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ZOOLOGIE/801: "Mach's noch einmal Nick!" - Die hochentwickelten Sinneswelten der Seehunde (DFG)


forschung 2/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

"Mach's noch einmal, Nick!"

Von Rembert Unterstell


Marine Science Center: Auf Europas größter Forschungsstation für Robben erkunden Zoologen die hoch entwickelten Sinneswelten von Seehunden - oft sogar vor den Augen begeisterter Zuschauer / Ein Ortstermin in Warnemünde


Neugierig strecken drei Seehunde ihre Stupsnasen aus dem Wasser und beobachten die Ankömmlinge. Dreizehn Vier- bis Sechsklässler stehen da mit ihren Lehrerinnen auf der Besucherplattform. Vom Sonnendeck des Forschungsschiffs verfolgen sie gemeinsam das Seehundtraining im Freiwassergehege. Ausgestreckte Zeigefinger, offene Münder und immer wieder gezückte Digitalkameras. Biologischer Anschauungsunterricht kann so motivierend sein. Auch Selbstversuche gehören dazu. "Weißt Du, was ich gerade gemacht habe?", fragt der Elfjährige mit Sturmfrisur seine verdruckst dreinblickende Mitschülerin. "Als die Robbe abgetaucht ist, habe ich ganz leise bis 36 gezählt - ohne zu atmen!"

Atemlos wendig und "einfach süß" wirken Nick, Luca und Marco und ihre sechs Artgenossen zumindest auf den ersten Blick. Die neun Seehunde sind, wie man hier augenzwinkernd sagt, die "aquatischen Mitarbeiter" und das größte Kapital des Marine Science Centers, das am 11. Juni offiziell im Jachthafen Warnemünde vor den Toren Rostocks eröffnet wurde. "Doch es sind und bleiben Raubtiere", unterstreicht der Leiter des Robbenforschungszentrums Professor Guido Dehnhardt, "und beißen auch schon einmal zu." Dennoch spricht der Spezialist für Meeressäuger fast bewundernd von ihnen: "Seehunde sind ungemein freundliche, gelassene und auch lernbegierige Tiere."

Dehnhardt, 48, hat seit 2007 eine Lichtenberg-Stiftungsprofessur an der Universität Rostock inne und leitet die Arbeitsgruppe "Sensorische Jahr der Forschungsexpedition 2009 Fotos: Unterstell Foto: Marine Science Center und kognitive Ökologie". Sie erforscht die Sinneswelten von Meeressäugern. Im Freiwassergehege, nur durch ein Netz von der Ostsee entfernt, führen die Wissenschaftler ihre Versuche durch. Der umgebaute, vor Anker gegangene Ausflugsdampfer "Friedrich Wolf" der Berliner "Weißen Flotte" dient dem Team dort als Forschungsstation.

Im Lebensraum des Meeres mit den zwischen zwei und 26 Jahre alten Seehunden arbeiten zu können - das ist das Neue und Außergewöhnliche des Marine Science Centers. Das Freiwasserlabor misst 60 x 30 Meter, ist bis zu sechs Meter tief und bietet mit 10 000 Kubikmetern Salzwasser nahezu natürliche Lebensbedingungen. Damit ist die Anlage nach Dehnhardts Worten "das europaweit größte Forschungslabor für Robben".

Jeder Nordseeurlauber hat Seehunde vor Augen, die sich auf einer Sandbank lümmeln. Doch das abgesicherte Wissen über Phoca vitulina ist äußerst lückenhaft. Lange Zeit galten die Tiere, die zur Familie der Hundsrobben zählen, als stumpfsinnig - ganz anders als die Seelöwen, die mit Ballkunststücken in Zoo und Zirkus früh auf ihre Fähigkeiten aufmerksam machten. Doch immer mehr zeigt sich: Auch Seehunde vollbringen bemerkenswerte, hoch entwickelte Sinnesleistungen.

Schlüsselfrage der Dehnhardtschen Arbeitsgruppe: Wie orientieren sich die Tiere? So wollen die Forscher herausfinden, wie Seehunde, die sehr gute Schwimmer sind und bis zu 30 Minuten ununterbrochen tauchen können, selbst über weite Strecken ihren Weg im Meer finden und wie sie im trüben Wasser und noch in den Tiefen der Ozeane fischen. Dafür werden einerseits die sensorischen Leistungen - das Hören, Sehen, Tasten und Riechen - der Tiere untersucht. Andererseits geht das Wissenschaftlerteam der Frage nach, wie die Informationen verarbeitet werden. "Das ist wie eine Entdeckungsreise", sagt Dehnhardt mit einem Lächeln in der Stimme, "vergleichbar einer Forschungsexpedition, die von der Suche nach bislang unbekannten Sensoren und Orientierungsmechanismen getrieben wird."

Beispielsweise untersuchten Dehnhardt und seine Mitarbeiter, anknüpfend an frühere Forschungen, seit 2004 in einem SFB-Projekt die "Grundlagen visueller Wahrnehmung bei marinen Säugern". Ein wichtiges Ergebnis: Die auffallend großen Kulleraugen des Seehundes sind "hoch sensitiv, allerdings nur im Sinne einer Hell-Dunkel-Wahrnehmung", wie die junge Zoologin Friederike Hanke bilanziert. In ihrer soeben abgeschlossenen Dissertation konnte sie nachweisen, dass den Seehund darüber hinaus eine ausgeprägte Fehlsichtigkeit zu eigen ist, verbunden mit schlechtem Farbsehen unter Wasser und an der Luft. Doch was bedeutet dieser Befund für das Zusammenspiel der Sinne beim Seehund?

Um grundlegende Fragen wie diese experimentell beantworten zu können, müssen die Forscher mit den Seehunden "täglich im Gespräch sein", sagt Hanke. In der Anlage werden die Tiere ständig mit einer für sie neuen Situation konfrontiert. Dehnhardt: "Die Seehunde müssen die Bedienung der wissenschaftlichen Apparaturen sowie Versuchsabläufe erlernen, häufig komplexe Informationen verarbeiten und werden an ihre Wahrnehmungsgrenzen herangeführt. All dies hält die Tiere körperlich und geistig fit." Wenn sich nicht gerade ein Heringsschwarm aus dem offenen Meer in die Anlage verirrt hat, sind die Seehunde mit Feuereifer dabei. "Mach's noch einmal, Nick!" Wenn die Übung klappt, wird der zehnjährige Seehund mit einem Fisch belohnt. Fischhappen dienen als "primäre Verstärker" und ein kurzer Trillerpfeifenton aus Trainermund als "sekundärer Verstärker".

Bereits seit 20 Jahren forscht Dehnhardt mit Meerssäugern, zunächst mit Delfinen und Seelöwen. Doch weder eine deutsche Universität noch ein außeruniversitäres Forschungsinstitut besaß bislang eine Versuchsanlage für große Meeressäuger. Neun Jahre lang arbeitete der Zoologe, seit 2000 Privatdozent an der Universität Bonn, mit seinen Tieren im Kölner Zoo.

Schon früh von den Geschöpfen des Meeres und ihrer Lebensweise fasziniert, träumte er von einer eigenen Forschungsstation am offenen Meer. Schon als Jugendlicher, wie er berichtet. Zielstrebig, beharrlich und mit Herzblut suchte und fand er seinen Weg. Aufreibende, doch letztlich scheiternde Versuche zur Umsetzung seiner Idee blieben ihm nicht fremd. Doch der Grundlagenforscher hielt an seiner Vision fest.

Erst als die Volkswagen-Stiftung 2006 den Weg für eine Stiftungsprofessor an der Universität Rostock ebnete, konnte das Robbenforschungszentrum Realität werden. Die ungewöhnliche Idee, ein Schiff als Forschungsstation zu nutzen, kam dem Zoologen, als er die Bauvorschriften für maritime Steinhäuser kennenlernte. Dann zogen die Tiere sowie alle Kölner Mitarbeiter vom Rhein an die Mündung der Warnow. Dort will das neunköpfige Team künftig auch Versuche auf dem Meer durchführen und in einem Boot mit den Seehunden auf die Ostsee fahren.

Vor zehn Jahren stieß Dehnhardt, damals Forschungs-, später Habilitationsstipendiat der DFG, erstmals auf die eigentümlichen Sinnesqualitäten der Barthaare (Vibrissen). Beim Seehund sind sie mehr als ein Berührungsorgan, das etwa den Schnurrhaaren einer Katze vergleichbar wäre. Die weitaus sensibleren Vibrissen sind im Wasser ein "aktives hydrodynamisches Rezeptorsystem und für den Beutefang überlebenswichtig", wie es Dehnhardt fachlich auf den Punkt bringt.

Was das bedeutet? Seehunde können mithilfe ihrer bis zu 20 Zentimeter langen Barthaare kleinste Wasserbewegungen, sogenannte hydrodynamische Strömungen, wahrnehmen. Die Vibrissen dienen als Reizaufnehmer. Der frappierende Nachweis gelang mit Studien zur Spurverfolgung im Wasser. Seehunde, denen man eine Augenmaske angelegt hatte, waren in der Lage, dem Weg eines ferngesteuerten Modell-U-Bootes buchstäblich haargenau zu folgen - nur aufgrund der Wirbelspur, die das Boot im Wasser hinterließ.

Weitere Studien haben neue Mosaiksteine zusammengetragen. Derzeitiges Fazit: Selbst wenn die Tiere schnelle Schwimmbewegungen ausführen und damit selbst Wasser aufwirbeln, können sie die von Fischen stammenden Verwirbelungen im Wasser "fühlen" und Beutetiere orten und verfolgen. Wie sich die Reizunterscheidung und -verarbeitung im Detail vollzieht, verfolgt eine interdisziplinäre Projektgruppe im 2006 angelaufenen DFG-Schwerpunktprogramm "Strömungsbeeinflussung in der Natur und Technik". Gemeinsam versuchen Rostocker Zoologen und Strömungsmechaniker, "mit spezieller optischer Messtechnik die Strömungsvorgänge an einer Robbenvibrisse zu analysieren, parallel aber auch den Wirkungsmechanismus der Wirbelunterdrückung aufzuklären", umreißt Projektkoordinator und Zoologe Dr. Wolf Hanke das Vorhaben. Die Ergebnisse könnten langfristig auch für bionische, also nach dem Vorbild des Vibrissen-Mechanismus konstruierte Anwendungen hilfreich sein. Hanke und Dehnhardt denken zum Beispiel an Durchflusssensoren für Gas- oder Wasserzähler oder Einsatzmöglichkeiten in der Unterwasserrobotik.

Schöpferische Baupläne der Natur dienen Ingenieuren immer häufiger als Vorbild. Doch woher nimmt eigentlich der naturforschende Zoologe seine Inspiration? Dehnhardts Antwort fällt so knapp wie vielsagend aus: "In erster Linie aus der Nähe zu den Tieren", und er setzt gleich hinzu, "die interessantesten Forschungsfragen ergeben sich, wenn sie aus der Lebenswelt der Robben heraus gestellt werden."

Für den Zoologen ist das mehr als ein charmantes Bonmot. Dehnhardt wohnt auf der Station, wo sich konzentriert arbeiten, nur bisweilen nicht recht schlafen lässt. Denn die Seehunde, immer wieder zu einem nächtlichen Gesangskonzert aufgelegt, haben erkannt, welch wunderbarer Resonanzboden ihnen die Unterseite des Forschungsschiffes bietet. "Da ist meine Nacht auch schon mal um fünf Uhr morgens zu Ende", sagt Dehnhardt trocken. Zerknirschtheit hört sich freilich anders an. "Das gehört einfach dazu."

"Dazu" gehört für das Marine Science Center auch eine lebendige Öffentlichkeitsarbeit, die schrittweise ausgebaut werden soll. Besucher sind eingeladen, die Experimente in der Anlage hautnah vom Sonnendeck des Forschungsschiffs zu verfolgen, informative Erläuterungen inklusive. "Ich möchte unsere Wissenschaft einsehbar machen", betont Dehnhardt. Und er muss für finanzielle Planungssicherheit sorgen - mit Landesmitteln, Stiftungsgeldern, Drittmitteln nebst selbst erwirtschafteten Einnahmen, etwa durch Besuchergruppen. Die Verbindung von Wissenschaft und privatwirtschaftlicher Ökonomie könnte Schule machen. Wahrgenommen wird sie schon jetzt: Zum Beispiel von der Initiative "Deutschland - 365 Orte im Land der Ideen", die das Marine Science Center 2009 als einen "Ort der Innovation" ausgezeichnet hat.

Es spricht einiges dafür, dass Besucher jeden Alters das neue Angebot annehmen und schätzen werden. Die Seehunde jedenfalls werden die Ankömmlinge weiter neugierig begrüßen.


Dr. Rembert Unterstell ist Chef vom Dienst der "forschung".

www.marine-science-center.de


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Quelle:
forschung 2/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 20-23
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
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"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2009: 59,92 Euro (print),
66,64 Euro (online), 70,06 Euro für (print und online)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2009