in der Renaissance der Weg für die Erforschung der belebten und unbelebten Welt geebnet, so auch der Vogelwelt.


Aufbruch in neue Zeiten

Erste, obzwar bei etlichen Vogelarten nicht sehr umfangreich gehaltene Kenntnisse über die Alpenvögel liefert der Züricher Polyhistor Conrad Gessner (1516-1565) in seiner enzyklopädisch angelegten "Historia animalium", in der er sich vor allem mit Wirbeltieren auseinandersetzte. Mit der Herausgabe seiner Naturgeschichte hatte er eine wahre Pionierleistung vollbracht und gilt in der Ornithologiegeschichte unzweifelhaft als einer der Wegbereiter der modernen Vogelkunde. So beschreibt er mit Ausnahme des Bergpiepers bereits alle Vogelarten der alpinen Stufe. Bei der Alpendohle und der Alpenkrähe kann er jedoch noch keine klare Trennung in zwei Arten erkennen und vermutet, dass die Änderung der Schnabelfärbung ähnlichen Mechanismen unterliegt wie die der Amsel, bei der das Männchen nur während der Brutzeit einen dottergelben Schnabel hat. Selbstredend ist der Umstand, dass vor allem jene Arten umfangreicher dargestellt werden, die einerseits jagdliches Interesse hervorriefen, oder auch Arten, die in der Vogelhaltung der damaligen Zeit eine bedeutende Rolle spielten, wie es der Zitronenzeisig tat. Zu diesen Arten zählen allen voran der Steinadler, der Bartgeier sowie die Raufußhühner mit dem Alpenschneehuhn, bei dem Gessner bereits auf die unterschiedliche Gefiederfärbung während der Sommer- und Wintermonate hinweist. Beim Auerhuhn und beim Birkhuhn beschäftigt er sich vorwiegend mit ihrer nicht eindeutig zuordenbaren Namensgebung und den sich daraus ergebenden nomenklatorischen Schwierigkeiten. Über die Ringdrossel schreibt er: "(B)ei uns wird sie auch in den Bergen gefunden, darum man sie Waldamsel und Birgamsel nennet". Er erwähnte bereits auch die Alpenbraunelle, den Schneesperling, den Birkenzeisig und den Mornell, ohne diese Arten aber den Alpen als ihrem Hauptlebensraum zuzuordnen.

Doch Gessner war nicht nur ein unermüdlicher Naturforscher mit einer unbändigen Liebe zur Natur; er hatte auch etliche Berge selbst erklommen. Augenscheinlich hatte er sich mit der Besteigung des Pilatus bei Luzern in der Erforschung der Alpen ein Denkmal gesetzt. Diese Errungenschaften blieben für mehr als 200 Jahre die einzige gedruckte Informationsquelle über die alpine Vogelwelt, abgesehen vom "Kärntner Jagdbuch" des Strasser von Kollnitz (1556-1626), das jedoch nur in Manuskriptform überliefert blieb. Darin werden etliche Alpenvögel behandelt, vor allem schreibt er aber über die unterschiedlichsten Jagdmethoden, um diese Vögel zu erbeuten.

"Unnahbar, schaurig-abstoßend und als Ruinen einer zerbrochenen Welt" interpretierte Thomas Brunet in seiner "Telluris Theoria Sacra" 1681 die Alpen, weshalb es auch nicht verwunderlich ist, dass diese Region von den Menschen gemieden wurde.


Erschließung der Alpen

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verbreitete sich besonders in den protestantischen Ländern Mitteleuropas die von England ausgehende Physiko-Theologie, die in der Betrachtung der Natur sowie in der Ergründung ihrer Eigenheiten und Vielfalt den wunderbaren Bauplan des allmächtigen Schöpfers widerspiegeln sollte. Dieser Zugang führte eine Reihe von Forschern von ihrem Stubengelehrtendasein in die Natur hinaus, um diese zu erforschen oder auch nur zu bestaunen. So rückten die Alpen langsam immer mehr in das Interesse der Naturforscher, deren Bedeutung auch der berühmte Naturwissenschafter Albrecht von Haller 1729 in dem Gedicht "Die Alpen" hervorhob. Dieses Werk erlebte nicht nur 14 Auflagen - es wurde zusätzlich ins Französische, Englische und Italienische übersetzt und gilt als Zeugnis eines neu aufkeimenden Interesses an dieser über Jahrhunderte hinweg nur von Hirten und Jägern aufgesuchten Landschaft.

Erst sehr spät, ab Beginn bis Mitte des 18. Jahrhunderts, war das Interesse an der Vogelkunde der Alpen so groß, dass es zur spezifischen Aneignung kam. Viel früher schon wurden Handelswege durch die Alpen geführt, jedoch galten diese als reine Verbindungswege zwischen Nord und Süd und regten nicht zum Innehalten und Erkunden an. Zwischen 1702 und 1711 hatte der Schweizer Naturforscher und Arzt Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) die Alpen bereist und ausgiebige Forschungen betrieben, die er in Buchform einem breiten Publikum zugängig machte.

In seiner "Natur-Historie des Schweizerlandes" wollte er eine umfassende Naturgeschichte präsentieren, die aber leider nur in drei Bänden erschien. Die Botanik und die Vogelkunde sollten jeweils im vierten und fünften Band dieses Werkes behandelt werden. Diese wurden jedoch niemals gedruckt. So harrt der Vogelband noch immer als Manuskript in der Züricher Zentralbibliothek der Veröffentlichung und würde in gedruckter Form der Allgemeinheit indessen ein reichhaltiges Zeugnis der Erforschung der Schweiz und ihrer Alpenwelt liefern. Nichtsdestotrotz ist Scheuchzer einer der Pioniere in der Erforschung des alpinen Lebensraums, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen wahren Boom erlebte. Langsam wich die Abneigung gegen die schaurig-schöne Gebirgswelt und schlug in Begeisterung und Forscherdrang um. Sicherlich trugen dazu die Erstbesteigung des Mont Blanc durch den Genfer Naturwissenschaftler Horace Bénédict de Saussure 1786-1787 bei oder in Kärnten die des Großglockners 1799 und 1800 durch eine Gruppe von Naturwissenschaftlern, allen voran der Generalvikar von Gurk, Sigismund von Hohenwart. Getragen wurde die Aneignung dieses Jahrhunderte lang gemiedenen Durchgangsraums vor allem durch eine Bildungsbürgerschicht aus England und Deutschland, insbesondere durch Botaniker wie David Heinrich Hoppe und Mineralogen wie Belsazar Hacquet. Dies mag darin begründet sein, dass die Botanik eine weit reichende Bedeutung vor allem in der Klasse der Heil- und Medizinalpflanzen hatte und die Herbation bereits eine weit verbreitete Form der Archivierung darstellte. Pflanzen konnten auf sehr einfache Weise gesammelt, transportiert oder archiviert werden. Demgegenüber befand sich die breit angelegte Aufbewahrung von Vogelbälgen erst in den Anfangsstadien. Vor allem aber drohten die Belege durch nicht sachgemäße Konservierung dem Verfall preisgegeben zu sein. Bedingt durch ihren Reichtum an Gebirgen schließen die vogelkundlichen Erforschungen der Alpen fast nahtlos an die in der Schweiz an, womit dieses Land unanfechtbar die Vorreiterrolle in der Erschließung der alpinen Vogelwelt übernommen hatte. Getragen wurde diese Bewegung durch eine gebildete Elite, die anfänglich ihre Informationen und Objekte von Jägern und Vogelfängern erhielt, sich aber immer mehr selbst in die Erforschung einbrachte.


Die Schweizer Periode

Daniel Sprüngli (1721-1801), ursprünglich als Pfarrer tätig, zog sich krankheitsbedingt nahe seiner Vaterstadt Bern auf ein Landgut zurück. Hier konnte er sich der Scientia amabilis hingeben und frei von finanziellen Sorgen ein umfangreiches naturwissenschaftliches Kabinett mit Mineralien, aber vor allem mit ausgestopften Vögeln anlegen, das sogar Goethes Aufmerksamkeit auf sich zog. Diese Sammlung umfasste ca. 350 Individuen von in der Schweiz erlegten Vögeln. Nach Sprünglis Ableben konnte sie für das Naturhistorische Museum in Bern gesichert werden. Von dieser Sammlung, die bis auf zwölf Taxa alle damals in der Schweiz nachgewiesenen Vogelarten enthielt, überlebten jedoch nur ein einziges Exemplar, eine Schmarotzerraubmöwe, und ein erst kürzlich entdecktes Nest eines Goldhähnchens die Zeit. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Beschäftigung mit der Ornithologie lag auf der Vogelhaltung. Besonders für die Alpenornithologie von Interesse sind Arten wie z. B. der Schneesperling oder die Alpenbraunelle. Sein reichhaltiges Wissen über die Schweizer Vogelwelt fasste Sprüngli in einem dreibändigen Manuskript mit dem sinnreichen Titel "Ornithologia Helvetica" zusammen, das sich heute in der Burgerbibliothek in Bern befindet. Eine kleine Kostprobe seines umfangreichen Wissens wurde in den Reisebeschreibungen des Hannoverschen Hofapothekers Andreae abgedruckt, in der sein ungemein breites Wissen und seine detaillierten Kenntnisse der damaligen ornithologischen Literatur ersichtlich werden. Ein Blick in seine "Ornithologia Helvetica" offenbart die wahre Kennerschaft Sprünglis, der nicht nur alle Quellen seiner Zeit bis ins kleinste Detail hinein darstellte, sondern noch viel bedeutsamer sein Wissen von den zur damaligen Zeit nur fragmentarisch vorhandenen Alpenvögeln umfangreich erweiterte. Wie vom Manuskript Scheuchzers gibt es bis heute noch keine Edition dieser zur Geschichte der Schweizer Vogelkunde und der Alpenornithologie so wichtigen Quelle, jedoch gibt es aktuelle Bestrebungen, das Wissen einer breiteren Basis zugänglich zu machen.


Vertiefung der Feldforschung

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte ebenfalls ein Pfarrer, Johann Rudolf Steinmüller (1773-1835), mit seinen Publikationen in der von ihm redigierten Zeitschrift, die den treffenden Namen "Alpina - Eine Schrift der genauern Kenntnis der Alpen" trug, auf sich aufmerksam. Die Beiträge waren hauptsächlich der alpinen Vogelwelt gewidmet. Auch wenn er durchaus bemüht war, seine eigenen Erfahrungen in diese Arbeiten einfließen zu lassen, war er zugleich gezwungenermaßen auch auf weitere Quellen wie Berichte von Jägern und Hirten angewiesen. Zum ersten Mal wurden Anatomie, Morphologie und Ökologie von Vogelarten wie Bartgeier, Alpenschneehuhn, Zitronenzeisig oder Alpenbraunelle so ausführlich beschrieben wie in keinem vorangegangenen Werk. Allein dem Bartgeier widmet er einen 40-seitigen monographischen Überblick. Dabei erkannte er die anatomische Besonderheit des oberen Verdauungstrakts mit dem stark erweiterten Magen wie auch jene des Auges. Bei der Unterscheidung zwischen der schwärzlichen und hellen Variante konnte er sich allerdings nicht der Meinung des Züricher Heinrich Schinz anschließen, der diese Unterschiede als altersbedingte Kleider erkannte. Detailreich wird aber die Besonderheit bei der Erschließung des fettreichen Marks in Knochen durch Fallenlassen aus großen Höhen in der Literatur beschrieben, nachdem diese Eigenheit schon Albertus Magnus viele Jahrhunderte zuvor aufgefallen war. Aufgrund seiner persönlich gewonnenen Erfahrungen mit dieser Art kann er den Neststandort und Aufbau genau beschreiben. Zudem sind seine Ausführungen über die Alpenbraunelle und den Zitronenzeisig die umfangreichsten und genauesten seiner Zeit.

Nicht mehr ausschließlich die Überlieferung, sondern die eigenen Erfahrungen werden immer bedeutsamer. Angeregt durch diese Publikationen und die starke Nachfrage nach Bälgen von Alpenvögeln kam es zu einem regen Austausch unter Gleichgesinnten vor allem in Deutschland und Holland, unter denen so klingende Namen wie Johann Friedrich Naumann oder Christian Ludwig Brehm zu finden sind.

Naumann stand primär mit Heinrich Rudolf Schinz über mehr als zwanzig Jahre im Briefwechsel. Durch die Neubearbeitung des väterlichen Buchs "Naturgeschichte der Vögel Deutschlands" war er vor allem bei den Alpenvögeln auf die Zuarbeit von Kennern angewiesen. Dazu trat er mit Heinrich Rudolf Schinz (1777-1861), dem in Zürich tätigen Arzt und späteren Professor für Naturgeschichte an der Universität Zürich, in brieflichen Kontakt. Dieser wiederum plante mit dem in Bern ansässigen Friedrich Meisner die Herausgabe eines gemeinschaftlichen Werkes über die Alpenvögel, das zu einer umfassenden Naturgeschichte der Vögel erweitert werden sollte. Dieses Werk gelangte jedoch nie über das Planungsstadium hinaus. Allerdings flossen sehr viele Informationen von Schinz über die Alpenvögel direkt in das Werk Naumanns ein und fanden über diesen Umweg eine indirekte Veröffentlichung. Bedingt durch seine berufliche Tätigkeit in Zürich glänzte er nicht durch Feldforschungen, sondern bezog seine Informationen von Gewährsleuten und war hauptsächlich taxonomisch orientiert.

Getragen durch eine engagierte Gruppe von Schweizer Ornithologen wurde das Wissen über die Alpenvögel am Beginn des 19. Jahrhunderts rasch erweitert. In diesen Chor der Forscher stimmte auch Thomas Conrad von Baldenstein (1784-1878) ein. Aufgewachsen im Piemont und auf seiner geliebten Burg Baldenstein in Graubünden wandte er sich als junger Student zuerst der Jurisprudenz in Erlangen zu. Bald riefen ihn aber die Pflichten zur Verwaltung der elterlichen Güter zurück in die Heimat, wo es ihm möglich war, sich mit der Vogelwelt, hauptsächlich aber mit den Vögeln der Alpenregion zu beschäftigen. Durch eine akribische Beobachtungsgabe gepaart mit präzisen Aufzeichnungen konnte er das Problem der Geschwisterarten Sumpfmeise und Weidenmeise, die er 1827 als neue Art beschrieb, lösen. Schon ein Jahrzehnt früher hatte er den Berglaubsänger als eigenständige Art erkannt. Seine Ergebnisse veröffentlichte er jedoch erst viel später, wodurch Vieillot die Ehre der Erstbeschreibung zuteilwurde. Zusätzlich führte er die Gattungsbezeichnung Hippolais ein. Am gehaltvollsten waren zu seinen Lebzeiten aber seine Beiträge über den Schneesperling, den Bergpieper, die Weidenmeise, den Zitronenzeisig und die Felsenschwalbe in der von Steinmüller redigierten "Neuen Alpina". In diesen Beiträgen konnte er das damalige Wissen über diese Arten nachhaltig erweitern. Später plante er die Veröffentlichung seines Manuskripts über die Schweizer Vogelwelt, die er jedoch nicht mehr erleben konnte. Bereits mehr als überfällig wurde dieses Manuskript 1981 gedruckt.


Vernetzung und Internationalisierung

Weiterer Schrittmacher war die Institutionalisierung in Form von Naturkundemuseen in den Alpenländern. Aber auch die Museen fern der Alpen hatten ein reges Interesse am Ausbau ihrer Sammlungen mit alpinen Vogelarten.

Mit Friedrich von Tschudis "Thierleben der Alpenwelt" fand 1853 die Popularisierung der Natur der Alpen ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Dieses Werk erschien nicht nur in über zehn Auflagen, sondern wurde auch ins Englische, Französische und Dänische übersetzt. Durch einen flüssigen und gut lesbaren Stil traf er den damaligen Zeitgeist und konnte so einer großen Leserschaft eine noch immer fern und unheimlich anmutende Region näher bringen. Einen breiten Teil seines Werks widmete er den Alpenvögeln und erschloss so ein nicht alltägliches Thema für eine breite Schicht.

Trotz umfassender Kenntnisse der Literatur konnte er sich jedoch nicht von dem Glauben trennen, dass der "Lämmergeier" kleine Kinder angreift und fortträgt. Diese kaum aus der Welt zu schaffende Mär trug ihren Teil zum Vernichtungsfeldzug gegen diesen "heißhungrigen & raubgierigen" Räuber bei. Dieses dunkle Kapitel der mitteleuropäischen Kulturgeschichte führte zum Aussterben des Bartgeiers in den Alpen. Nicht nur seine Größe, sondern auch seine sagenhaften Attribute lenkten schon seit Conrad Gessner besonderes Augenmerk auf diesen Vogel. Zusätzliches Wissen, vor allem zur Biologie, lieferten der zeitweise in Bern als Präparator tätige Caspar Rordorf (1773-1843) und Dr. Albert Girtanner (1839-1907), der in St. Gallen lebte.

Letzterer, von seiner Profession her als praktischer Arzt in seiner Heimatstadt tätig, widmete sich besonders ausgiebig den Alpenvögeln und scheute weder Kosten noch Mühen, um sein Wissen über Vogelarten wie den Mauerläufer, das Alpenschneehuhn oder den Steinadler zu vergrößern. Seine besondere Aufmerksamkeit galt aber dem Bartgeier, die ihn dazu veranlasste, mit Kronprinz Rudolf in schriftliche Verbindung zu treten. Zusätzlich veröffentlichte er eine 156 Seiten umfassende monografische Abhandlung über den Bartgeier, die das damalige Wissen auf den aktuellsten Stand brachte. Einen unermüdlichen Mitstreiter fand er in Heinrich Zollikofer (1859-1930), der als Präparator in St. Gallen ein eigenes Geschäft führte. Beachtlich waren seine Erfahrungen mit der Züchtung von in Volieren gehaltenen Alpenvögeln, wie der Alpenkrähe, der Alpendohle, des Schneesperlings, der Felsenschwalbe, der Alpenbraunelle und des Mauerläufers, den er erfolgreich in der Voliere zum Brüten brachte. Leider hatte er seine Tagebuchaufzeichnungen niemals veröffentlicht; diese erschienen erst 1956 posthum.

In Österreich konzentrierte sich die Erschließung der alpinen Vogelwelt vor allem auf die südlichen Bundesländer, Steiermark und Kärnten, in denen sich der in Mariahof an der steirisch-kärntnerischen Grenze beheimatete Pfarrer Blasius Hanf und der in Kötschach Mauthen tätige Schullehrer Franz Carl Keller intensiver mit der alpinen Tierwelt beschäftigten. Daneben widmete sich noch der Tiroler Dalla Torre diesem Thema. Pater Blasius Hanf (1808-1892) konnte als erster Ornithologe die dreifache Mauser des Alpenschneehuhns nachweisen. Weitere Anerkennung fand er durch den mitteleuropäischen Nachweis des Brutvorkommens des Mornells auf dem Zirbitzkogel. Aufgrund seiner bescheidenen Art wollte er sich und seine Forschungen jedoch niemals in den Vordergrund stellen, und die meisten seiner wichtigen Arbeiten wurden in der regionalen Zeitschrift des Naturwissenschaftlichen Vereins für die Steiermark publiziert. Damit waren seine Ergebnisse nicht weit verbreitet, was seinem Kontakt zu den internationalen Ornithologen aber keinen Abbruch tat.


Österreich und Deutschland

Franz Carl Keller (1847-1907) konnte ebenfalls den Mornell, dieses Kleinod der österreichischen Avifauna, als Brutvogel für Kärnten bestätigen und lieferte 1884 in seinem ersten Buch "Die Vogelwelt der kärntnerischen Alpen" eine informative Beschreibung der heimischen Alpenvögel. In Anlehnung an das populäre Werk von Friedrich von Tschudi schrieb er dieses Buch für das lokale Publikum, lieferte aber durchwegs auch Details zur Biologie der Alpenvögel, die dann 1890 noch umfangreicher in seinem Opus magnum "Ornis Carinthiae" abgehandelt wurden. Er zählte mit zu jenen Ornithologen, die als letzte ausgiebige Beobachtungen am Horst des Bartgeiers in den österreichischen Südalpen durchführen konnten. Daneben veröffentlichte er eine Monografie über die Gämse, die über viele Jahrzehnte hinweg als Klassiker galt. Bedingt durch einen weitaus geringeren Anteil an den Alpen beschränken sich in Deutschland die Ornithologen, die den Alpenraum erforschten, weitestgehend auf den süddeutschen Raum, wobei ein Mann unangefochten an der Spitze steht: Franz Murr. Gesegnet mit einer künstlerischen Gabe, hat er sich vor allem den Vögeln der Region um Berchtesgaden verschrieben und lieferte uns über viele Jahrzehnte hinweg aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebhafte Schilderungen aus den bayrischen Alpen.


Paradigmenwechsel

Der Übergang zu einem neuen Jahrhundert führte auch zu neuen Methoden in der Ornithologie. Dabei spielte der Beginn der groß angelegten wissenschaftlichen Vogelberingung, die durch die Versuche des dänischen Ornithologen Hans Christian Mortensen auf eine breite Basis gestellt wurden, eine entscheidende Rolle. Rasch fand diese neue Methodik überall in Europa ihre Anhänger und bot auch für die Alpenornithologie ein reiches Betätigungsfeld. Wurde die Beringung anfänglich zur teilweise unversöhnlich geführten Debatte, ob ein ausgeprägter Vogelzug über die Alpen führte, nicht herangezogen, wurde sie vor allem später an Schweizer Alpenpässen, wie Cou und Bretolet, bei Planberingungen verwendet. Unterstützt wurden diese Untersuchungen später durch den Einsatz der Radarornithologie.

Noch immer waren im vorigen Jahrhundert die Aktivitäten im Bereich der Alpenvögelforschung auf einige wenige Begeisterte beschränkt. Nachdem im ausgehenden 18. Jahrhundert die Morphologie und die systematische Einordnung im Vordergrund der Forschungstätigkeiten standen, rückte im 19. Jahrhundert die Biologie mit allen ihren Teilaspekten in den Mittelpunkt. Im 20. Jahrhundert wurde diese Strömung von Dr. Ulrich Corti (1904-1969) getragen, der sich vorwiegend der Erforschung der Alpenvögel verschrieben hatte. Anfänglichen Publikationen in Fachzeitschriften wie dem "Ornithologischen Beobachter" folgten bald Buchpublikationen, allen voran die in acht Teilbänden erschienene Reihe "Vogelwelt der Alpen" mit Einzelbänden wie "Die Vogelwelt der schweizerischen Nordalpenzone", "Die Brutvögel der deutschen und österreichischen Alpenzone" und "Die Brutvögel der französischen und italienischen Alpenzone". Akribisches Arbeiten mit einem immens breiten Literaturstudium ermöglichten erst die Herausgabe eines so umfassend angelegten Werks, das jedoch gleichzeitig die Wissenslücken auf dem Gebiet der Alpenornithologie offen legte und auch Motor für die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für Alpenornithologie im Sommer 1965 in Innsbruck war. Als Publikationsorgan erscheint seit 1966 die Zeitschrift "Monticola", die sich speziell mit faunistischen Publikationen hervortat, letztendlich aber die weit gesteckten Ziele Cortis inhaltlich nicht ganz erfüllen konnte. Besonders hervorzuheben ist aber die über 40-jährige Schriftleitung in den Händen von Franz Niederwolfsgruber. 1962 wurde in Innsbruck der erste Zoo eröffnet, der sich ausschließlich mit den Tieren der Alpen beschäftigt. Keine Erwähnung können leider jene unzähligen Avifaunisten finden, die vor allem unser Wissen über die Verbreitung der Alpenvögel umfassend bereicherten, denn dies würde den Rahmen dieses Beitrages bei Weitem sprengen.


Institutionalisierung

Im ausgehenden 20. Jahrhundert änderte sich die Forschung, die in ihren Anfängen vornehmlich von Laien getragen wurde, grundlegend. In den letzten Jahrzehnten erfolgten die Forschungstätigkeiten nahezu ausschließlich im universitären Bereich. Darunter fallen klassische Arbeiten zur Anpassung von Schneesperlingen an ihren extremen Lebensraum oder die komplexe soziale Struktur unter Alpenbraunellen wie auch die inzwischen klassischen Studien am Steinadler oder die Monografien über Bergpieper und Steinhuhn. Als letzter von Menschenhand kaum berührter Lebensraum im Zentrum von Mitteleuropa stellen die Gebirge der Alpen nach wie vor ein ideales Betätigungsfeld für Forschungen in einem weitestgehend ungestörten Ökosystem dar.


Neben einem lebenslangen Interesse an der europäischen Vogelwelt sammelt Dr. Josef Feldner seit 25 Jahren leidenschaftlich alte Vogelbücher. Mitbegründer und seit 2006 Obmann von BirdLife Österreich, Landesgruppe Kärnten.


Literatur zum Thema:

Baldenstein, v., T. C. (1981): Vogelbauer. Chur.

Böhm, C. (2000): Der Wasserpieper. Aula-Verlag. Wiesbaden.

Glutz von Blotzheim, U. N. (1996): 25 Jahre Alpenornithologie - Ein Überblick. Orn. Beobachter 93: 95-102.

Hafner, F. (1994): Das Steinhuhn in Kärnten. NWV Kärnten.

Haller, H. (1996): Der Steinadler in Graubünden. Beiheft 9 Orn. Beobachter, 168 S.

Heer, L. (1996): Cooperative breeding by Alpine Accentor Prunella collaris: Polygynandry, territoriality and multiple paternity. J. Orn. 137: 35-51.

Heininger, H. (1989): Anpassungsstrategien des Schneefinken Montifringilla nivalis an die extremen Umweltbedingungen des Hochgebirges. Orn. Beobachter 88: 193-207.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Der Vogel mit den hasenartigen Füßen - das Alpenschneehuhn.
Die Hochalpen waren im 19. Jahrhundert die letzten Rückzugsgebiete des einst weit verbreiteten Steinadlers. Auf dem Foto ist ein Vogel im ersten Winter zu sehen.
Conrad Gessner verdanken wir erste Einblicke in die alpine Vogelwelt.
"Von der Natur lernen" war einer der Grundsätze, die Johann Scheuchzer vorlebte.
Daniel Sprüngli hatte zu seiner Zeit unzweifelhaft das größte Wissen über die Alpenvögel.
Der Schneesperling ist einer der wenigen Vögel, die das ganze Jahr im Hochgebirge ausharren.
Die Alpenbraunelle wurde wegen ihres Gesanges früher auch als Alpenflühlerche bezeichnet.
Christian L. Brehm beschrieb 1831 erstmalig die mittel- und südeuropäische Unterart alpestris der Ringdrossel.
Erst am Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Biologie des Bergpiepers ausführlicher beschrieben.
Girtanner war einer der besten Kenner des Bartgeiers.
Vor allem in den Zirbenwäldern erreicht der Tannenhäher hohe Dichten.
Bereits der römische Schriftsteller Plinius kannte die Alpendohle.

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 9/2009
56. Jahrgang, September 2009, S. 346 - 352
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2009