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UMWELTLABOR/195: Die Pharmaindustrie und der Quallenschleim (SB)


Die Qualle der Wahl

oder

Wie man durch gezielte Nutzung Bioindikatoren des Klimawandels geschickt verschleiert


Das langsame Aufheizen von Atmosphäre und Meeren, das inzwischen auch Experten nicht mehr abzustreiten wagen, äußert sich in zahlreichen kleinen Veränderungen in der Flora und Fauna, die man gewissermaßen als Bioindikatoren bezeichnen könnte.

Einige typische Veränderungen, die auf das Klimageschehen hinweisen, sind beispielsweise der schwindende Sauerstoff in manchen Teilen des Meeres (der sich zum einen in warmem Wasser schlechter löst, zum anderen durch starke Algenblüten verbraucht wird), die allmähliche Versauerung der Meere (durch die Sättigung mit dem Klimagas CO2), einhergehend mit dem zunehmenden Verschwinden von Fischen, Muscheln und Korallen, für die die Lebensbedingungen in diesen Teilen des Meeres unannehmbar geworden sind. Neben dem Verschwinden von Meereslebewesen aufgrund feindlicher Lebensbedingungen kommt bei Fischen außerdem in vielen Küstengebieten eine starke Überfischung dazu, d.h. derart viele Fische wurden für den Lebensmittelbedarf gefangen, daß das Überleben mancher Arten gefährdet ist.

Von diesen akuten Veränderungen, die bisher erstmals spürbar auch die kommerzielle Nutzung der Meeresbewohner für den Menschen beeinträchtigen, und damit direkten Einfluß auf den Lebensunterhalt oder gar die Existenz von Fischern nehmen, profitieren andere Meereslebewesen, die zumindest in Europa bisher noch von jeglicher Nutzung oder Ausbeutung verschont geblieben sind und bestenfalls in Asien manchmal auf der Speisekarte stehen: Quallen. Sie lieben das Meer badewarm wie die Touristen und bevorzugen das gleiche Nahrungsangebot wie Fische, d.h. Plankton. Fische und Quallen sind normalerweise Nahrungskonkurrenten. Wenn einer der beiden ausfällt, hat der andere bessere Überlebensbedingungen. Und genau das erleben wir gerade bei den Medusenartigen.

Tatsächlich herrscht augenblicklich vor den Küsten Japans eine regelrechte Quallenplage:

Die Tiere haben sogar Zu- und Abflüsse eines Kernkraftwerkes verstopft. Experten führen das extreme Auftreten der Tiere auf Umweltverschmutzung zurück. "Tatsächlich ist das massenhafte Auftreten von Quallen ein Hinweis darauf, dass etwas im gesamten ökologischen System nicht stimmt", so Kristina Barz, Expertin für Quallen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar und Meeresforschung http://www.awi.de, im pressetext-Gespräch. "Auch im Mittelmeer treten jährlich große Mengen von Quallen in genau jenen Regionen auf, in denen Menschen ihren Badeurlaub verbringen", erklärt die Forscherin.
(Pressetext.de, 11. Juli 2007)

Manche Quallenarten vermehren sogar ausgesprochen aggressiv. So wurde schon im letzten Jahr von Qualleninvasoren berichtet, die als limitierender Faktor für die Fischpopulationen angesehen werden müssen. So hieß es im Dezember letzten Jahres in einem Bericht der Deutschen Presseagentur:

Eine eingewanderte Quallenart droht sich in der Ostsee so stark zu vermehren, dass schon bald Fischbestände in Gefahr geraten könnten. Erst am 17. Oktober hatten Forscher vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM Geomar) zum ersten Mal in der Kieler Förde die Rippenquallen (Mnemiopsis leidyi) entdeckt; seitdem habe deren Zahl fast explosionsartig zugenommen.

Das könne auch in der Nordsee geschehen, sagte der Kieler Meeresforscher Prof. Ulrich Sommer in einem dpa-Gespräch. "Am Anfang hatten wir 30 Individuen pro Kubikmeter Wasser, bei der letzten Messung waren es 90. Wenn das so weitergeht, haben wir bald Zustände wie im Schwarzen Meer."
(dpa, 1. Dezember 2006)

Die Forscher vom Alfred Wegener Institut bestätigen die günstigeren Lebensbedingungen für Quallen durch die schleichende Klimaerwärmung und Schadstoffeinleitungen in die Meere und machen noch auf einen weiteren Faktor aufmerksam: Den Verlust von Freßfeinden:

"Es gibt nämlich eine große Zahl von Fischen, Schildkröten und Seevögeln, die Quallen auf ihrem Speiseplan haben", führt Barz aus. Quallen sind darüber hinaus auch relativ robust gegenüber Klimaveränderungen. "Das bedeutet, dass auch ungünstige Lebensumstände wie Wassererwärmung oder Sauerstoffarmut die Quallen überleben lassen. Fische oder andere Meereslebewesen sind wesentlich empfindlicher", erklärt die Wissenschaftlerin. Indirekt sei auch die Umweltverschmutzung, die zu einem höheren Nährstoffeintrag und zu einem Sauerstoffentzug führt, mitverantwortlich für das massenhafte Auftreten der Quallen.
(Pressetext.de, 11. Juli 2007)

Daß es sich dabei nicht um bloße Ahnungen handelt, bestätigen viele Meldungen aus der letzten Zeit in den Medien, in denen sich plötzlich unbekannte, seltene oder gar giftige Quallen in ungewohnten Gegenden plötzlich rasant ausbreiten können. Neben Japan wurden derzeit vor allem Spanien und das Mittelmeer als Brutstätten für neue den Tourismus belästigende Quallenplagen genannt, im vergangenen Jahr mußten manche Strände tagelang geschlossen werden:

Spain's Mediterranean waters are home to half a dozen kinds of jellyfish. Some areas have seen an exponential rise in jellyfish populations, called a bloom. Last year the proliferation was so bad in parts of Spain's Catalonia, Valencia and Almeria regions, some beaches had to be closed for a few days.
(AP, 9. Juni 2007)

Quallen träten nun häufiger in Strandnähe auf, da wegen ausbleibender Regenfälle weniger kaltes Süßwasser aus Flüssen ins Meer fließe, eine natürliche Barriere für Quallen. "Die Tatsache, daß es Quallen an die Küste schaffen, ist ein Zeichen des Meeres dafür, wie schlecht wir es behandeln", sagte gegenüber Associated Press Josep-Maria Gili, ein Meeresbiologe, der an dem Projekt, Spaniens Strände von den Quallen zu befreien, mitarbeitet. Es sei wie ein Symptom dafür, daß der Mensch das Meer stärker verändert habe, als geglaubt.

Giftige Quallen und Fische verderben Badespaß

An der spanischen Ostküste müssen sich die Touristen das kühle Naß mit giftigen Quallen teilen. Rund 60 Menschen sind bereits von Sanitätern behandelt worden, nachdem sie von den Meeresbewohnern berührt worden waren.
(Schattenblick, UMWELT/3862: Ökologie, Umweltschutz und Katastrophen - 16.07.2007)

Dabei ist Spanien mit seinem halben Dutzend Quallenarten noch vergleichsweise gut dran. Sie können dem Spanientouristen zwar den Urlaub und den unbeschwerten Aufenthalt im Meer ruinieren, sind aber lange nicht so giftig und gefährlich wie die Quallenschwemmen in Florida, Kalifornien oder in Australien.

Das spanische Regierungsprogramm sieht vor, daß Freiwillige nach Ansammlungen von Quallen Ausschau halten sollen. Sichten sie welche in der Nähe eines Strandes, sind sie angehalten, die Behörden über eine kostenlose Telefonnummer zu informieren. Daraufhin werden Einsatzkräfte entsendet, die nichts weiter tun, als die Tiere aus dem Wasser schöpfen und entsorgen, indem sie sie eintrocknen lassen. Man könne Quallen nicht einfach in den Müll werfen, meinte Gili gegenüber der AP, denn auch eine gerade verendete Qualle oder ein einzelnes, abgetrenntes Tentakel kann Menschen noch schmerzhafte Verletzungen zufügen.

Eine noch bessere Methode, der Plage nicht nur Herr zu werden, sondern sie auch noch kommerziell auszubeuten, haben japanische Wissenschaftler vorgeschlagen. Wie sie im Wissenschaftsmagazin New Scientist berichteten, haben sie entdeckt, daß der Schleim, den Quallen produzieren, für die Kosmetik- und Pharmaindustrie einen wertvollen Rohstoff liefern könnte. Auf diese Weise hätte man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Der Quallenüberschuß könnte reduziert und außerdem noch genutzt werden. Für die Öffentlichkeit stellten sich die Umweltveränderungen dann nicht mehr ganz so drastisch und bedrohlich, sondern wesentlich positiver dar.

Kiminori Ushida vom Institute of Physical and Chemical Research http://www.riken.jp in Wako hat den Schleim von fünf verschiedenen Quallenspezies extrahiert und eine sehr interessante Entdeckung gemacht: Es fanden sich große Mengen von Muzinen darin. Muzine [wissenschaftliche Schreibweise: Mucin, Anm. d. Schattenblick-Red.] sind organische Schleimstoffe aus der Gruppe der Glycoproteine, also Makromoleküle aus einer zentralen Proteinkette und langen Seitenketten aus Zuckerverbindungen. Durch ihre Wasserbindungskapazität und die Fähigkeit, sich untereinander zu vernetzen, haben Muzinlösungen eine gelartige, schleimige Struktur und hohe Viskosität.
(Pressetext.de, 11. Juli 2007)

Schon wenige Tage vorher hieß es am 3. Juli im Videotext der ARD, daß die Wissenschaftler in Quallenhaut- und Schleimhautgewebe eigentlich nach einem kommerziell nutzbaren Zuckermolekül gesucht hätten. Statt dessen entdeckten sie die schleimige Eiweißsubstanz, die sie laut Onlinedienst des Magazins "Science" "Qniumucin" tauften.

Die glibberigen Mucine der Quallen könnten als Zusatz für Kosmetika, Arzneimittel und sogar Lebensmittel genutzt werden. Hochvisköse Stoffe sind letztlich Bindemittel wie Stärke oder Gelatine. Ihr weiterer Einsatz wäre in Cremes als Feuchtigkeitsspender oder pharmazeutisch als künstlicher Magensaft denkbar. Für den Verbraucher ist so ein Produkt durchaus gewöhnungsbedürftig. Das konnte man auch an der recht langen Einführungszeit für Algenschleimprodukte sehen, doch inzwischen werden dank des positiven Marketing und der in Verruf gekommenen tierischen Gelatine, Algatine u.a. Ersatzstoffe aus Algen vom europäischen Markt akzeptiert.

Bleibt für die Produzenten von Qniumucin also nur noch, die Qualle der Wahl, d.h. eine appetitliche, kleine Qualle zu finden, die der Verbraucher nicht mit stechenden Schmerzen, geschwollenen Gliedmaßen und stinkendem Fisch verbindet, dafür aber als Bereicherung für den Speisezettel empfindet oder für ein "natürliches" Hilfsmittel in pharmazeutischen Zubereitungen hält.

23. Juli 2007