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RATGEBER/332: Statistische Beliebigkeiten - Grüner Tee auf dem Prüfstand (SB)




"Vier Tassen Kaffee täglich können vor Darmkrebs schützen", "Grüner Tee verlängert das Leben" ...

Tee- und Kaffeeproduzenten scheinen sich wechselweise mit eigens gesponserten Studien einen unentwegten, medialen Schlagabtausch mit der jeweiligen Konkurrenz zu liefern. Der Leser solcher Meldungen sollte es sich ruhig bei einer dampfenden Tasse Tee oder Kaffee gemütlich machen und dreimal raten, wer das aktuellste Gerücht in Umlauf gebracht hat. Dann wäre dem Ganzen doch zumindest ein gewisser Unterhaltungswert abzugewinnen. Auf keinen Fall sollte er sich aufgrund der darin enthaltenen Versprechungen oder im anderen Fall aufgrund der damit verbundenen Risikomeldung in der Wahl seines bevorzugten Getränkes manipulieren lassen.

So fanden sich beispielsweise in den Veröffentlichungen der letzten Jahre, kaffeekonsumfördernde Rechtfertigungen dafür, daß einige Tassen starken Kaffees, über den Tag verteilt genossen, gesund sind. Schon vergessen? Sie helfen bei der Vorbeugung der Parkinson-Erkrankung aber auch von Darmkrebs, schützen Zähne vor Karies verursachenden Streptokokken und steigern das Konzentrationsvermögen, um nur einige Vorzüge des beliebten "Museltranks" zu nennen. Kein Wunder, daß eine solche Massierung werbewirksamer Attribute den Neid der Heißgetränk-Konkurrenten auf den Plan ruft, um offensichtlich ihrerseits Forschungsprojekte zu unterstützen. Denn kurz danach finden sich diffamierende, studiengestützte Indizien - zum Beispiel dafür, daß das finstere Gebräu bei Frauen im Kaffeekränzchenalter die Kalziumresorption behindert und so das Risiko für Osteoporose steigern könnte -, die es offenbar nur darauf anlegen, den Damen dieser Zielgruppe die Feierstunden des Alltags zu vermiesen, oder ihnen nahelegen, zum Teekonsum zu konvertieren, der eben dieses Leiden (Osteoporose) vermeintlich so viel positiver beeinflußt.

Allen gemeinsam ist, daß sich diese Gerüchte statistischen Ursprungs nie lange halten und schnell dem Vergessen anheimfallen. So konnte eine der jüngeren Pro-Kaffeekonsum-Studien der Universität Uppsala den angeknacksten Gesundheitsanspruch des Bohnensafts unlängst vollständig rehabilitieren: Das Risiko für Frakturen erhöht sich nicht, selbst wenn Kaffee in rauen Mengen genossen wird [1]. Was bleibt, ist die immer wieder mit neuen Fakten aufgefrischte Erinnerung, daß Kaffee besser ist als sein Ruf. Aber auch Zweifel bleiben diffus zurück: "C-A-F-F-E-E, trink nicht so viel Kahaffee".

An diesen Nebenschauplatz wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, auf dem die akademischen Handlanger der Industrie mit ihren Eintags-Studien Punkte für die jeweiligen industriellen Förderer sammeln, erinnert auch die kürzlich in Umlauf gebrachte Warnung vor unerwünschten Effekten beim Genuß von grünem Tee, nachdem auch die scheinbar besorgte Fachpresse (Pharmazeutische Zeitung, Ärzteblatt, Ärzte Zeitung oder Online Magazine wie DocCheck.com) jahrelang das Loblied seiner antioxidativ wirkenden Inhaltstoffe besungen hatte. Mit letzteren bringen entsprechende Studien die hohe Lebenserwartung mancher Bevölkerungsgruppen, die das aromatische Getränk bevorzugen, in Verbindung. [2]

Danach steht der sekundäre Pflanzeninhaltsstoff Epigallocatechingallat, der auch immer wieder vorrangig im Zusammenhang mit gesundheitsfördernden Effekten diskutiert wird, nun in Verdacht, die Wirksamkeit bestimmter Arzneistoffe herabzusetzen.

Wie japanische Forscher in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern vom Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie und Klinische Toxikologie der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) in der Fachzeitschrift "Clinical Pharmacology & Therapeutics" [3] berichteten, benutzten sie den in Deutschland noch nicht zugelassenen Betablocker Nadolol, der zur Behandlung von Bluthochdruck, Angina pectoris und Migräne geeignet ist, als Leitsubstanz in einer Studie, in der offensichtlich bereits von vornherein der Einfluß von grünem Tee auf die Bioverfügbarkeit überprüft werden sollte.

Zehn gesunde Testpersonen bekamen zwei Wochen lang abgesehen von Wasser täglich 700 Milliliter grünen Tee (etwa 4 Tassen) zu trinken. Nach einmaliger Gabe einer Tablette Nadolol verringerte sich, wie wohl erwartet, die Bioverfügbarkeit und Plasmakonzentration. Überraschend war jedoch die Höhe der Wirkungsminderung von 79 bis 85 Prozent (da weichen die einzelnen Fachjournale etwas voneinander ab) bei gleichbleibender "Clearance" (Ausscheidung durch die Niere).

Dr. Fabian Müller, Arzt am Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie und Klinische Toxikologie der FAU und an der Studie beteiligt, wurde hierzu in einer Meldung der FAU zitiert, man könne nicht ausschließen, daß grüner Tee auch die Aufnahme anderer Medikamente hemmen könnte, womit er unausgesprochen die durch die Studie nahegelegte Korrelation schon als gegeben ansieht. Dies müsse in weiteren Studien untersucht werden [4]. Sollten also Patienten, die dauerhaft Medikamente nehmen, nur noch Wasser trinken?


Don't Panic!

Abgesehen davon, daß sie möglicherweise die Finanzierung von Folgeprojekten rechtfertigt, läßt sich die Aufregung über Studienergebnisse bei näherer Betrachtung kaum erklären. Das erinnert an die vielen kleinen Schaumblasen, die bei der traditionellen japanischen Zubereitung des Gebräus entstehen und bereits beim ersten Schluck schon wieder verschwunden sind.

Zum einen steht die Studie keinesfalls im Rang einer relevanten klinischen Prüfung von Wirkstoffen, da hierfür die notwendige Kontrollgruppe fehlt und die kleine Anzahl der Probanden nicht repräsentativ genug für eine statistische Aussage ist. Im umgekehrten Fall wären bei Arzneimittelprüfungen für einen signifikanten Wirkstoffnachweis, und dazu müßte man eigentlich auch die antagonistische Wirkung von Tee-Inhaltstoffen zählen, eine Probandengruppe von mindestens 200 bis 10.000 Teilnehmern erforderlich, die über Monate oder auch Jahre überprüft werden. Statistisch gesehen, und da der Mensch unter sogenannten "failable conditions" (freilebenden Bedingungen) ohnehin ein schwer in vergleichbare Labormaßstäbe zu pressendes Individuum ist, sind die mit der Studie erhaltenen Werte weit weniger als ein Hinweis.

Auch die dabei vermutete Rolle der sogenannten Katechine des grünen Tees kann keinesfalls als gesichert gelten. Zwar machen die FAU-Forscher geltend, daß Katechine wie Epigallocatechingallat und Epicatechingallat im Laborversuch Transporter blockieren, möglicherweise auch ein Organo-Anion-Transport Protein der Darmschleimhaut (OATP) 1A2, das der Wissenschaft bereits als eines von vielen "Arzneitransportunternehmen" bekannt ist und das zufällig auch von Nadolol bevorzugt wird. Wenn durch den Teekonsum sämtliche Fahrplätze mit grünen Teekatechinen belegt sind, könnte das die Aufnahme von Nadolol aus dem Darm senken und die geringere Bioverfügbarkeit erklären, folgern die Forscher. Dazu müßte es im Darm aber genau so abgehen, wie sie sich das vorstellen. Die biochemischen In-Vitro-Untersuchungen wurden jedoch mit Nierenzellen durchgeführt. Die Untersuchungen an Darmzellen stehen noch aus, heißt es.

Da fragt man sich, ob der durch Tee erzeugte Arzneistoff-Stau nicht sogar die gegenteilige Wirkung (also ein vermehrter Verbleib des Wirkstoffs im Körper und eine erhöhte Bioverfügbarkeit) zur Folge haben müßte. Die gleichbleibende "Clearance", beziehungsweise die ungehinderte Ausscheidung über die Niere, läßt jedoch eher die Vermutung zu, daß die Blockade der Nierenzellen keinen verzögerten Transport bedeutet.

Auf noch unsicheren Füßen steht darüber hinaus die Vermutung, daß die Grüntee-Experimente mit einem Arzneimittel, das hierzulande niemand verwendet, dennoch Rückschlüsse auf eine mögliche Wechselwirkung mit anderen Medikamenten nahelegen.

Aus früheren Studien wisse man, daß auch Apfel-, Grapefruit- oder Orangensaftgetränke manche OATPs ebenfalls blockieren und damit die Bioverfügbarkeit von gleichzeitig eingenommenen Arzneistoffen reduzieren, die über diese Proteintaxis aufgenommen werden. Zu den OATP-Substraten (den passenden Passagieren der Transportunternehmen) gehören das Antihistaminikum Fexofenadin, der Betablocker Talinolol, das Zytostatikum Etoposid und der Renininhibitor Aliskiren. Ob die Fruchtsäfte allerdings den gleichen Transporter blockieren, der auch von grünem Tee bevorzugt wird, bleibt dahingestellt, denn von den OATPs gibt es acht verschiedene Gruppen für unterschiedliche Gewebe und zumindest einen weiteren (OATP) 2B1 im Darm, an den das Nadolol nicht andockt.

Mit diesen Überlegungen sollen nicht die Bemühungen der Wissenschaft geschmälert werden, die biologischen Transportsysteme zu erforschen. Nur sollten die dabei aufkommenden Spekulationen und Arbeitshypothesen vielleicht noch nicht dazu benutzt werden, die Lebensgewohnheiten von Menschen umzukrempeln.

Sie zeigen bestenfalls, daß man die Lebensgewohnheiten von Patienten bei der Einstellung auf Langzeitmedikamente mit einbeziehen und gegebenenfalls dem Transportsystemen Zeit lassen sollte, sich auf den erweiterten Transportumfang einzustellen. Dies wie auch die weitere Betreuung chronischer Arzneimittelkonsumenten widerspricht jedoch dem derzeitigen gesundheitspolitischen Trend der Kostenminimierung. Und das ist der eigentliche Grund, warum mehr oder weniger "genormtes" Wasser zur Tabletteneinnahme empfohlen wird.

Auch die Frage nach dem "natürlichen Passagier", der normalerweise mit anionischen Transportproteinen die Darmwand durchqueren soll, wurde hier bisher noch nicht gestellt. Denn das Antihypertensivum ist für den gesunden Organismus ein beeinträchtigender Schad- oder auch Giftstoff. Warum sollte er dafür "OATP-Taxen" bauen?


Keine Wirkung ohne Nebenwirkung und vice versa

Sollte es sich bei den OATPs allerdings tatsächlich um unspezifische Transporter handeln, muß man sich fragen, was außer dem besagten Arzneistoff, den hierzulande ohnehin keiner nimmt, noch alles damit in den Körper gelangen könnte. Oder anders gefragt, könnte nicht die "Sitzblockade" des grünen Tees in besagten Transportsystemen geradezu als eine weitere gesundheitsfördernde, lebensverlängernde Wirkung des grünen Tees aufgefaßt werden, nämlich den Eintritt unerwünschter Schadstoffe in das Körpersystem zu unterbinden?

Gerade unser Leitungswasser, das bei Verzicht auf grünen Tee, Fruchtsäften und was noch, möglicherweise die einzige Alternative zum Herunterspülen von Tabletten bleibt, ist immer wieder Gegenstand unerfreulicher Qualitätsminderungen und entsprechender Ekelattacken. Unterhalb und manchmal auch oberhalb der Erfassungsgrenze sind darin bereits die verdünnten Spuren unserer Zivilisation u.a. auch Medikamentenrückstände enthalten, die sich nicht in den Wasserwerken herausklären und nur mit Frischwasser vermischen lassen. Oberflächen- und Fließgewässer weisen teilweise schon Konzentrationen von Sexualhormonen bzw. Umweltchemikalien mit Östrogenwirkung (Xenoöstrogene) auf, die ausreichen, um zu erkennbaren Fruchtbarkeitsstörungen und den Rückgang vieler Tierarten zu führen. Aus Großbritannien häufen sich Berichte, denen zufolge zunehmend eine Verweiblichung männlicher Fische in Flüssen unterhalb von Kläranlagenausläufen zu beobachten ist. [5]

Warum also die Aufregung um grünen Tee? Ein kurzer Blick auf die japanischen Urheber der Studie, Forscher der Universität von Fukushima, läßt vermuten, daß angesichts der immer noch aktuellen Radioaktivität in Japan möglicherweise eine ganz andere Problematik im Hintergrund viel brisanter ist. Aber davon spricht man nicht. [6]

Fußnoten:

[1] Ärzte Zeitung online, 22.08.2013, "Entwarnung - Kaffee macht nicht die Knochen schwach"
http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/skelett_und_weichteilkrankheiten/osteoporose/default.aspx?sid=843467&cm_mmc=Newsletter-_-Newsletter-C-_-20130822-_-Osteoporose

[2] siehe auch:
http://www.schattenblick.de/infopool/natur/chemie/chera329.html

[3] http://www.nature.com/clpt/journal/vaop/naam/pdf/clpt2013241a.pdf

[4] http://blogs.fau.de/news/2014/01/23/gruener-tee-beeinflusst-medikamentenwirkung/

weitere Berichte zu dem Thema:
http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=50465

http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57211/Hypertonie-Gruener-Tee-mindert-Wirkung-von-Betablockern

DocCheck.com
http://news.doccheck.com/de/newsletter/620/4366/?utm_source=DC-Newsletter&utm_medium=E-Mail&utm_campaign=Newsletter-DE-DocCheck+News-2014-01-31&user=072ed7680f721e35125a461681b35bec&n=620&d=28&chk=5c0ba109f700070188d541dff4be0e94

[5] Ein Beispiel:
http://www.lfu.bayern.de/analytik_stoffe/biol_analytik_toxizitaetstests/hormonelle_wirkungen/index.htm

[6] 2012 wurden laut Strahlentelex abgesehen von Japan auch in Frankreich Tees mit mehreren 100 bis 1.000 Becquerel Cäsium-Gesamtaktivität pro Kilogramm gefunden. Hierzulande soll der Grenzwert von 100 Becquerel pro Kilo mit 1,1 Becquerel pro Kilogramm weit unterschritten bleiben.
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/landwirt/ulaer103.html

10. Februar 2014