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RATGEBER/337: Regenerative Zahncreme fragwürdig? (SB)


Regenerative Zahncreme: Nanokristalle im Bio-Gewand


Strahlend weiße Zähne sind ein Schönheitsideal, für das der Mensch in unserem Kulturkreis einiges in Kauf nimmt. Krummgewachsene Launen der Natur werden bereits in jungen Jahren mittels folterähnlicher Zahnspangen in Reih und Glied gepreßt. Darüber hinaus lernen wir nicht nur, daß gute Zahnpflege, d.h. mehrmals tägliches Zähneputzen und die Verwendung von Zahnseide, vor Karies und Parodontose schützt. Quasi mit der Muttermilch wird uns beigebracht, daß schon mit der Wahl der Zahncreme letztendlich die Entscheidung fällt, ob der Zahnarzt später bohren muß oder nicht, daß Zahnweiß mit aktivem Sauerstoff (sprich: aggressivem Wasserstoffsuperoxid) und Zahngesundheit mit Fluor und Schmirgelstoffen (gegen den Zahnbelag) zu erreichen sind, auch wenn das vielleicht Zahnschmelz kostet. Für das meist doch nicht zu erreichende Ideal vom blendend weißen Gebiß nimmt man in Kauf, daß Zahnhälse durch die aggressive Bearbeitung im Laufe der Jahre empfindlich werden und "sensitive" Pflegemittel nötig sind, die diese Eigenschaft - wie auch immer - herabsetzen. Auch wenn die Zähne quietschen, Hauptsache sie sehen gesund und sauber aus ... Warum dieser Wert den meisten Menschen unhinterfragt wichtig zu sein scheint, sollte einem zu denken geben.

Denn der vergleichende und abschätzende Blick auf die weißeren Zähne des anderen hat nicht unbedingt, wie leichthin angenommen, etwas mit der Beurteilung der Zahngesundheit zu tun. Zwar gibt es das etwa seit dem 17. Jahrhundert gebräuchliche Bild des "Auf-den-Zahn-Fühlens", das die gängige Handgreiflichkeit erster Zahnärzte und Dentisten beschreibt, die durch Befühlen und Beklopfen und entsprechende Schmerzantwort des Betroffenen die Schwachstelle im Gebiß zu finden suchten. Sowohl beim Pferdekauf, als auch für die Einschätzung der Verwertbarkeit der "menschlichen Ware" auf dem Sklaven- oder Dienstbotenmarkt waren gesunde, kräftige Zähne seit jeher ein Qualitätsmerkmal. Ein schadloses Gebiß wurde mit Jugend und Gesundheit gleichgesetzt und war vor allem eine Garantie dafür, daß der meist dazugehörige athletische, muskulöse, d.h. für die jeweiligen Anforderungen der Gesellschaft perfekt funktionierende, somit leicht auszubeutende, wert-schaffende Körper bei ausreichender Ernährung dem künftigen Besitzer oder Dienstherrn noch einige Zeit erhalten bleiben würde. Nirgends sind die vermeintlichen Schönheitsattribute "schlank, sehnig, muskulös, Waschbrettbauch" im Sinne des Wortes so auffällig "verkörpert" wie in dem auch heute noch angestrebten Schönheitsideal des aus harter Arbeit geformten klassischen Sklavenleibs, der in Rom keinem autonom handelnden Menschen gehörte, sondern einem rechtlosen, sprechenden Werkzeug, das von seinem Eigentümer nach Belieben zugerichtet oder auch getötet werden konnte.

Dies sei dem bis heute immer noch mit allen erdenklich aggressiven Mitteln erkämpften Zahnweiß und dem damit verbundenen zweifelhaften gesellschaftlichen Wert vorangestellt, den man damit anstrebt oder verkörpern will, und für den ein makelloses, festes Gebiß eine wesentliche Voraussetzung ist.

Obwohl die moderne Zahnmedizin mit ihrer Prophylaxe vom Säuglings- (Fluoridtabletten) und Kindesalter (Schulzahnarzt) an dafür gesorgt hat, daß Karies und Parodontose zumindest theoretisch nicht mehr zu den größten Problemen in der zahnärztlichen Praxis zählen müßten, ist die sogenannte "Zahnerosion" oder auch "Abrasion" ein Thema geworden, das inzwischen auch in den Medien Aufmerksamkeit erreicht hat.

Der zunehmende Verlust von Zahnsubstanz, genauer gesagt von etwas, das weich klingt, Zahnschmelz, aber das härteste Gewebe im menschlichen Körper ist, könnte man bereits als eine weitere Zivilisationserscheinung werten. Nicht nur aggressive Zahnreinigung, bzw. -bleichung, sondern auch der ganzjährige Zugang zu Zitrusfrüchten, der gesteigerte Konsum von vermeintlich gesunden Fruchtsäften, Vitamin- oder Saftgetränken, sowie Störungen im Eßverhalten wie das erzwungene Erbrechen, um den perfekt-schlanken Körper zu erzielen, oder auch überschießende Magensäure bzw. Sodbrennen im anderen Fall fördern die Abnutzung der Zähne, die eigentlich länger halten sollten. [1] Denn die wesentliche Substanz des Zahnschmelzes, Hydroxylapatit ([Ca5(PO44)3 OH]x2), ist zwar hart, löst sich jedoch bereits in schwachen Säuren. Der Verlust an Zahnschmelz könnte allerdings auch wieder Kariesbakterien leicht zugängliche Angriffspunkte bieten.

Daraus ergeben sich für Betroffene und Zahnmediziner Fragen über die Prävention oder Therapiemaßnahmen. Die Industrie ist hier nicht faul, mit innovativen Mitteln weiterzumachen wie bisher und bietet spezielle, mit der Vorsilbe "bio-" (nicht von Biologie, sondern von Bionik, also Biologie + Technik) versehene Formulierungen (Rezepturen) an, die Erosionsverluste wieder ersetzen und vor weiterem Abrieb schützen sollen. "Draufputzen statt abnutzen" oder ähnliche Werbetexte versprechen dem Endverbraucher ein geeignetes, regeneratives Mittel gegen den schwindenden Zahnschmelz. Doch wie wirken die neuen Produkte eigentlich?

Eine Übersichtsstudie zu diesem Thema in einer Ausgabe der "Deutschen zahnärztlichen Zeitschrift" 2014 [2] hält sämtliche Produkte, die eine Regeneration oder Reparation versprechen, pauschal für Humbug: "Verfahren zur Regeneration der Zahnhartsubstanzen sind zum jetzigen Zeitpunkt in der klinischen zahnärztlichen Praxis noch nicht verfügbar" heißt es da, weil mit der Zahnsubstanz auch die Zellen verloren gegangen sind, die eine Regeneration ermöglichen.

Regenerative Strategien haben in der Medizin erheblich an Bedeutung gewonnen. Hierbei ist als Grundsatz definiert, dass in der regenerativen Therapie mit Zellen "geheilt" wird. Übertragen auf den Zahn bedeutet dies, dass bei einer potenziellen Regeneration der Zahnhartsubstanz der Ersatz verlorenen Schmelzes durch Ameloblasten erfolgt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Zahnschmelz aufgrund des apoptotischen Verlustes der Ameloblasten nach Abschluss der Schmelzbildung kein Potenzial zur zellularen Regeneration aufweist. [2]

Dennoch befaßt sich die Studie auf einschlägigen zwölf Seiten mit den derzeitigen Möglichkeiten, Zahnschmelzsubstanz durch Zahnpflegemaßnahmen künstlich zu ersetzen. Derzeitige Strategien basieren auf sogenannten "azellularen biomimetischen und bioinspirierten" Verfahren. Auf deutsch bedeutet das: nicht zelluläre Verfahren, die biologische Strukturen oder zumindest etwas, das sich davon ableitet (davon inspiriert wurde) nachzuahmen.

Dafür hat man den Zahnschmelz chemisch analysiert und seine Mikrostruktur unter dem Elektronenmikroskop betrachtet. Die Oberfläche der Zähne besteht zu etwa 97 Prozent aus anorganischen Substanzen, vor allem aus dem sehr hartem, aber säurelöslichem Hydroxylapatit, einem Phosphat, in das weitere Verbindungen von Calcium, Phosphor, Magnesium, Natrium inkorporiert sind. Darüber hinaus sind Proteine und Fette am Aufbau beteiligt.

Unter dem Elektronenmikroskop sieht man, daß der Zahnschmelz eine Biokeramik mit einer komplexen Nano- und Mikrostruktur aus bandförmigen, in Bündeln gruppierten, hexagonalen Kristalliten bildet. Diese nur 40 bis 60 Nanometer großen Kristallite lagern sich zusammen, um zahnschmelztypische Prismen auf der Mikroebene zu bilden. Diese sollen eng miteinander verzahnt sein, was dem Zahnschmelz die hohe Festigkeit und Widerstandsfähigkeit verleiht.

Und etwas in dieser Art soll nun durch entsprechende Nanostrukturen von künstlichen Hydroxylapatit-Kristallen in besagten Zahnreparations- und -putzmitteln nachgeahmt werden. Auf der Oberfläche des Zahnschmelzes, so der Hersteller [3], soll sich eine Substanz, die dem natürlichen Zahnschmelz in ihrer mikrokristallinen Struktur nachgebildet und chemisch sehr ähnlich ist, Zink-Carbonat-Hydroxylapatit, besonders gut anlagern, wodurch kleinste Risse und poröse Stellen im Zahnschmelz repariert werden könnten.

Die Moleküle sollen sich mit der Oberfläche des natürlichen Zahnschmelzes verbinden, mikroskopisch kleine Defekte verschließen, die Zähne glätten, Bakterien so weniger Angriffsfläche bieten und insgesamt einen effektiven, vorbeugenden Schutz bereits beim Zähneputzen bilden. Statt mit herkömmlicher, auf Schlemmkreide basierender Zahncreme ab- oder glattgeschmirgelt zu werden, sollen die Schrunden der Zahnoberfläche also in gewisser Weise nanomechanisch mit einer Art Mikrospachtelmasse, Verzeihung: Biomikrospachtelmasse, bei gleichzeitiger Versiegelung aufgefüllt werden. Allerdings wird dabei nur die anorganische Substanz des Zahnschmelzes nachempfunden, die Fette und Proteine [zu nennen wären hier Amelogenin, ein primar hydrophobes Protein (25 % Prolin, 14 % Glutamin, 9 % Leucin, 7 % Histidin), aber auch Enamelysin (MMP-20), Kallikrein (KLK-4) und weitere Proteasen, Enamelin und Ameloblastin] werden dabei nicht berücksichtigt.

Die Studie von Prof. Dr. Matthias Hannig und Prof. Dr. Christian Hannig [2] schließt in Diskussion und Schlußfolgerung auch nicht aus, daß durch die Verwendung solcher Zahncremes "innerhalb von mehreren Tagen Apatitschichtbildungen generiert werden, deren Schichtstärke mehrere Mikrometer beträgt", also kurz gesagt, ein wenig künstliches Material auf dem Zahn nachzuweisen ist. Ob dieses allerdings weiteren Putzattacken oder intensivem Kauen überhaupt standhält, geschweige denn säurehaltiger Fruchtsaftspülungen, sei dahingestellt, Untersuchungen dazu am lebenden Objekt gibt es bisher nicht:

Weiterhin offene Fragen betreffen die mechanischen Eigenschaften und auch die chemische Stabilität der biomimetisch generierten schmelzanalogen Strukturen unter klinischen Bedingungen, da bis dato keine In-situ-Untersuchungen oder gar klinische Studien zu dieser Thematik verfügbar sind. [2]

Die vom Hersteller erwähnten Nachweise wurden an extrahierten Rinderzähnen gemacht. Allerdings sprechen praktische Erfahrungen mit dem Mittel bei überzeugten Anwendern dafür, daß auch ein kurzfristiger Spachtelschutz positiv wahrgenommen wird.


Keine Kombination mit fluorhaltigen Zahncremes möglich!

Stiftung Warentest meldet bereits 2009 Zweifel an [4] und hält sämtliche Produkte dieser Reihe, die mittels beigemengter Nanopartikel Abrasion und Erosion von Zahnsubstanz ersetzen wollen, wegen mangelnder wissenschaftlicher Nachweise vorerst für nicht empfehlenswert, zumal sie kein Fluorid enthalten, somit also keinen kariespräventiven (sprich: Karies verhindernden) Effekt besitzen. Und dieser kann auch nicht dadurch gewährleistet werden, daß man im Wechsel mit der Reparatur-Zahncreme noch ein bekanntes Mittel mit Aminfluorid aufträgt, nach dem bewährten Muster: morgens Schutz- und abends Aufbaucreme ...

Während der Hersteller vorgibt, die neuartige Verbindung sei eine bessere Alternative, die den herkömmlichen, auf Fluoriden basierenden Kariesschutz vollkommen ersetzt, gibt es laut Stiftung Warentest [4] jedoch einen chemischen Grund, der die Kombination mit Fluoriden regelrecht verbietet: Die Calciumverbindung Hydroxylapatit reagiert mit Fluorid zu Calciumfluorid. Dadurch wird das Fluorid inaktiv und verliert seine Wirkung als Kariesschutz. Diese Reaktion würde bereits in der Zahnpastatube stattfinden. Es macht daher keinen Sinn, das Produkt mit Fluorid anzureichern. Es würde den bionischen Reparaturmechanismus faktisch lahmlegen.

Darin sehen Zahnmediziner jedoch einen entscheidenden Nachteil: Die vermeintliche Wirkung der Fluoride gegen Karies gilt durch viele klinische Studien belegt, obwohl Fluorid toxisch und seine zahnhärtende Wirkung ebenfalls fragwürdig ist. Erosion ist zahnmedizinisch allerdings nach wie vor ein viel selteneres Problem als Karies, weshalb man Fluorid als Therapeutikum erhalten will.

Unabhängig davon, daß die bionischen Zahnreparaturmittel sehr viel teurer sind als der gängige Kariesschutz in herkömmlichen Zahnputzmitteln, scheinen selbst die kritischen Stimmen nicht über die Mittel an sich zu stolpern. Immerhin handelt es sich hier um nanotechnologische bzw. nanoskalige Kunstprodukte, also künstlich hergestellte, technische Gebilde in einem Größenbereich zwischen 1 und 100 Nanometern, d.h. Milliardstel Metern. Stoffe in diesem Größenbereich gelten in biologischen Zusammenhängen als umstritten, weil sie teilweise andere Wirkungsmuster aufweisen als der gleiche chemische Stoff in seiner makroskopischen Größenordnung. Harmloser Kohlenstoff erweist sich beispielsweise in Form von künstlichen Nanoröhrchen für Fische als neurotoxische Substanz. Was aber hexagonale, künstliche Kristalliten aus Hydroxylapatit in menschlichen Körperzellen anrichten, wenn diese Strukturen eindringen, wurde ebensowenig untersucht wie die tatsächliche Wirksamkeit im Zahnschmelz. Zumal eine biologische Wirkung, die ja durchaus erwünscht ist, nicht ganz ausgeschlossen werden kann.

Trotzdem werden diese Produkte bereits angeboten und verwendet. Das heißt, das eingangs erwähnte, allgemein erstrebte Attribut "makelloser Zähne" fordert somit einen Preis, der in seiner ganzen Konsequenz nicht mehr abzusehen ist.


Anmerkungen:

[1] "Risiko Softdrinks - Zähne heilen nicht von selbst" (Spiegel Online 2004) und "Vorsicht, Schmelzfresser" (Stern Online 2006) waren bereits vor einigen Jahren Überschriften in den populären Medien, mit denen auf ein ganz neues Problem aufmerksam gemacht wurde, das man bei der propagierten gründlichen Zahnreinigung, nach jedem Essen bisher aus dem Auge verloren hatte und das man vor allem nach dem Genuß von Zitrusfrüchten oder zuckerhaltigen Obstgetränken selbst verschuldet haben sollte. - Besonders Zitronen, Orangen, Kiwi, Äpfel, Grapefruit, essighaltige Konserven, eingelegte Gurken, Salatsaucen, Obstsäfte, Erfrischungsgetränke, Sportgetränke, Früchtetee, aber auch Wein, Sekt, Cocktails enthalten ausreichend Säure, um den Zahnschmelz anzugreifen.

[2] Artikel in der Deutschen zahnärztlichen Zeitschrift, 2014; 69 (3) Übersichtsstudie zu Möglichkeiten und Grenzen der Schmelzregeneration, siehe
https://www.online-dzz.de/media/pdf/DZZ_03_2014/DZZ_03_131-142_M%C3%B6glichkeiten%20und%20Grenzen%20der%20Schmelzregeneration.pdf

[3] http://www.bio-repair.de/de/wirkweise.html

[4] https://www.test.de/Zahncreme-Biorepair-Kein-Fluorid-1800896-0/

24. Juni 2015


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