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KOMMENTAR/101: Fukushima - wie dicht ist ein geflickter Reaktor? (SB)


Geht der Ionen-Strom durchs Wasserglas
oder wie dicht ist ein geflickter Reaktor?


Vor einer Woche wurde ein 20 Zentimeter langer Riß im Reaktorblock 2 des Atomkraftwerks von Fukushima, aus dem große Mengen stark radioaktiven Wassers entweichen konnten, angeblich mit einem Pfropfen aus sogenanntem Liquid-Glas gestopft, nachdem Versuche mit anderen Materialien wie Beton sowie einer Mischung aus Sägespäne, Zeitungen und Kunstharz zuvor gescheitert waren. Der Durchbruch soll gelungen sein, als eine sehr große Menge Flüssigglas sowie ein entsprechendes "Härtungsmittel" in den Boden unterhalb des Schachts gepreßt wurde. Aus den Berichten seither geht hervor, daß eigentlich niemand sagen kann, woraus die Dichtungsmasse genau besteht und ob das Abdichten der Leckage auf diese Weise tatsächlich halten wird. Ganz ähnlich wie die hilflosen Abdichtungsversuche auf dem havarierten Ölbohrloch im Golf von Mexiko zunächst wie Papierhütchen kaum dem hohen Druck standhalten konnten, bis schließlich ein Provisorium hielt, was es versprach, scheint aber auch das provisorisch abgedichtete Leck in Fukushima alle vergessen zu lassen, daß es sich nur um ein Provisorium handelt. Es besteht die Möglichkeit, daß auch dieses wieder durchlässig wird und zudem immer noch radioaktive Stoffe aus anderen Lecks in die Umwelt gelangen können. Am 12. April, einen Monat nach den Ausfall der Kühlsysteme im Atomkraftwerk, wird der Super-GAU in Fukushima der höchsten Gefahrenstufe 7 zugeordnet, d.h. der gleichen Kategorie, zu der man auch die Katastrophe in Tschernobyl rechnet. Das gefährliche Leck, durch das bereits die Radioaktivität im Meer drastisch erhöht wurde, scheint dank Liquidglaspfropfen hingegen längst vergessen.

Nur, womit hat man den Riß eigentlich strahlensicher gestopft? Der Begriff "Liquid Glas" kommt aus dem Angelsächsischen und klingt ebenso wie die wörtliche Übersetzung "Flüssigglas" wesentlich interessanter als die korrekte deutsche Bezeichnung "Wasserglas", das manche von uns noch als Haushaltsmittel zum Einlegen von Eiern im "Tante-Emma-Laden" holen mußten. Die Financial Times Deutschland gab unter dem Titel "Das ist der unbekannte Reaktorkleber Wasserglas" auch keine eindeutige Antwort:

"Liquid Glas" (Flüssigglas oder Wasserglas) ist eine flüssige oder gallertartige Masse, die schnell aushärtet. Bei der Flüssigkeit handelt es sich nicht um flüssiges Glas, sondern um eine Substanz, die Glas nur chemisch ähnlich ist. Flüssigglas kann wie Flüssigbeton auch unter Wasser verwendet werden. Am zerstörten japanischen Atomkraftwerk Fukushima konnten Arbeiter so ein Leck mit einem Abdichtmittel auf Basis von "Liquid Glas" schließen. [...]

Zur Herstellung von Flüssigglas wird Quarzsand als Basis verwendet und je nach Bedarf unterschiedliche Zusatzstoffe beigemischt. Die abgekühlte Substanz wird zu einem Pulver gemahlen. In heißem Wasser löst es sich wieder und kann als flüssige oder dickflüssige Masse verwendet werden. Am Bestimmungsort wird die Masse dann wieder hart.
(Financial Times Deutschland 6. April 2011, oder siehe auch Webseite: www.ftd.de/wissen/technik/:abgedichtetes-fukushima-leck- das-ist-der-unbekannte-reaktorkleber-wasserglas/60035829.html)

Tatsächlich wird wasserlösliches Glas aus dem gleichen Rohstoff wie Glas (Quarzsand) hergestellt, den man allerdings mit Alkali (Kaliumcarbonat für Kaliwasserglas) bzw. Natriumcarbonat (für Natronwasserglas) unter CO2-Entwicklung bei 1100 °C bis 1200 °C verschmilzt. Das abgekühlte feste Glas wird zu einem Pulver gemahlen. Daraus wird durch Lösen in Wasser bei hohen Temperaturen (z.B. 150 °C bei 5 bar Druck) flüssiges Wasserglas (Flüssigglas) als klare, kolloide alkalische Lösung oder auch als alkalisches Gel (gallertartige bis feste Masse) gewonnen. Und diese Substanz wurde zum Abdichten des Reaktorgebäudes verwendet.

Die Frage, ob das Abdichten des Lecks in Fukushima tatsächlich eine dauerhafte Lösung sein kann, blieb offen. Einmal wurde der Physiker Volker Erbert zitiert, der sich im ZDF kritisch geäußert hatte: "Dicht sein und dicht bleiben ist ein Unterschied". Denn Wasserglas könne auch leicht wieder spröde werden. In sehr heißer Umgebung ist es auch möglich, daß ausgehärtetes Flüssigglas wieder zu schmelzen beginnt. Ob allerdings das zur Kühlung der Brennstäbe eingesetzte Wasser, das am Austreten aus dem Reaktor gehindert werden soll, in dem betreffenden Schacht schon wieder kalt genug ist, daß das Wasserglas aushärten kann, sei dahingestellt.

Ebenso ist die Frage, wie sich die Substanz unter dem Einfluß ionisierender Strahlung verhält, die bekanntlich chemische Eigenschaften von Stoffen verändern kann [siehe auch KOMMENTAR/099: Fukushima - ein Super-GAU wird schöngeredet? (SB)], ein noch völlig unerforschtes Gebiet.

Ein Experte eines Wasserglas-Produzenten zeigt sich dagegen optimistischer. "Wasserglas wird oft als Dichtungsmittel eingesetzt, und obwohl genaue Testergebnisse zu der Verträglichkeit mit radioaktiver Strahlung noch nicht vorliegen, sind die Aussichten definitiv erfolgsversprechend", sagte der Fachmann, der seinen Namen nicht genannt wissen wollte.
(Financial Times Deutschland 6. April 2011, oder siehe auch Webseite: www.ftd.de/wissen/technik/:abgedichtetes-fukushima-leck- das-ist-der-unbekannte-reaktorkleber-wasserglas/60035829.html)

Eine Antwort darauf, womit sich diese Hoffnungen begründen lassen, bleibt er jedoch schuldig. Selbst die Behauptung, die "Gallertmasse würde unter den gegebenen Bedingungen unter Wasser schnell aushärten", ist eine reine Spekulation. Auch darüber läßt sich bei der im AKW vorherrschenden starken Strahlung überhaupt nichts sagen, gehen doch die positiven Erfahrungen, die man mit dem Stoff gesammelt hat und die dann hilfloserweise angeführt werden, hauptsächlich auf die Behandlung von Oberflächen zurück, bei denen sehr dünne Schichten aufgetragen werden.

"Liquid Glas" wird in vielen Bereichen auch als hauchdünne Schutzschicht zur Versiegelung von Oberflächen genutzt. Der deutsche Hersteller nanopool aus dem saarländischen Hülzweiler bietet "Liquid Glas" auch als zusätzlichen "Anstrich" von Hauswänden an. Von so präpariertem Mauerwerk können Graffiti problemlos abgewaschen werden. Flüssigglas aus der Spraydose wird auch als dauerhafter Schutz für Autolack verwendet.

Im Kampf gegen Krankenhauskeime konnte laut nanopool in Kliniken nach Oberflächenbehandlungen mit "Liquid Glas" das Bakterienwachstum um bis zu 50 Prozent verringert werden. Auch als Zusatz für Waschmittel kann es verwendet werden.
(Financial Times Deutschland 6. April 2011, oder siehe auch Webseite: www.ftd.de/wissen/technik/:abgedichtetes-fukushima-leck- das-ist-der-unbekannte-reaktorkleber-wasserglas/60035829.html)

Damit überhaupt etwas von der Dichtungsmasse an den Zielort gelangt und eine Abdichtung irgendwelcher Art geschieht, wurden hier 6.000 Liter (also 6 Kubikmeter) des Stoffes von 52 Arbeitern in einem langen Nachteinsatz an acht Stellen im Bereich des betroffenen Schachts gepumpt, bis keine radioaktive Lösung mehr austrat, was als Erfolg der Mission gewertet wurde (dabei handelt es sich um Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. Das japanische Atomindustrie-Forum JAIF behauptet, es wären nur 1.500 Liter gewesen).

Selbst wenn Wasserglas die Eigenschaft besitzt, unter Wasser auszuhärten, bleibt ein Klumpen von 1.500 und erst recht von 6.000 Litern noch recht lange in einem sol/gelähnlichen Zustand. Ein Gel oder Sol besteht zum größten Teil aus Wasser (unter Normalbedingungen [d.h. ein pH-Wert von 7, Wassertemperatur von 25°Celsius und 120ppm/l] nehmen 10 Liter Wasser nur etwa 1 Gramm festes Wasserglas auf). So ein Gel oder Sol kann aber nach wie vor auch radioaktiv belastetes Wasser aufnehmen bzw. sich zumindest mit diesem in ständigem Austausch befinden. Selbstverständlich kann eine solche wasserhaltige, durchlässige Masse auch Ionen oder Teilchen aufnehmen, die in Wasser löslich sind. D.h. selbst wenn die Dichtungsmasse nicht wieder reißt, wie man es von sprödem Wasserglas kennt, könnte sich der Austritt der Radioaktivität durchaus nur verzögern bzw. radioaktive Substanzen treten einfach nur langsamer aus als bisher. Und auch wenn das Gel wie ein Filter nur reines Wasser aufnehmen oder abgeben sollte, so ist es doch auf jeden Fall für ionisierte Strahlung durchlässig, die wiederum die Struktur des Materials im negativen Sinne verändern kann.

Darüber hinaus wird das vermeintliche Härtungsmittel in den Medien nicht näher definiert. Gewöhnlich härtet das auf Oberflächen aufgetragene Wasserglas an der Luft, weil zum einen das Wasser aus dem Gel verdunstet und zum anderen das Kohlendioxid (CO2) in der Luft mit Wasser zu Kohlensäure (H2CO3) reagiert. Diese Säure bindet die Alkali-Ionen im Wasserglas (z.B. komplexgebundene Na-Ionen, die Wasserglas überhaupt erst wasserlöslich machen) zu Soda (Na2CO3). Es bleiben vernetzte Siliziumsäurekomplexe zurück, aus denen das Wasser verdunstet. Auf diese Weise bleibt genau genommen eine Art Netz aus sodahaltigem Sand. Sollte etwas ähnliches auch im fraglichen Riß geschehen, so müßte eigentlich auch dieses ausgehärtete Wasserglasnetz für Lösungen durchlässig bleiben.

Im Pazifik wurde in der Nähe des AKW radioaktives Jod gemessen, das 4800mal über dem zulässigen Grenzwert lag. Südlich von Fukushima wiesen Medienberichten zufolge Jungfische erhöhte Cäsium-Werte auf. Es kommt jedoch auch darauf an, an welchen Standorten die Radioaktivität gemessen wird. Nahe der Anlage war noch am 2. April bei einer Untersuchung eine Konzentration von Jod-131 gemessen worden, die um das 7,5 Millionenfache über dem gesetzlichen Grenzwert lag. Inzwischen sollen die Werte im Meer schon deutlich zurückgegangen sein. Da aber radioaktiv strahlende Stoffe ebensowenig verschwinden wie Öl, heißt das nur, daß das "Papierhütchen" auf dem Leck den Austritt der Radioaktivität solange verzögert, bis sich die bereits vorhandene weiter im Meer verteilt hat.

Selbst wenn dieser neue "Fugenkleber" den Austritt der Radioaktivität zumindest ein bißchen bremsen konnte, wird durch die Berichterstattung bisher verdrängt, daß es - zumal durch die jüngsten Erdbeben und tektonischen Bewegungen - wohl noch einige weitere Lecks geben dürfte, die bisher nicht gefunden wurden. Und dazu einfach viel zu viel belastetes Wasser. Denn um auch nur den Status quo zu erhalten, müssen die Brennstäbe in den Reaktorruinen noch monatelang gekühlt werden. Exaktere Angaben dazu gibt es nicht.

13. April 2011