Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

KOMMENTAR/103: Fukushima - Sand gefüllte "Teebeutel" gegen Radioaktivität (SB)


Was Corexit für Bohrinseln ...

...ist für havarierte Atomkraftwerke Zeolith?


Zwei Monate nach Beginn des nuklearen Super-GAUs hat sich die Situation im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi nicht nennenswert unter Kontrolle bringen lassen, auch wenn es in den Medienberichten stiller geworden ist. Seit Erdbeben und Tsunami in mehreren Meilern die Stromversorgung unterbrachen, unkontrollierte Kernschmelzen einsetzten und nach einer Reihe von Knallgasexplosionen mit einer ersten Druckentlastung das Entweichen von radioaktivem Material über Luft und Wasser immer weiter zugelassen wird, kämpfen die Spezialisten vor Ort immer noch darum, die Kühlung in den Reaktor-Ruinen wieder in Gang zu setzen bzw. überhaupt einen Zugang zum Reaktor 1 wie anderen radioaktiv kontaminierten Bereichen zu bekommen.

Solange die reguläre Kühlung nicht zuverlässig arbeitet, könne sich auch wieder neuer Wasserstoff bilden und nachfolgende Explosionen die Gesamtlage zunehmend verschlimmern. Darüber hinaus sammelt sich durch die fortgesetzte Notkühlung unentwegt weiter stark verstrahltes Wasser im Reaktor an. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß Millionen Liter dieses Wassers mangels besserer Möglichkeiten - wie bereits geschehen - ins Meer entsorgt werden müssen, in dem die radioaktive Strahlung laut jüngsten Messungen ohnehin immer weiter steigt. Die Werte für radioaktives Jod im Wasser waren beispielsweise bereits rund 5800 höher als der nationale Grenzwert. Vergleicht man diese Angabe mit dem "Rekordwert", der Ende März von der Nachrichtenagentur Kyodo bekannt gegeben wurde: Im Meerwasser nahe des AKW seien Jod-Partikel mit einer 4385-fach höheren Konzentration als erlaubt gemessen worden, tags zuvor wurde noch eine 3355-fach höhere Konzentration von Jod-131 gemessen", dann sagt das zwar immer noch wenig über die akute Gefährdung aus, macht jedoch eine nach wie vor steigende Tendenz deutlich.

Wie war das vor einem Jahr bei der Ölkatastrophe durch die verunglückte Bohrplattform Deepwater Horizon und der anschließenden Kontamination des Meeres mit einer bis dahin unvorstellbar großen Menge von fast 800 Millionen Litern Öl doch einfach gewesen: Eine reichlich bemessene Menge (etwa 7 Millionen Liter) eines speziellen Dispersionsmittels (Corexit) ließ einfach das gesamte Öl von der Bildfläche verschwinden oder vielmehr nie darauf erscheinen, weil es u.a. direkt vor das havarierte Austrittsloch gepumpt wurde und das Öl, ehe es unangenehm auffiel, in winzigen Tröpfchen großflächig verteilte. Zwar wurden auch kritische Stimmen laut, man würde Teufel mit Beelzebub austreiben, Corexit ist schließlich eine bekannte toxische Substanz und das Öl wird dadurch nicht aus dem Meer geschafft, sondern sticht nur nicht mehr so unmittelbar ins Auge. Doch wenige kümmert das noch: Was "weg ist, ist weg" oder "aus den Augen, aus dem Sinn"! Mit den Folgen der Umweltvergiftung wird man noch Jahrzehnte zu tun haben, was die Erdölunternehmen nicht daran hindert, weiter unter dem Meer nach Öl zu bohren, schließlich muß man nur immer ausreichend Zaubermittel bei der Hand haben, falls mal was daneben "pütschert"...

Die Betreiber der Atomkraftanlagen von Fukushima scheinen nun - etwas verspätet allerdings - doch noch auf ein ähnlich medienwirksames Mittel gestoßen zu sein, Radioaktivität wegzuzaubern. Bisher ließen Arbeiter zehn je 100 Kilogramm schwere und 80 Zentimeter hohe Säcke dieses Mittels nahe der Ansaugrohre für den Reaktor 1 im Meer schwimmen. Damit soll bereits ins Meer geflossenes radioaktives Material absorbiert werden. Tepco will zunächst einmal messen, wie gut sich diese überdimensionalen "Teebeutel" bewähren, ehe sie weitere Säcke zum "Radioaktivitätabsaugen" einsetzen.

Fraglich allerdings ist, ob diese Maßnahme der Augenwischerei so dienlich ist wie Corexit, kann man doch Radioaktivität ohnehin nicht sehen. Man muß also auch einfach daran glauben, daß es so etwas wie chemische Staubsauger für Strahlung gibt...

Der magische Stoff, der Radioaktivität angeblich verschwinden lassen kann wie Corexit das Erdöl, heißt "Zeolith" und ist eigentlich nichts anderes als hochporöser, ausgesprochen saugfähiger Sand (chemisch: Natriumaluminiumsilicat), der im Verlauf der Geschichte seiner technischen Nutzung schon häufiger als Retter in der Not in Erscheinung treten durfte. Daher hat Zeolith gemeinhin einen äußerst umweltverträglichen Ruf, zumal das Mineral in der Natur häufig vorkommt und früher als Diatomeenerde, Kieselgur, Kieselgel in der Lüneburger Heide und verschiedenen anderen Gegenden, in denen sich die filigranen Skelette von Kieselalgen aus dem Pleistozän als Sediment- und Fossilschichten im großen Umfang abgelagert hatten, zu Nutzungszwecken abgebaut wurde. Was aus der Natur kommt, wird wohl auch nicht weiter stören, wenn es in der Natur entsorgt wird, ist die allgemeine Auffassung. Seine vielfachen Anwendungsbereiche wie auch seine unterschiedliche "Last" nach der Verwendung stellen die ursprüngliche Umweltfreundlichkeit allerdings immer wieder in Frage:

Eine der ersten industriellen Anwendungsgebiete war die von Alfred Nobel entdeckte enorme Aufnahmekapazität für Nitroglycerin, mit welcher der Sprengstoff Dynamit überhaupt erst transportfähig und handhabbar wurde. Inzwischen sind Zeolithe aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken und werden für industrielle Zwecke mit nicht zu unterschätzendem Aufwand an Ressourcen (Wasser und Energie) auch schon in großen Mengen synthetisch hergestellt.

Eines der entscheidenden Merkmale von Zeolithen ist die kristalline, mikroporöse Silicatstruktur, die eine große Oberfläche gewährleistet: Zumindest der synthetisch gefertigte Kristall hat käfig- bzw. wabenartige Hohlräume und Kanäle. Darin befindliche Atome tauschen sich mit "Gastmolekülen oder -atomen" aus, wenn sie in eine Lösung mit anderen Stoffen kommen. Daher sind Zeolithe vor allem als Ionenaustauscher, Molekularsiebe und Katalysatoren gefragt und somit als mehr oder weniger saugfähige Abfälle auch zunehmend in der Umwelt verteilt.

Ein Beispiel dafür ist die Anwendung in Waschmitteln. Jährlich kommen weltweit eine Million Tonnen des Minerals in Seifenpulvern zum Einsatz. Die Zeolithe haben den Zweck, das Wasser weich zu machen: Zeolith bindet beispielsweise unerwünschtes, im Wasser gelöstes Calcium, dafür entweicht das in den Hohlräumen vorhandene Natrium aus dem Kristall. Durch diese Funktion als "Wasserenthärter", mit der die für Überdüngung und Eutrophierung von Gewässern verantwortlichen "Phosphate" abgelöst wurden, erhielt Zeolith seinen Ruf als "Umweltretter". Inwieweit die überhaupt nicht abbaubaren sandähnlichen, teilweise glasscharfen Ablagerungen in zunehmenden Mengen, in denen sie durch Waschmittel zum Einsatz gelangen, in Flußläufen und Gewässern die Ökosysteme im Sediment verändern können, welche Stoffe sich sonst noch in dem saugfähigen Mineral festsetzen und so dem Ökosystem entzogen oder auf diese Weise auch zugefügt werden, läßt sich nicht wirklich abschätzen. Zeolithe fein verteilt sind jedoch fraglos auch ein vehementer Eingriff in die Natur. Im Vergleich zu den Alternativen scheinen sie bisher nur das geringere Übel zu sein.

Eine weitere technische Nutzung des Zeolith beweist im Grunde, daß sich der Stoff nicht einmal, wie teilweise behauptet, "chemisch inert" verhält. Ohne Zeolithe, die in der Erdölchemie als wichtige Katalysatoren gelten, gäbe es kein hochoktaniges Benzin, denn erst durch diese Mineralien wird aus Erdöl besonders leistungsfähiger "veredelter" Treibstoff. Bei der alternativen Kohleverflüssigung wird ebenfalls Zeolith als Katalysator eingesetzt: das aus Holz und Kohle gewonnene Methanol soll in die Zeolithporen hineindiffundieren und dort durch einen noch nicht vollständig geklärten Reaktionsmechanismus zu Benzin reduziert werden. Auch als katalytische Filtersubstanz in Zigaretten war Zeolith schon im Gespräch. Es sollte die krebserregenden Bestandteile, die bei den Kokelprozessen im Tabak entstehen, binden und in unschädliche Stoffe umwandeln, konnte sich jedoch aus gutem Grund nicht durchsetzen.

Denn es wurden zwar einige schädliche Teerbestandteile sowie das hochreaktive Acrolein, Blausäure und Kohlenmonoxid im Zeolith zurückgehalten. Doch bei etwa 30 Prozent der krebserregenden Stoffe funktioniert es gar nicht. Benzpyren und Dibenzanthracen, die bisher in erster Linie als Auslöser von Lungenkrebs oder Tumoren in Kehlkopf, Mundhöhle und Speiseröhre identifiziert werden konnten, sind zu groß, um von den feinen Kanälchen erfaßt zu werden. Darüber hinaus konnten am "Katalysator" Zeolith überhaupt erst manche neue unerwünschte - auch krebserregende - Stoffe entstehen. Ein Katalysator der möglicherweise weitere Schadstoffe konzentriert, stand mit dem gleichzeitig Geschmacksstoff gedämpften, verminderten Genuß natürlich in keinem Verhältnis...

Das ist jedoch nicht ihr einziges Einsatzgebiet: Zeolithe sind je nach ihrer mikrokristallinen Beschaffenheit als Trockenmittel im Verbundglas, in der Kühlschrankisolierung und auch als Schleifmittel in Zahnpasta aufzufinden. D.h. seine Verbreitung in Natur und Umwelt nimmt ubiquitär zu.

Und noch eins: Die austrocknenden Eigenschaften, d.h. seine Fähigkeit, Feuchtigkeit bis zum Fünffachen der eigenen Masse hinaus an Flüssigkeiten und Fetten aufzunehmen, machen Zeolith in bestimmten Zusammenhängen sogar zu einer tödlichen Substanz. Werden Insekten damit bestäubt, verlieren sie ihre Lipidschicht, die sie vor Wasserverlust schützt. Sie mumifizieren bei lebendigem Leibe. Der scharfe glasähnliche Quarzstaub schädigt zudem die feinen Häute zwischen den Segmenten ihrer Chitinpanzer. Möglicherweise verletzt er die Mundwerkzeuge und den Magen-Darm-Trakt und verstopft die Tracheen, die Atmungsorgane. Dies alles wurde nur unter dem Aspekt, Zeolith als biologisches Schädlingsbekämpfungsmittel einzusetzen, so genau studiert. Doch der qualvolle Tod der Schädlinge, der zugunsten einer biologischen Rückstandsfreiheit in Kauf genommen wird, könnte auch als ein Hinweis auf die möglichen toxikologischen und ökologischen Auswirkungen (z.B. auf kleine überlebende Organismen im Pazifik) des nun als "nuklearen Entsorgungsmittels" ins Gespräch gebrachten Stoffs verstanden werden.

Denn schließlich - und das ist wohl ihr bisher letzter Anwendungsbereich -, sollen Zeolithe zur Aufnahme von Schadstoffen bestens geeignet sein, sowohl zur Klärung verunreinigter Gewässer, sondern eben auch - wie jetzt in Fukushima - um nach einem Reaktorunfall radioaktive Isotope zu entsorgen.

Eben das macht Zeolith wie seinerzeit Corexit zu nichts anderem als einem "Beruhigungsmittel gegen potentielle Panikattacken der Öffentlichkeit" mit vermutlich wenig tatsächlichem "Reinigungswert" für die radioaktiv verseuchte See. Denn es wird eben nicht "Radioaktivität" abgesaugt, sondern es werden nur geladene radioaktive Teilchen aufgenommen, die sich gegen unkontaminierte Ionen austauschen lassen. Hier kommen im wesentlichen positiv geladene Cäsium- und Strontium-Ionen in Frage, schon bei radioaktivem Jod (das Zeolith angeblich auch absorbieren soll) versagt zumindest das Kationenaustauschprinzip. Was nicht heißt, daß nicht auch Jodteilchen gemeinsam mit dem Wasser im Zeolith verbleiben können, denn in kristallinen schwämmchenartigen Strukturen lassen sich auch andere Absorbtionsmechanismen denken. 2001 sollen Forscher von der Universität Bern erstmals den Nachweis erbracht haben, daß Zeolith-Kristalle das radioaktive Isotop Jod-129 im Inneren ihrer Struktur binden können.

Wobei allerdings über die tatsächliche Speicherkapazität unterschiedliche Werte kursieren. Neben der bereits erwähnten Angabe, das 5fache des eigenen Gewichts aufnehmen zu können, ist an anderer Stelle auch nur von 40 Prozent des Trockengewichtes an Wasser die Rede, welche das Zeolith speichern und beim Erhitzen wieder abgeben kann.

Daß also ein paar "Teebeutel" mit Zeolith relevante Mengen an radioaktivem Material "aufsaugen" können, ist ohnehin schwer vorstellbar, selbst wenn es vom Prinzip her funktionieren sollte und vor allem radioaktive Substanzen im "Filter" hängen bleiben. Ähnlich wie bei einem Schwamm sollte die Saugekapazität nämlich irgendwann mit der Aufnahme allein der im Idealfall fünffachen Wassermenge erschöpft sein, so daß die schwimmenden Säcke kein weiteres Wasser aktiv aufnehmen können, sondern bestenfalls - wenn überhaupt - ein sehr viel langsam ablaufender Austausch stattfinden wird.

Und schließlich sind die radioaktiven Nukleotide durch die Bindung in einem Schwämmchen ja nicht selbst deaktiviert. Auch in gebundenem Zustand können sie zerfallen und ihre Strahlung freisetzen. Falls überhaupt eine schwache Filterwirkung durch die Teebeutelmethode erreicht werden kann, wird damit das Entsorgungsproblem nicht aus der Welt geschaffen, denn die hochradioaktiven Zeolithsäcke müssen aus dem Meer gefischt und letztlich endgelagert werden.

Realistischer beurteilt die Internationale Atombehörde (IAEA) in Wien die Lage in Fukushima als "weiterhin sehr ernst".

Der deutsche Reaktorexperte Lothar Hahn sagte der FR: "Wir sind leider weit davon entfernt, sagen zu können, Tepco hat die Anlagen im Griff."
(Frankfurter Rundschau, 9. Mai 2011, URL: http://www.fr- online.de/-/8118568/8422600/-/)

Erst vor kurzem stieg die Temperatur im Innern des Druckbehälters des dritten der vier beschädigten Reaktoren deutlich an, was für eine Fortsetzung der unkontrollierten Kernprozesse im Innern spricht, auch wenn es gemeinhin mit dem Begriff "Nachzerfallswärme" heruntergespielt wird. Gelingt es nicht, die Temperatur wieder zu senken (indem noch mehr Wasser von außen in den Reaktor gepumpt wird) drohen die zerstörten Reaktorkerne weiter zu schmelzen.

Während Tepco hofft [siehe auch KOMMENTAR/102:], die Reaktoren binnen von drei Monaten wieder zuverlässig kühlen zu können und Anfang 2012 wieder "alles im Griff" zu haben, sprechen Reaktorexperten wie Lothar Hahn, der bis 2010 Chef der Kölner Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) war, von Jahren, die es dauern könne, bis die Atomruine dekontaminiert und sicher eingeschlossen ist - etwa durch einen Sarkophag ähnlich wie in Tschernobyl.

Bis dahin muß noch viel kontaminiertes Kühlwasser ins Meer fließen... Sollte es tatsächlich ein erschwingliches "Zaubermittel", d.h. eine Dekontaminationsmethode geben, mit der sich die Kontaminierung ohne weitere Folgen für Mensch und Umwelt wieder rückgängig machen ließe, dann fragt man sich doch, warum sie nicht längst Vorschrift ist oder unter wesentlich kontrollierbaren Verhältnissen angewendet wird, ehe man beispielsweise radioaktiv verseuchtes Kühlwasser ins Meer entläßt. Man denke an die Millionen Liter vermeintlich nur leicht verstrahlten Wassers, das vor wenigen Wochen von Tepco verklappt wurde und seither die Radiaktivität des Pazifiks erhöht.

Kurzum: Einen Radioaktivitätsabsauger gibt es nicht. Nur ein Mittel, mit dem sich die Gedanken vieler Betroffener vielleicht einen Moment absorbieren und von dem eigentlichen Wahnsinn ablenken lassen. In diesem Sinne: Was weg ist - ist noch lange nicht weg!

12. Mai 2011