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KOMMENTAR/100: Fukushima - Endlager Pazifik. Wie radioaktiv ist "leicht verstrahlt"? (SB)


Wie radioaktiv ist "leicht verstrahlt"?

Tepco entsorgt Millionen Liter "leicht verstrahltes" Kühlwasser ins Meer und niemand regt sich auf


Es gebe keine andere Alternative, 11.500 Tonnen radiokativ verstrahltes Wasser will Tepco ins Meer ablassen. Die Verstrahlung des Wassers liege um das 100-fache über dem gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwert, schrieb die TAZ am 1. April, was aber immer noch als relativ niedrig gilt. "Der Betreiber erwäge diesen Schritt", so hieß es weiter, "da die gewaltigen Massen an radioaktiv verseuchtem Wasser in verschiedenen Teilen der Atomruine die Arbeiter daran hindern, unter anderem die dringend erforderliche Kühlung der Reaktoren in Gang zu bringen." Kein Aprilscherz, sondern die blanke Verzweiflung. Denn, offenbar hat sich bei allen drei Reaktoren unter den Turbinengebäuden stark kontaminiertes Wasser derart angestaut, daß kaum noch Platz zum agieren und handeln vorhanden ist. Dieses Wasser will man nun auf dem Kraftwerksgelände zwischenlagern, um es angeblich später auf Tankschiffe zu pumpen. Da die Auffangbecken jedoch bereits voll sind, wird ihr Inhalt (10 Millionen Liter radiaktives Wasser) ins Meer entsorgt, wie Tepco-Sprecher Junichi Matsumoto der Presse mitteilte.

Die Regierung habe dem zugestimmt, da es sich um eine unvermeidliche Notfallmaßnahme handele, gab Regierungssprecher Yukio Edano zu. Außerdem sollen 1.500 Tonnen Wasser (= 1,5 Millionen Liter Wasser) aus einem Graben unter den Reaktoren 5 und 6 abgepumpt werden. Auch dort behindere das Wasser weitere Arbeiten.

Nicht von ungefähr wird hier in manchen Meldungen nur von 10 Millionen Litern bzw. dann wieder von 10.000 Tonnen gesprochen, aber auch von 11,5 Millionen Liter oder in anderer Schreibweise 11.500.000 Liter oder 11.500 Tonnen. Die Beliebigkeit, mit der mal eine eins oder ein paar Nullen weggelassen werden, spricht ihre eigene Sprache. Die Angabe in Tonnen klingt für manchen vielleicht nicht so gewaltig und verharmlost die Gesamtmenge (obwohl 1.000 Liter Wasser ziemlich genau 1 Tonne wiegen). Die wahlweise Angabe von 10 oder 11,5 Millionen zeigt allerdings, daß es den Verantwortlichen inzwischen auf eine Millionen Liter kontaminiertes Wasser mehr oder weniger gar nicht ankommt, denn wieviel stark verseuchtes Wasser in jeder Sekunde aus den bisher noch nicht einmal vollständig aufgefundenen Leckagen ins Erdreich oder auch ins Meer gespült wird, darüber kann niemand wirklich Auskunft geben. Bisher wurde ein 20 cm großer Riß im Betonboden ausgemacht, alle Versuche, ihn notdürftig abzudichten, schlugen bisher fehl. Laut Tepco wurden nun Barrieren bestellt, die normalerweise zum Auffangen von ausgetretenem Öl genutzt werden. Man hoffe, daß man so weitere Kontaminationen verhindern könne, sagte Tepco-Manager Teruaki Kobayashi. Wann die Barrieren eintreffen, war laut focus.de am 4. April 2011 noch nicht ganz klar. Und wie immer wurden auch diese Meldungen mit einer gesundheitlichen Entwarnung ergänzt: Die japanische Behörde für Atomsicherheit teilte mit, durch das ins Meer geleitete "leicht" radioaktiv belastete Wasser gingen keine Gefahren für die menschliche Gesundheit aus.

Wer durch die stetigen Tiefschläge schlimmster, einschneidenster Katastrophenmeldungen noch nicht an Aufmerksamkeit eingebüßt hat und von der, wie ein Medienkritiker schrieb, "Katastrophenmüdigkeitsdepression" befallen ist, fühlt sich vielleicht ein wenig an die letzte Erdölkatastrophe im Golf von Mexiko erinnert, bei der die Öffentlichkeit ebenfalls an unvorstellbar hohe Zahlen wie 800 Millionen Liter Öl (4,9 Millionen Barrel oder 666.400 Tonnen) gewöhnt wurde, von denen sich dann plötzlich wie durch Zauberhand 600 Millionen Liter in Luft aufgelöst haben sollten. [1]

Doch während das vermeintlich verschwundene Öl nur versteckt am Grunde des Meeres vor sich hindümpelt oder, durch Lösungsmittel gestreckt, sich über die Wasserwege verteilt, ist es ja die Crux jeder atomaren Verseuchung, daß sie ohnehin unsichtbar ist und man sie erst an ihren Folgen erkennt...

Wie radioaktiv und vor allem wie gefährlich sind also diese gewaltigen Mengen angeblich leicht verstrahlten Wassers?

Wie wir bereits in KOMMENTAR/099: Fukushima - ein Super-GAU wird schöngeredet? (SB) dargestellt haben, reichen Angaben wie "leicht verstrahlt" oder 100-fach erhöhte Werte nicht aus, um die gesundheitlichen oder ökologischen Folgen abzuschätzen. Meist fehlt die Angabe, zu welchem Grenzwert die 100 multipliziert werden muß.

Auch fehlen Angaben, welche Radionuklide in welcher Menge darin vorkommen. So erklärte der Radiochemiker Max Bichler, Professor am Atominstitut der TU Wien, in einem Interview mit derStandard.at:

Manche Elemente werden im Meerwasser ausgefällt, sinken zu Boden, werden einsedimentiert und das war es. Andere gelangen in die Nahrungskette und können Mensch und Umwelt umso vehementer treffen. Wenn man aber davon ausgeht, dass es sich um Kühlwasser handelt, das mit Kernbrennstoff in Kontakt gekommen ist, dann dürfte eine große Menge an Spaltprodukten abgeflossen sein, die sicher jenseits aller zulässigen oder als harmlos zu betrachtenden Werte liegen. Um das ohne Zweifel bewerten zu können, wäre eine Probe des Wassers notwendig.
(derStandard.at 4. April 2011)

Selbst mit einer vermeintlich "genaueren" Angabe, daß das aus den Leckagen austretende Wasser mit 1.000 Millisievert pro Stunde strahlt, ließe sich allein nichts anfangen. Denn man wisse nicht, unter welchen Bedingungen die Dosis diese Höhe annimmt, die bekanntlich ein gewichteter Wert (siehe KOMMENTAR/099) ist, also beschreiben soll, mit welch großer Schädigung bei dem betroffenen Organismus zu rechnen ist. Hier macht es natürlich einen großen Unterschied, ob man dieses Wasser trinkt, darin badet, oder ob ein dünner Strahl in zwei Metern Entfernung vorbeifließt.

Scheinbar präzise und doch völlig aussagelose Zahlen sind die Kennzeichen japanischer Desinformationspolitik geworden. Erst vor kurzem waren von 10.000.000-mal stärker als normal kontaminiertem Wasser in den Reaktorgebäuden von Fukushima-1 die Schlagzeilen voll, die dann kurz darauf wieder zurückgenommen wurden. Es sei ein Meßfehler gewesen. Ein Meßfehler von 10.000.000-mal ohne Bezugsgröße?

Das 100.000-fache sei richtig, hieß es dann wenig später. Ein paar Nullen waren vertauscht worden, doch die Bezugsgröße blieb man weiter schuldig.

Den absoluten, d.h. den gemessenen bzw. gewichteten, d.h. geschätzten Strahlungswert des kontaminierten Wassers gab Tepco auch hier nach der Korrektur mit 1.000 Millisievert pro Stunde an. Diesen Wert kann man nun mit verschiedenen "Normalwerten" vergleichen.

Dazu schrieb die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar am 28. März:

Setzt man ihn in Beziehung mit der Strahlung von natürlichem Wasser, so kommt man tatsächlich auf einen Faktor von mehreren Millionen. Natürliches Wasser strahlt eben kaum.

Vergleicht man den Strahlungswert des verseuchten Wassers von Fukushima jedoch mit Kühlwasser, das normalerweise durch einen funktionierenden Reaktor fließt, so kommt man auf einen Faktor von (nur) 100.000. Denn Kühlwasser in einem Reaktor ist schon im Normalzustand stärker radioaktiv als Wasser aus dem Hahn.

Beide Zahlen stimmen also. Es kommt nur darauf an, mit was man den absoluten Wert vergleicht. Man kann nicht wissen, wie viele Äpfel Hans besitzt, auch wenn bekannt ist, dass er siebenmal so viele wie Peter hat.
(Süddeutsche Zeitung, Patrick Illinger, Atomkatastrophe in Japan Zahlen der Angst 28. März 2011)

Doch was leicht verstrahlt bedeutet, läßt sich angesichts von 11,5 Millionen Litern nicht verstehen, zumal nur die kleinste Menge Strahlung, die einen neuralgischen Punkt trifft, tödlich sein kann. Der Radiochemiker Max Bichler, der von derStandard.de die gleiche Frage gestellt bekam, ließ keinen Zweifel an der Aussagelosigkeit solcher Aussagen:

Dass hier lediglich von einem schwammigen Begriff wie "schwach" die Rede ist, grenzt wieder an eine Nullinformation. In der österreichischen Strahlenschutzverordnung ist bis ins Detail festgesetzt, welche Nuklide bis zu welchem Becquerel-Wert pro Kubikmeter Luft oder Wasser abgeleitet werden dürfen. Dahingegen sind Begriffe wie "schwach" in solchen Fällen Pseudo-Informationen und nicht seriös. Auch jeder Ziegel und jeder Granitstein in Österreich ist "schwach" radioaktiv, wenn man so will.
(derStandard.at 4. April 2011)

Man kann nur vermuten, daß nach einem schwach, nach einem weniger, ein MEHR kommen wird, d.h. die nächste Stufe der Eskalation wird erreicht, wenn auch das zwischengelagerte, stärker radioaktiv kontaminierte Wasser entsorgt werden muß.

Anmerkung:

[1] siehe unter Naturwissenschaften -> Chemie
UMWELTLABOR/267: Ölpest im Golf (1) Unbeantwortete Fragen (SB)
UMWELTLABOR/268: Ölpest im Golf (2) Wo ist es denn, das Öl - diskrepante Wissenschaftsanalysen (SB)
UMWELTLABOR/269: Ölpest im Golf (3) Was das Öl zum Killer macht (SB)

5. April 2011