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KOMMENTAR/099: Fukushima - ein Super-GAU wird schöngeredet? (SB)


Ein Super-GAU wird schöngeredet?


Es läßt sich schon lange nicht mehr schönreden und auch die verzweifelten Versuche, per Hubschrauber und teilweise unter Einsatz des eigenen Lebens der wenigen verbliebenen Techniker, die Reaktoren in Fukushima mit allen verfügbaren Mitteln herunterzukühlen, weisen ebenfalls darauf hin: ein "sehr bedeutender" Austritt von Radioaktivität, d.h. Freisetzung von Radioaktivität jenseits der gesetzlich festgelegten Grenzwerte, hat längst stattgefunden und konnte wohl auch gar nicht mehr verhindert werden. Ein solcher technisch nicht mehr beherrschbarer Störfall oder GAU (Größter Anzunehmender Unfall) wird normalerweise umgangssprachlich als Super-GAU bezeichnet, im Fachterminus wird die Gefährdung gewöhnlich schon durch den Begriff "auslegungsüberschreitender Störfall" beschönigt.

Die täglich neuen Meßwerte aus Japan zeugen von einer Radioaktivität im Wasser und in der Luft, die um das Fünffache, Zehnfache oder weit über das Hundertfache über den Grenzwerten liegt. Schon diese Werte sprechen für eine immanente Bedrohung der Menschen im Katastrophengebiet, schüren unsere schlimmsten Befürchtungen, sagen allein jedoch noch nichts über die eigentliche Gefahr oder das Risiko aus, da sie nur Momentaufnahmen an unterschiedlichen Orten in Japan wiedergeben. Und allein das nehmen manche Stimmen zum Anlaß, nach wie vor zu behaupten, es sei doch noch gar nichts los. So kommentierte ZEIT online am 22. März 2011 die aktuellen Meßwerte: "Doch Panik ist unangebracht, die Gesundheitsgefahr ist noch beherrschbar."

Das war allerdings noch zwei Tage vor dem letzten Zwischenfall bei dem drei Arbeiter in Block 3 beim Austausch eines Kabels ohne Schutzstiefel in radioaktiv verseuchtem Wasser gestanden hatten und dadurch einer extrem hohen Strahlenbelastung ausgesetzt worden waren. Nach Angaben des AKW-Betreibers Tepco wies das Wasser mit 3,9 Millionen Becquerel pro Kubikzentimeter eine 10.000-fach erhöhte Radioaktivität auf.

Jeder, der die Nachrichten und Meldungen zu den jüngsten Ereignissen der kombinierten Erdbeben-, Tsunami- und nuklearen Katastrophe liest, muß angesichts dieser Zahlen eigentlich kapitulieren, da er die tatsächlichen Zusammenhänge aus veröffentlichten Daten zur Radioaktivität kaum einzuschätzen und zu deuten vermag. Tatsächlich werden die gleichen Werte je nach Standpunkt oder Einstellung zu unterschiedlichsten Interpretationen genutzt. So behauptete beispielsweise die ZEIT, eine ähnliche radioaktive Belastung wie derzeit in Fukushima durch die mehr als 500 Atomwaffenversuche in den 1950er und 1960er Jahren habe in Deutschland keinen nachweisbaren Effekt gehabt:

Nach den mehr als 500 Atomwaffentests in den 1950er und 1960er Jahren stieg die Hintergrundstrahlung in der Atmosphäre hier bis 1963 auf 113 Mikrosievert pro Jahr an. In den Jahrzehnten danach sank sie stetig. Selbst die Tschernobylkatastrophe von 1986, bei der ein aktiver Reaktorblock brannte und explosionsartig zerfetzt wurde, stieg diese Strahlung auf einen Wert von unter 40 Mikrosievert im Jahr.
(ZEIT online, 22. März 2011)

Interessant, daß diese von Tschernobyl induzierte, vermeintlich geringfügige Änderung einer Masse an - allerdings gut in der Atmosphäre verteilten - radioaktiven Substanzen zugerechnet werden muß, die gerade eine kleine Petrischale füllen soll.

Dazu kommen, am Rande kaum bemerkt, Nachrichten wie unlängst im Schattenblick, daß die zulässige Strahlenbelastung, also die vermeintlich gesundheitlich noch verträgliche Menge an radioaktiver Strahlung, kurzerhand heraufgesetzt wurde, so daß die Hilfskräfte vor Ort bisher als gesundheitsgefährdend eingeschätzten Dosen legal ausgesetzt werden durften:

NACHRICHTEN -> BAYERNTEXT
POLITIK/6029: Nachrichten - Bayerntext 16.03.2011

Löscharbeiten in Fukushima unterbrochen

Am AKW Fukushima 1 sind die Lösch- und
Kühlungsarbeiten unterbrochen worden.

Laut Nachrichtenagentur Kyodo war es
aufgrund hoher Strahlung und böigen
Winds nicht möglich, Hubschrauberein-
sätze zu fliegen. Die Helikopter soll-
ten Wasser in den Reaktor schütten.
Zeitweise musste das AKW evakuiert wer-
den, weil die Radioaktivität eine neue
Rekordmarke erreicht hatte.

Die Regierung erhöhte derweil die maxi-
mal zulässige Strahlenbelastung für
Mitarbeiter in Atomanlagen von 100 auf
250 Millisievert. Dies sei unter den
aktuellen Umständen unvermeidbar.

Wie ist das möglich, fragt man sich und stellt dabei fest, daß einem weder der Begriff Sievert noch die Bedeutung von 100 oder 250 Millisievert eigentlich etwas sagen, von den zuvor erwähnten Becquerel ganz zu schweigen. In den aktuellen Nachrichten wird häufig von Millisievert (mSv) aber auch von Nanosievert (nSv), Mikrosievert (µSv) oder anderen Einheiten wie Becquerel oder Gray (Gy) gesprochen, wenn es um die radioaktive Belastung geht. Die unterschiedlichen Begrifflichkeiten suggerieren dem Laien vermeintliche Zugriffs- oder Kontrollmöglichkeiten und werden je nach Absicht dazu verwendet, dramatische Visionen zu produzieren oder das Geschehen komplett zu verharmlosen...

Genaueres Nachhaken generiert Fragen: Wurde anfangs nur von Mikrosievert gesprochen, werden laut ZEIT online "auf dem Gelände des AKW Fukushima-1 inzwischen Strahlendosisleistungen von bis zu 1200 Millisievert pro Stunde gemessen". Wozu dient die Zeitangabe in diesem Fall? "An Block 2 des Kraftwerkes wurden zeitweise die Arbeiten eingestellt, nachdem" - wie es in der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) hieß - "zu hohe Strahlungswerte gemessen wurden", also Werte die über 250 Millisievert hinausgehen, sollte man denken. Statt dessen schreibt die SZ jedoch von zurückgegangenen Werten im Umkreis des Kraftwerks:

Kurz nach Entdeckung des Rauchs betrug die radioaktive Belastung nach Angaben der Atombehörde 283,7 Mikrosievert. Zwei Stunden zuvor habe sie bei 435 Mikrosievert gelegen. Die Regierung erklärte, es bestehe keine Notwendigkeit, die Evakuierungszone um das AKW auszuweiten.
(SZ, 22. März 2011)

Gleichzeitig wird von einer radioaktiven Belastung des Trinkwassers in Tokio gesprochen, die über dem Grenzwert liegt. Laut SZ erklärte ein Sprecher der Stadtregierung:

Die Werte übersteigen nach seinen Angaben den Grenzwert, den das Gesundheitsministerium für Kleinkinder festgesetzt hat. Die Warnung gelte unter anderem für 22 der 23 Bezirke der japanischen Hauptstadt."
(SZ, 22. März 2011)

Nicht dazugesagt wird allerdings, wie hoch der Grenzwert in Japan für Trinkwasser liegt. Auch Nahrungsmittel seien betroffen, heißt es weiter:

In Proben fand das Gesundheitsministerium beim Blattgemüse Kukitachina 82.000 Becquerel an radioaktivem Cäsium und 15.000 Becquerel an radioaktivem Jod - dies übersteigt die zulässigen Grenzwerte um den Faktor 164 beziehungsweise 7.
(SZ, 22. März 2011)

Das alles scheint sehr widersprüchlich zu sein. Bei genauerer Betrachtung findet man jedoch mehr, was zur Beunruhigung denn zur Beruhigung beiträgt.


*


Nun ist die Furcht vor radioaktiver Strahlung, etwas Unsichtbares, das wir uns nicht vorstellen und nicht mit den Sinnen wahrnehmen können, verständlicherweise groß. Wie aber soll man mit einer Gefahr umgehen, auf die man sich nicht vorbereiten kann, über die man gar nichts weiß?

Radioaktive Strahlung geht nur von bestimmten Stoffen aus, deren Atomkerne instabil sind und deshalb willkürlich zerfallen (Radionuklide). Dabei setzen sie Energie in Form von Strahlung frei. Diese Strahlung ist so stark, daß sie die atomare Struktur anderer Stoffe durchdringen und beim Durchdringen verändern kann. Man stellt sich das so vor, daß die Strahlung in die Atomhülle eines Atoms eindringt und dort negativ geladene Teilchen, sogenannte Elektronen, aus ihren Bahnen verdrängen bzw. freisetzen kann. Die übrig bleibenden Atome oder Moleküle sind elektrisch positiv geladen, man bezeichnet sie als Ionen. Die von radioaktiven Stoffen ausgehende Strahlung wird deshalb auch als ionisierende Strahlung bezeichnet. Eigentlich wird dadurch kaum etwas verändert. Man kann sich jedoch vorstellen, daß es in einem Organismus, in dem jedes Molekül seine bestimmte Funktion hat, durchaus gravierende Folgen haben kann, wenn eines davon plötzlich eine positive Ladung und demzufolge ein ganz anderes chemisches, biochemisches oder elektrochemisches Reaktionsverhalten erhält. Und dies umso mehr, je zielgenauer oder zufälliger kritische Bereiche im Stoffwechsel getroffen werden.

Die Ionisierung funktioniert immer, unabhängig davon, ob die Strahlung als elektromagnetische Welle in Erscheinung tritt oder in Form von Teilchen, die gewissermaßen beim Zerfall des instabilen Atomkerns entstehen. Sowohl die hochenergetischen Teilchen wie auch die elektromagnetische Strahlung wirken auf alle Materie in der Umgebung, auch auf die Prozesse im menschlichen Körper.

Einer solchen Wechselwirkung sind alle Organismen auf der Erde im übrigen ständig ausgesetzt, weil auch sogenannte natürliche radioaktive Zerfallsprozesse stattfinden. D.h. aber nicht, daß diese "natürliche" Strahlung (oder Hintergrundsbelastung) für irgendetwas gut oder weniger schädlich wäre. Sie erzeugt Schäden, z.B. Veränderungen in der DNA-Kette oder gar im "Code", die der Organismus reparieren muß. Das körpereigene Reparatursystem des Menschen soll allerdings jeden Tag etliche Billionen Erbgutschädigungen reparieren. Gelingt das nicht, wird die betroffene Zelle "eliminiert". Wenn allerdings auch diese Schutzeinrichtung versagt, kann daraus mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit Krebs entstehen. Eigentlich sollte schon die stetig steigende Statistik neuer Krebsfälle in den Industrieländern für sich sprechen, daß auch geringfügige Änderungen über die "natürliche Strahlenbelastung" hinaus gemeinsam mit allen anderen Veränderungen in Natur und Umwelt entgegen der allgemein vertretenen Behauptung "wir hätten die Atomwaffenversuche der 1950er und 1960er Jahre wie auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ganz gut weggesteckt", doch zumindest nicht von allen ohne Effekt vertragen werden können. Doch wir greifen hier vor.

Bekannte Beispiele solcher "natürlichen Strahler" sind die Elemente Uran, Radium, Plutonium oder das radioaktive Edelgas Radon. Ebenso existieren radioaktive "Varianten" von anderen, normalerweise stabilen Stoffen: Sie enthalten zusätzliche subatomare "Kernteilchen", genauer: Neutronen, die dem Atom zusätzliche Masse verleihen, ohne seine chemische Eigenschaft zu verändern. Ein Wissenschaftler kann diese sogenannten Nuklide oder Isotope dann an ihrer erhöhten "Massezahl" erkennen. Und viele können radioaktiv zerfallen, indem sie die zusätzlichen Neutronen (Neutronenstrahlung) oder auch anderes "abwerfen".

Kohlenstoff, den fast alle Verbindungen enthalten und der in jedem lebenden Organismus vorkommt, ist dafür ein gutes Beispiel: Der Kern von Kohlenstoffatomen (chemische Abkürzung "C") enthält normalerweise sechs Protonen und genauso viele Neutronen; er wird umgeben von sechs Elektronen (er hat somit die Massezahl 12). Eine Variante enthält zwar die gleiche Zahl an Protonen und Elektronen, weist aber insgesamt acht Neutronen auf und ist so schwach radioaktiv. Die chemische Schreibweise lautet "14C". Auch 14C kommt in lebenden Organismen vor.

Welle oder Teilchen oder Faltenwurf?

Doch kehren wir zurück zur "gemessenen" radioaktiven Strahlung: Die ionisierende Strahlung wird physikalisch sowohl als Strahl aus energiereichen Teilchen als auch als elektromagnetische Welle erklärt. Wenn man dieses Ereignis auf irgendeine Weise wahrnehmen kann, hat man einen Zerfallsprozeß "gezählt". Das gängigste Meßgerät hierfür ist das "Geiger-Müller-Zählrohr". Darin durchqueren ionisierende Strahlen ein Rohr, das mit Argon-Gas gefüllt ist. Wie schon beschrieben werden u.a. die Argon-Atome ionisiert und gleichzeitig Elektronen freigesetzt. Auf der Internet Seite des Scinexx-LogoSpringer-Verlag www.scinexx.de/dossier-detail-89-6.html wird der Vorgang sehr anschaulich beschrieben:

Das Rohr wird von einem Draht, der positiv geladen ist, durchzogen, die Wand des Rohres fungiert als negative Elektrode. Zwischen diesen beiden Elektroden wird ein elektrisches Potential von 1.000 bis 1.200 Volt angelegt. Die Argon-Ionen werden folglich von der Rohrwand angezogen, die Elektronen wandern zum Draht in der Rohrmitte. Auf ihrem Weg werden die Elektronen beschleunigt und treffen weitere Argon-Atome, die sie wiederum ionisieren. Auf diese Weise entsteht eine Kaskade von Ionen, die einen ganz kurzen Stromfluss zwischen Wand und Draht bewirken. Dieser Stromfluss wird verstärkt und hörbar gemacht.
(www.scinexx.de/dossier-detail-89-6.html)

Erzeugt wird dadurch das berühmte, "gefährliche" Klicken, welches gemeinhin mit Radioaktivität gleichgesetzt wird. Von den ursprünglichen hochenergetischen Teilchen, die gleichzeitig Wellen oder Falten werfen, stellt diese Detektion allerdings schon eine gewaltige Abstraktion dar, wenn man nur das Klicken des Lautsprechers als Wahrnehmungsverstärkung des Zerfallsprozesses wertet. Darüber hinaus muß sich jedoch, vereinfacht ausgedrückt, nach jeder Entladung das Medium des Zählrohrs wieder aufbauen. In dieser Zeit finden Zerfallsprozesse statt, die es nicht detektieren kann, die man aber gewissermaßen dazuschätzt, um den Meßwert "angemessen" zu korrigieren.

Um schließlich anzugeben, wie sehr eine radioaktive Substanz strahlt, wird der Begriff der "Aktivität" benutzt. Sie gibt die Strahlungsmenge an, die aus einer Probe in einer bestimmten Zeit austritt, mit anderen Worten, die Anzahl der Zerfälle pro Zeiteinheit. Die Aktivität wird in Becquerel angegeben, dabei entspricht ein Becquerel einem Zerfall pro Sekunde und das ist die offizielle Einheit des radioaktiven Zerfalls. Zur Halbwertszeit verhält sich die Aktivität umgekehrt proportional: Je schneller eine Probe zerfällt, je kleiner ihre Halbwertszeit, desto intensiver strahlt sie. Daher sind kurzlebige radioaktive Substanzen, die oftmals damit abgetan werden, daß sie ja schon innerhalb weniger Minuten, Stunden oder Tage "abgebaut" sind, nicht so harmlos, wie der Eindruck, der damit erweckt wird.

Für Uran-238 beträgt die Halbwertszeit 4.500.000.000 Jahre. Das ist die bisherige Lebensdauer unseres Planeten! Für Radium-221 nur 30 Sekunden.

Über die Energie, die durch radioaktive Strahlung frei wird, und die Verletzung, die dabei entstehen kann, sagt das Klick des Geigerzählrohrs auch nichts aus. Eine hohe Zerfallsrate oder Becquerel-Zahl kann auch nicht direkt mit einer hohen biologischen Wirkung gleichgesetzt werden. Deshalb sagen die zuvor erwähnten Angaben von 3,9 Millionen Becquerel, auch wenn sie das 10.000-fache der normalen Belastung darstellen, nichts darüber aus, was die drei Arbeiter erleiden mußten. Sie sagen uns bestenfalls, daß 390 Becquerel als normal betrachtet werden. Aber sind sie das auch? Von den Grenzwerten, die hier zugrunde gelegt wurden, wird nämlich ebenfalls nichts erwähnt, so daß man schon eine gewisse Absicht oder gezielte Desinformationsstrategie dahinter vermuten könnte.

Tatsächlich werden nämlich für jedes radioaktive Element eigene Grenzwerte festgelegt. In Japan liegen diese beispielsweise bei 2000 Becquerel (Bq) pro Kilogramm für Iod-131 und bei 500 Bq pro Kilogramm für radioaktive Cäsium-137-Isotope. Bei dem Block 3 des AKW-Fukushima handelt es sich jedoch um den Reaktor, in dem plutoniumhaltige MOX-Brennelemente verwendet wurden. Auch von diesem Block steigt immer wieder schwarzer Rauch auf, begründete Sorge, daß hier schon längst Lecks entstanden und größere Mengen Plutonium freigesetzt sein könnten. Das heißt, die Aktivität bzw. die Anzahl der Zerfälle sagt nicht unbedingt etwas über die Gefährlichkeit der Strahlung aus. 10.000-fach erhöhte Werte sind zwar schon bedrohlich. Es könnte sich aber - mit anderen Werten ausgedrückt - noch bedrohlicher anhören. Denn Plutonium ist ein hochgiftiger, hochgefährlicher alpha-Strahler. Bei gleicher Dosis hat Plutonium eine rund 20fach höhere biologische Wirksamkeit als gammastrahlende Nuklide wie etwa Cäsium-137. Abgesehen davon, daß es auch ohne Strahlung ein tödliches Gift wäre, führt schon das Einatmen leicht zu Bronchial- und Lungenkrebs. Über die Nahrung aufgenommen lagert sich Plutonium in Leber und Knochen ab und wird bei einer biologischen Halbwertszeit von 40 Jahren in der Leber bzw. 100 Jahren in den Knochen praktisch nicht mehr zu Lebzeiten ausgeschieden.

Ein Gramm des Elementes Radium setzt in einer Stunde eine Energiemenge von etwa 420 Joule durch radioaktiven alpha-Zerfall frei (in der Quelle wurde nicht die Art des Isotops genannt). Diese Energieabgabe hält über Jahre hinweg fast unvermindert an (im Vergleich wird bei der Verbrennung von einem Gramm Kohle nur insgesamt einmal 34.000 Joule frei, dafür muß Radium nur 8,5 Stunden aktiv bleiben). Andere alpha-Strahler wie Uran (aber auch Radon, Thorium, oder Polonium) strahlen wesentlich langsamer, andere geben weniger Energie ab. Auf diese Weise läßt sich die freigesetzte Energie allein nicht gut vergleichen.

Deshalb wurde für die Wirkung von radioaktiver Strahlung wieder eine andere Größe eingeführt, die sich nicht aus der Aktivität herleiten läßt: Die Strahlendosis, die ein Mensch oder ein Objekt bei Konfrontation mit radioaktivem Material erhalten kann, wird als sogenannte absorbierte Energiedosis "Energie pro Kilogramm Körpermasse" in der Einheit Gray (Gy) angegeben, wobei die Strahlung durch die in ihr enthaltene Energie beschrieben wird. Ein Gray entspricht der Aufnahme von einem Joule (J) pro Kilogramm Masse (kg). Bei dem obigen Beispiel geblieben, würde somit ein 70 kg schwerer Mensch, der sich eine Stunde lang der Strahlung von 1 Gramm Radium aussetzt, mit 5,7 Gy belastet.

Früher wurde die Energiedosis in rad (rd) angegeben, wobei 100 rad einem Gray entsprechen. Da man mit dem "Gray" mit wesentlich kleineren und übersichtlicheren Zahlen operiert, wurde mit diesem Schritt schon eine Verharmlosung der bisherigen Zahlenwerte vorgenommen.

Was ebenfalls immer wieder schnell vergessen wird, ist, daß wir es mit drei Arten von Radioaktivität bzw. drei Arten von ionisierender Strahlung zu tun haben, je nachdem, welche Art von Radionuklid zerfällt.

So gibt es "dicht ionisierende" Strahlung wie alpha-Strahlung (zwei Protonen und zwei Neutronen werden emittiert) oder Neutronenstrahlung (nur Neutronen werden emittiert), die deutlich höhere ionisierende Wirkung hat (d.h. bei weitem mehr Moleküle ionisiert und eine größere Zerstörung anrichtet) und daher auch biologische Wirkung hat als "locker ionisierende" Strahlung (beta-, gamma- oder Röntgen-Strahlung). Werden bei einem Zerfall Elektronen frei, spricht man von beta-Strahlung oder Elektronenstrahlung. Gamma-Strahlung ist eine besonders energiereiche Strahlung. Der häufig verwendete Begriff Röntgenstrahlung steht für eine Strahlung, die im Spektrum sozusagen zwischen der Gamma-Strahlung und einer besonders intensiven, aber nichtionisierenden ultravioletten Strahlung (UV) liegt.

Allerdings wirkt alpha-Strahlung beispielsweise nur über sehr geringe Distanzen und wird schon von den nächsten Hüllen aufgefangen und "neutralisiert". Gelangt ein mit alpha-Strahlung zerfallendes Teilchen durch Nahrung oder Wasser in den menschlichen Körper und wird es z.B. wie Strontium in den Knochen oder Plutonium in der Lunge, also an exponierten sensiblen Stellen eingelagert, verursachen die davon ausgehenden ionisierenden Strahlen aber mit höchster Wahrscheinlichkeit Gewebeschäden und auch Krebs.

Daher wurde ein spezieller Faktor eingeführt, der die Auswirkungen auf den Organismus entsprechend wichten soll und hier kommen wir endlich zum eingangs erwähnten Sievert:

Ein sogenannter Wichtungsfaktor sieht für die alpha-Strahlung eine um den Faktor 20 höhere biologische Wirksamkeit vor. Man spricht von der sogenannten Äquivalenzdosis, die in der Einheit Sievert (Sv) gemessen wird. Für Neutronenstrahlung liegt je nach Geschwindigkeit der Neutronen der Strahlungswichtungsfaktor zwischen 5 und 20. Für locker ionisierende Strahlung (Photonen- bzw. beta-, gamma- oder Röntgen-Strahlung) wird aufgrund von empirischen Daten, also Erfahrungswerten 1 Gray mit nur 1 Sievert gleichgesetzt (auch hier waren die Zahlenwerte der früheren Einheit "rem", mit 1 Sv = 100 rem (roentgen equivalent man) wesentlich höher). Bei dem oben erwähnten Beispiel geblieben, würde also der 70 kg schwere Mensch, der sich eine Stunde lang der Strahlung von 1 Gramm Radium aussetzt, mit 114 Sievert "kontaminiert" werden, was seinen sicheren Tod zur Folge hätte (ein Wert von etwa 4 bis 5 Sievert gilt als sogenannte LD-50 für ionisierende Strahlung. Der Wert bezeichnet die letale Dosis, mit der die Hälfte der Menschen stirbt, die damit bestrahlt wurde. Die absolut letale Dosis ionisierender Strahlung beträgt etwa 7 Sievert. Atombombenopfer starben bereits, nachdem sie eine höhere Dosis als 6 Sievert bekommen hatten).

Das täuscht jedoch nicht darüber hinweg, daß es sich bei dem Faktor, genau wie bei der daraus abgeleiteten Maßeinheit Sievert um hypothetische Werte bzw. "geschätzte" Größen handelt, bei der Strahlenbelastung und erfahrene Schäden aus den bisher mit Radioaktivität gewonnenen Erfahrungen eingehen (u.a. durch Untersuchungen, die man bei Opfern des Reaktorunglücks in Tschernobyl machen konnte, generiert). Es ist aber kein wirklicher Meßwert. Und auch über die tatsächlichen Schäden können mit ihrer Hilfe nur Spekulationen angestellt werden.

Und so könnte man sich vielleicht auch erklären, warum es unter Umständen möglich ist, daß die "auszuhaltende Belastung" kurzfristig höher eingeschätzt bzw. heraufgesetzt wird. Denn die untere Grenze für klinisch erfassbare Strahlungseffekte bei einmaliger Exposition beträgt 250 mSv. Erst bei höheren Werten machen sich also Strahlenschäden äußerlich bemerkbar, was aber nicht heißt, daß nicht auch schon geringere Dosen schädlich sind.

All das nur, um die Augen davor zu verschließen, daß man eigentlich schon deshalb von einem Super-GAU in Japan sprechen müßte, weil man auch die gesundheitlichen Auswirkungen keineswegs unter Kontrolle hat.

Nach heutigem Kenntnisstand gibt es keinen unteren Grenzwert, ab dem ein gesundheitliches Risiko ausgeschlossen werden kann", sagt Horst Zitzelsberger. Der Strahlenbiologe leitet die Abteilung für Strahlenzytogenetik am Helmholtz Zentrum München.
(FOCUS Online Nachrichten, 15. März 2011)

Und auch in einer Presseinformation der deutschen Sektion der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW)" vom 24. März 2011 wird der Super-GAU in Fukushima erklärt:

Beim Atomunfall in Fukushima handelt es sich laut dem Leiter des Otto Hug Strahleninstituts, Prof. Dr. Edmund Lengfelder, zweifellos um einen Super-GAU mit massiven Freisetzungen von Radioaktivität aus vermutlich mehreren Kraftwerksblöcken. Wegen der großflächigen Ausbreitung der Radioaktivität sind inzwischen nur noch Maßnahmen zur Eingrenzung der Strahlenbelastung möglich, aber nicht zur völligen Vermeidung.

Die IAEA-Angaben mit erschreckend hohen Strahlendosen zwischen 200.000 und 900.000 Becquerel pro Quadratmeter in der Region um Fukushima zeigen, dass Japan ganz offensichtlich die Dimension von Tschernobyl erreicht hat. Nach Tschernobyl wurden Gebiete mit einer Kontaminationen von mehr als 555.000 Becquerel pro Quadratmeter (Cäsium-137) in der Ukraine, Russland und Weißrussland zu "Zonen strikter Kontrolle" erklärt.

Insgesamt war davon eine Fläche von 10.000 Quadratkilometern betroffen. Bei einer etwa 15fach geringeren Bevölkerungsdichte als in Japan waren in der dünn besiedelten Tschernobyl-Region bereits 270.000 Menschen in rund 800 Siedlungen betroffen.
(IPPNW-Presseinformation vom 24. März 2011)

25. März 2011