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RATGEBER/268: Kohlehydrate - BE-Werte verändern sich durch die Garzeit (SB)


Die Lüge von den Ballaststoffen

Für Diabetikerdiät nicht zu berechnen


Ein besonders hartnäckiger Wahn betrifft die gemeinhin so beliebten Ballaststoffe. So wird bis heute von Naturkostherstellern das Gerücht verbreitet, Naturreis (also ungeschälter, unbehandelter Reis) sei die bessere Wahl gegenüber weißem Reis. Ungeschälter Reis gilt als gehaltvollere Ballaststoffquelle und somit als äußerst wohltuend, wobei gehaltvoll eigentlich kein passendes Attribut für Ballaststoffe ist. Letztere, also die früher meist verworfenen, unverdaulichen Bestandteile pflanzlicher Nahrungsmittel (z.B. Fasern, Gerüstsubstanz, Schalen, Zellwände, Pektin) werden dem Verbraucher schon seit Jahren als besonders "gesundheitsfördernd" verkauft, obwohl sie für den menschlichen Organismus nicht zu verwerten sind. Sie sollen aber die Kautätigkeit anregen und den Eindruck vermitteln, eine größere Nahrungsmenge aufgenommen zu haben, ohne unerwünschte Kalorien zu liefern. Darüber hinaus reizen sie den Darm und fördern so den Nahrungstransport und die Verdauung.

Angeblich nur deshalb, weil etwa jeder 3. erwachsene Bundesbürger unter Verdauungsstörungen wie Darmträgheit leidet, die durch abführende Medikamente nur noch weiter gefördert werden, propagieren die Gesundheitsämter dafür, die Ballaststoffe in der Nahrung auf das Doppelte (mindestens 30 g pro Tag) zu steigern (und damit gleichzeitig den Nährgehalt zu senken) und besonders ballaststoffreiche Lebensmittel wie ungeschältes Getreide, Vollkornbrot, Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Gemüse (möglichst roh), Obst, Trockenfrüchte, Müsli, Nüsse, Leinsamen oder gar reine Weizenkleie (nur die Schalen des Weizenkorns) zu essen. Die Darmträgheit läßt sich allerdings auch nur durch eine Daueranwendung dieser "Reiztherapie" lindern. Sobald man auf Ballaststoffe verzichtet, entspannt sich der Darm - ähnlich wie bei der Medikamententherapie - um so mehr.

Daß mit dieser Nahrungsumstellung offensichtlich ein ganz anderer Zweck, nämlich eine Gewöhnung an nährstoffarme Nahrung, verfolgt wird, läßt sich aus dem folgenden Sachverhalt ableiten. Zumindest unter Ernährungsexperten ist nämlich schon seit einigen Jahren bekannt, daß beim Kochen mit geschältem Getreide, also vermeintlich ballaststoffarmen Kohlenhydraten, etwas ausgesprochen Merkwürdiges vor sich geht:

Der Gehalt an Ballaststoffen nimmt dabei zulasten der verdaulichen Kohlehydrate zu. Verglichen werden konnte das bei ungeschältem und geschältem Reis. Dasselbe gilt aber auch für Backwaren u.a. Produkte, die aus dem gemeinhin als ungesund verpönten Auszugsmehl hergestellt werden. Beim Schälen von Reis oder Getreide werden mit der äußeren Hülle diejenigen Pflanzenfasern entfernt, die die "klassischen" Ballaststoffe ausmachen. Doch dieser Effekt wird zumindest teilweise dadurch kompensiert, daß sich die nun freigelegte Stärke beim Erhitzen in unverdauliche Stärke umwandelt und dann ebenso wie alle anderen Ballaststoffe unverändert den Verdauungstrakt passiert. Die unverdauliche Stärke widersteht also dem Angriff der Enzyme in Magen und Darm, sie kann nicht in ihre Bausteine (Einfachzucker) zerlegt und vom Blutkreislauf aufgenommen werden. Die Ernährungswissenschaftler haben dafür den Begriff "versteckte" Ballaststoffe geprägt.

Tatsächlich wurde die unverdauliche Stärke schon 1982 von Lebensmittelchemikern der Universität Cambridge entdeckt. Mittlerweile weist man sie in sehr vielen gegarten Nahrungsmitteln nach, u.a. in Kartoffeln, Nudeln, Erbsen, Bohnen und insbesondere Reis. Die Wissenschaftler sind überzeugt, daß man sie in eine Reihe mit den klassischen Ballaststoffen stellen kann. In punkto Unverdaulichkeit scheinen sie diesen sogar noch überlegen zu sein. Eine Portion Risi- Bisi (geschälter Reis mit Erbsen) zum Mittagessen ist somit überraschenderweise genauso gesund oder inhaltsleer, wie die gemeinhin propagierte Portion Müsli zum Frühstück, die gut ein Drittel des Tagesbedarfs an Ballaststoffen liefern soll, nur daß hier wertvoller Nährwert zuvor in Unverwertbares umgewandelt werden muß.

Der einfache chemische Vorgang, die Bildung unverdaulicher aus verdaulicher Stärke, erklärt einige bemerkenswerte Befunde. Beispielsweise enthält eine Portion billiger Cornflakes etwa ein halbes Gramm Ballaststoffe, eine gleich große Portion der bekanntesten Marke hingegen gut doppelt soviel, obwohl für beide Produkte dasselbe Ausgangsmaterial (Maismehl) verwendet wird. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Markencornflakes nach der traditionellen Methode bei höherer Temperatur hergestellt werden. Ein weiteres, lange ungeklärtes Geheimnis war, warum beispielsweise Kartoffeln viel ihres Nährwertes verlieren, wenn sie aufgewärmt werden, Möhren dagegen nicht. Auch hier spielt die Bildung von unverdaulicher Stärke eine zentrale Rolle.

Damit unverdauliche Stärke entsteht, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: erstens muß das betreffende Lebensmittel hinreichend viel normale Stärke enthalten, zweitens sollte es über längere Zeit auf hohe Temperaturen erwärmt werden, und drittens ist die Anwesenheit von Feuchtigkeit unabdingbar. Wenn alle drei Bedingungen erfüllt sind, können sich die Moleküle der normalen Stärke miteinander verbinden, und das dabei entstehende Produkt (ein großes Molekül) kann von unseren Verdauungsenzymen nicht mehr angegriffen werden.

Die Bildung von unverdaulicher Stärke ist nicht reversibel: erneutes Erhitzen führt lediglich dazu, daß noch mehr davon gebildet wird.

Bisher wurde die unverdauliche Stärke in den offiziellen Ballaststofftabellen ignoriert. Die darin enthaltenen Angaben sind daher generell etwas zu niedrig. Interessanterweise müßte der veröffentlichte Ballaststoffanteil in korrigierten Tabellen nicht gleichmäßig ansteigen, denn gerade jene Nahrungsmittel die bisher von Ernährungswissenschaftlern als ungesund propagiert wurden, müßten darin den steilsten Sprung nach oben machen.

In einer Ernährungstabelle von 1994 heißt es beispielsweise:


Reis 50 g, 1 Port.
Reis, Naturreis, Vollkornreis 50 g
Reisstärke 50g
KH 39g
37g
42.5g
BE 3,5
3,0
4,7
Ba 1g
2g
+

Da jedoch nach den beschriebenen Erkenntnissen und neuesten Werten das angegebene Gramm Ba (Ballaststoffe) allein schon zu 78% aus umgewandelter Reisstärke besteht, müßte der Wert sowohl für KH (Kohlenhydraten), als auch für BE (Broteinheiten 12 KH = 1 BE) korrigiert werden. Die Angaben sind somit wertlos.

BE-Berechnung unberechenbar

Durch diese Eigenschaft der Kohlehydrate werden jedoch Berechnungen, wieviel Stärke und wieviel verdauliche Brennwerte ein Nahrungsmittel damit enthält, sehr erschwert, da sie durch Schwankungen in den Koch- und Garzeiten sowie durch unterschiedliche Temperaturen praktisch nicht mehr abschätzbar werden. Bei Diabetikern kann das, wie die Zahlen zeigen, bei einer Portion Reis durchaus Schwankungen von 0,5 bis 1 BE ausmachen, bei mehrfach aufgewärmtem Essen sogar mehr.

Daß Ernährungswissenschaftler diese Erkenntnisse jedoch nicht lautstark veröffentlichen wie andere wichtige Entdeckungen, läßt sich durchaus im Zusammenhang mit der Welternährungslage sehen. Angesichts der um sich greifenden Nahrungsmittelverknappung ist es offenbar von größtem Interesse, daß der Verbraucher seine Nahrung möglichst vollwertig, d.h. ungekocht zu sich nimmt, weshalb man ihm nach wie vor zu Rohkost und Müsli rät. Was die Kartoffeln und Garprodukte betrifft, so wird er seit einiger Zeit mit einer künstlich geschürten Angst vor Acrylamid [siehe KOMMENTAR/078: Acrylamid - die Frucht aus ausgelaugten Böden (SB)] darauf gedrillt, seine Mahlzeiten mit möglichst geringen Temperaturen zuzubereiten, auf daß man sie noch stärker mit nährwertlosen, künstlichen Füllstoffen strecken kann, um letztlich auf den gleichen Kohlenhydratanteil zu kommen.

Erstveröffentlichung 2003
Neue, aktualisierte Fassung

18. Dezember 2008