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UMWELTLABOR/203: Blei - Hoher Preis für schlechten Rat (SB)


Wie schädlich sind bleihaltige Lippenstifte wirklich?

Zur Behauptung, "bleihaltige Lippenstifte seien kein Grund zur Sorge"


Wenn man einmal die Liste essentieller Nährstoffe und Spurenelemente betrachtet, die der Mensch zum Leben braucht, dann assoziiert man als Laie damit eher eine Ersatzteilliste für Maschinen als menschliche Nahrung. So brauchen wir u.a. Eisen, um Sauerstoff einzufangen, Kupfer und Chrom, um Energie zu speichern, Kobalt für die Ummantelung der Nerven, und Zink, das viele Funktionen im menschlichen Stoffwechsel wahrnimmt und bei der Immunabwehr wie beim Aufspüren der notwendigen Gene eine Rolle spielen soll. Manche Organismen brauchen sogar Zinn, Nickel, Platin, Wismut oder sogar Strontium, um ihre biochemischen Lebenssysteme am Laufen zu halten.

Der tägliche Mindestbedarf für Blei, dem 82. Eintrag im Periodensystem der Elemente, liegt hingegen bei allen lebenden Organismen nach dem heutigen Stand der Erkenntnis bei absolut Null. Es gibt kein Lebewesen, das auch nur eine winzige Spur Blei zum Überleben benötigt. Für den Menschen ist Blei nicht nur ein "nicht essentielles", also nicht notwendiges, sondern wegen seiner ausschließlich schädlichen Wirkung aus medizinischer Sicht absolut unerwünschtes Metall. Seine Aufnahme kann drastische Konsequenzen nach sich ziehen.

Blei kommt als Umweltgift ...

...in Form von organischen und anorganischen Salzen, oft angelagert an Stäube, selten auch in Dampfform vor. Hauptemittenten sind Erzhütten, Blei verarbeitende Betriebe (Batteriefabriken, Metallverschrottung), Schießstände. Selten, aber dann manchmal schwerwiegend, sind Intoxikationen durch bleihaltige Lasuren auf Keramik (die nicht EU-Richtlinien entsprechen), wobei durch Säuren (Obstsäfte, Wein) Blei herausgelöst wird. Im Leitungsfließwasser der meisten deutschen Haushalte liegt der Bleigehalt im Durchschnitt bei 0,7 µg/l, im Standwasser bei 1,1 µg/l, in Ostdeutschland in Haushalten mit Bleileitungen bei 29,1 µg/l.
(aus: Leitlinie Blei, umwelt - medizin - gesellschaft Nr. 4/2005, S. 287-288 )

Die Belastung durch Blei in der Atemluft hat seit dem Verbot von verbleitem Autobenzin in Europa deutlich abgenommen. In Deutschland soll die Bleibelastung der Bevölkerung im wesentlichen aus Nahrungsmitteln stammen. Aber auch alte Bleileitungen in Altbauten geben Blei an das Trinkwasser oder Brauchwasser ab. Darüber hinaus können Anstriche und Farben, in denen Blei als Pigment verwendet wurde, Blei an die Umwelt abgeben und eine pathogene Wirkung entfalten.

Nun wurde in der New York-Times vom 13. November 2007 in der Rubrik von Anahad O' Connor "Really?" (übersetzt: "Stimmt das?") die Behauptung untersucht, einige rote Marken-Lippenstifte würden hohe Bleigehalte aufweisen. Fazit von NYT-Autor O'Conner: "Kein Grund zur Sorge!"

THE BOTTOM LINE

Studies have found that lead in lipstick is not a cause for concern, but research is continuing.
(NYT, 13. November 2007)

Zwar hätten eine aktuelle Studie und die Verbreitung der Nachricht via E-mails die allgemeine Furcht geschürt, einige Lippenstiftprodukte würden potentiell gefährliche Mengen an Blei enthalten, doch eine kleine unabhängige Studie, die von einer Konsumentenrecht-Gruppe initiiert worden sei und an 33 roten Lippenstiftprodukten durchgeführt worden wäre, hätte ergeben, daß etwa nur ein Drittel der Proben (also 11 Produkte davon) Bleigehalte über 0,1 ppm (Parts per Million - Teile pro Millionen Teile) aufweisen. Sie liegen damit über dem amerikanischen Grenzwert für Süßigkeiten, was aber kaum etwas darüber sagt, wieviel ein betroffener Lippenstiftanwender davon auch real aufnimmt.

Da es für Kosmetika derzeit überhaupt keine Richtwerte gäbe, so hieß es weiter, habe die Gruppe den Vergleichswert für Süßigkeiten zur Grundlage genommen.

But critics of the study say the comparison is misleading, because unlike candy, lipstick is generally not ingested, and any trace amounts ingested accidentally would be harmless.
(NYT, 13. November 2007)

Auch Stephanie Kwisnek, Sprecherin der Food and Drug Administration habe dazu in einem Interview versichert, daß es keinen begründeten Anlaß zur Beunruhigung gäbe, was den Bleigehalt von Lippenstiften betrifft. Eine Liste der getesteten Marken läßt sich im Internet unter www.safecosmetics.org. abrufen.

Der wie auch immer gut gemeinte Rat von Anahad O'Connor, sich beim Schminken der Lippen auch weiterhin keine Sorgen zu machen, ist ein schlechter Rat, denn sorgloses Applizieren von Lippenröte könnte letztlich nach hinten losgehen. Dazu muß man einfach nur die wenigen bekannten Fakten und den eigenen Verstand bemühen: Selbst wenn Lippenstift kein Lebensmittel ist, weiß doch zumindest jede Frau, wie oft man im Verlauf eines Abends die rote Pracht erneuern muß, weil sie sich abträgt. Lippenstift gelangt jedoch nicht nur durch Mundbewegungen oder das Befeuchten der Lippen mit der Zunge in den Mundraum und somit in den Organismus, sondern auch mit dem Genuß alkoholischer Getränke, in denen sich Fett und Farbstoffe gut lösen oder durch den mechanischen Abrieb bei der Nahrungsaufnahme.

Da, wie wir eingangs erwähnten, Blei im Körper absolut nichts zu suchen hat, ist jede winzige Spur des neurotoxischen Metalls gesundheitlich abträglich. Nun sind sich selbst Umweltmediziner über den Verbleib von Blei im menschlichen Körper nicht ganz einig. Anders gesagt sind die bekannten Werte, die im folgenden zur Grundlage genommen werden, nicht ganz eindeutig.

So soll der Erwachsene nur 10% des aufgenommenen Bleis auch resorbieren, doch es gibt Voraussetzungen, bei denen sich dieser Wert wesentlich erhöht. Resorptionsfördernd sind z.B. Fette oder Milch, Fastenkuren oder ein vorherrschender Mangel an Calcium, Eisen, Zink, Kupfer, Selen oder Vitamin D. All das wird beispielsweise auch durch Alkoholkonsum vorangetrieben.

Blei soll sehr schnell in die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) gelangen und von dort dann vor allem in Knochen und Leber, weniger in Niere und Gehirn abgelagert werden.

Die Halbwertzeit im Blut ist zwar mit 20 Tagen verhältnismäßig gering, doch was aus dem Blut in die Knochen verschwindet, verbleibt dort mit einer Halbwertszeit von 10 bis 20 Jahren. Bei Schwangeren, die vermehrt Calcium benötigen, kann es zu einem vermehrten Knochenabbau und somit spontan auch zu hohen Bleiwerten kommen.

Was nun den relativ kleinen Wert von 0,1 ppm im Lippenstift betrifft, so akkumulieren auch diese kleinen Mengen in Knochen und Gehirn und können dann irgendwann einmal Beschwerden auslösen, die man überhaupt nicht mehr mit dem Gebrauch von Lippenstiften in Verbindung bringen wird.

Der Appell zur Sorglosigkeit begründet sich möglicherweise darin, daß die Wissenschaftler, bzw. in diesem Fall der Verfasser des gutgemeinten Rates, die Zahlenbeispiele losgelöst von anderen Kontaminationsquellen betrachten. Für Lippenstift allein kommt man bei den vorgegebenen Zahlen auf so unrealistische Werte, daß man O'Connor zunächst durchaus recht geben möchte:

So hat z.B. die WHO Toleranzwerte von 25 µg/kg/Woche festgelegt. Das wären für einen durchschnittlichen Erwachsenen von 70 kg 1750 µg Blei pro Woche bzw. 250 µg pro Tag. Da ein µg (Mikrogramm) einem Millionstel Gramm entspricht, dürfte man also bei nur 0,1 ppm Blei im Lippenstift mindestens 2,5 Kilogramm Lippenstift pro Tag essen, um den Toleranzwert zu erreichen.

Dabei wird allerdings übersehen, daß man sich nicht nur von Lippenstift ernährt:

Referenz-, Grenz-, Richtwerte (Blutkonzentrationen)

PTWI (tolerable wöchentliche Aufnahme; WHO 1987) 25 µg/kg/Woche

BGA-Richtlinien für Lebensmittel
(1991)

für die meisten Lebensmittel 200-800 µg/l
Milch 30 µg/l
Kohl, Küchenkräuter 2.000 µg/kg
Trinkwasser 40 µg/l
Trinkwasser (ab 2015) 10 µg/l

Viele Lebensmittel enthalten schon soviel Blei, daß die kleine Spur von Lippenblei schließlich das Faß zum Überlaufen bringen könnte. Laut UMG liegt der sogenannte Human-Biomonitoring-Wert (d.h. der Grenzwert unter dem nach aktuellem Wissensstand kein gesundheitliches Risiko zu erwarten ist) derzeit bei 100 bis 150 µg/l Blut. Für Frauen im Alter von 18-69 Jahren wurde aber schon ein durchschnittlicher Normalwert von 70 µg/l Blut gemessen.

Angesichts der Tatsache, daß Blei keinerlei Bedeutung für den Stoffwechsel hat und nur giftig wirkt, sollte man vielleicht darüber diskutieren, ob nicht auch schon der vermeintliche Normalwert viel zu hoch ist, zumal bei schwangeren Frauen damit gerechnet werden muß, daß das placentagängige Metall das wachsende Nervengewebe des Kindes schädigen kann.

Dazu kommt, daß die vermeintlichen Toleranzwerte im Blut von 100-150 µg/l schon deutlich sichtbare Krankheitssymptome wie eine dauerhafte Intelligenzminderung/IQ-Herabsetzung oder bei Kindern Entwicklungsstörungen mit sich bringen. D.h. leichtere Konzentrations- oder Befindlichkeitsstörungen, die schon bei Normalwerten auftreten können, werden möglicherweise gar nicht mit Blei in Zusammenhang gebracht.

Noch einmal unser Fazit: Selbst geringe Spuren von Blei sind zuviel. Und sich bezüglich der Bleiaufnahme beim Lippenschminken keine Sorgen zu machen, ist ein denkbar schlechter Rat.

22. November 2007