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PHARMAZIE/079: Steviosid - Ring frei für den südamerikanischen Zuckerersatz (SB)


Steviosid - alter Indianer-Süßstoff, vor Jahren schon entdeckt,
soll sich jetzt auch in Europa durchsetzen


Als das Süßungsmittel Steviosid vor vier Jahren als Neuheit auf den Markt kam, war er tatsächlich schon lange keine Neuentdeckung mehr, wurde aber als eine solche vorgestellt. Inzwischen kann ihn die zahlungskräftige gesundheits- und ernährungsbewußte Elite von Mitteleuropäern in den Läden erwerben, doch soll es sich nun auch als Massenprodukt in der Lebensmittelindustrie durchsetzen. In den angelsächsischen Medien wurde es nun noch einmal als vermeintlich neues Süßungsmittel eingeführt, das im Laufe des Jahres 2009 andere Süßstoffe in einigen Getränken und Lebensmitteln ersetzen soll.

A new sweetner will soon be showing up in your favorite beverages, and companies hope it will become the next big thing for consumers. [...] "This definitely is the first herb based sweetener," said Dietitian Amy Goodson. [Der neue Süßstoff wird schon bald in Ihren Lieblingsgetränken vorkommen, und Hersteller hoffen, daß es der nächste Renner für den Verbraucher werden wird. [...] "Das ist definitiv der erste Süßstoff, der aus Kräutern gewonnen wird", meinte Diätexpertin Amy Goodson. Übersetz. SB-Red.]
(NBC News, 14. Dezember 2008)

So will Coca Cola eine Spezialversion Sprite in New York und Chicago und das Fruchtsaftgetränk Odwalla in zwei Geschmacksrichtungen einführen, die Steviosid als Süßstoff enthalten.

Warum aber die lange Liste an Süßungsmitteln und Zuckeraustauschstoffen in Lebensmitteln und Getränken nun auch noch mit Steviosid ergänzt werden soll, hat möglicherweise ganz andere Gründe, als die, die werbewirksam vertreten werden. So muß sich die Agrarwirtschaft zum einen weltweit auf neue klimatische Verhältnisse einstellen, andererseits besteht ein großes Interesse daran, den unter hohem Wasserverbrauch zu erzeugenden Zucker chemisch und industriell anders als zur Ernährung zu nutzen...

Im Unterschied zu den synthetischen Produkten wird Steviosid oder Stevia tatsächlich aus Pflanzen gewonnen und bringt damit im Wettbewerb mit den schon häufig in Verruf gekommenen künstlichen Süßstoffen einen nicht unerheblichen Wettbewerbsvorteil mit: Es ist pflanzlich "grün" und unbedenklich, also ein im besten Sinne gern gesehenes potentielles "bio"-Produkt und damit für den gesundheits- und ernährungsbewußten Diät-Konsumenten, der nicht auf Süße in seinem Leben verzichten will, im Höchstmaß attraktiv.

Der Süßstoff Steviosid ist eine Mischung aus natürlich vorkommenden glykosidischen Diterpenen (C20H32), chemisch verwandt mit Abietinsäure und etwa 300mal süßer als gewöhnlicher Zucker. Die zu Werbezwecken häufig als "Süßstoff-Kraut" bezeichnete Pflanze stammt ursprünglich aus Paraguay und gehört zur Familie der Chrysanthemen, Stevia rebaudiana.

Seit Jahrhunderten wird die Pflanze dort von den Ureinwohnern zum Süßen ihrer Nahrungsmittel verwendet. Sie hat keinerlei Kalorien oder Brennwerte (BE), soll sowohl die Entstehung von Zahnbelag verhindern als auch keine Karies verursachen und bei regelmäßigem Verzehr sogar den Blutdruck senken. Gerade das exotische Flair machte das nährwertlose Luxuskonsumgut bisher als Objekt der Ausbeutung für eine kleine Minderheit gesundheitsbewußter Schlankheitsanhänger der industrialisierte Welt interessant.

Während der Süßstoff in Südamerika und Japan tatsächlich auch als Massenprodukt seit Jahren im Gebrauch ist und sich dort als gesundheitlich unbedenklich erwiesen hat, wehrten sich hierzulande vor allem die einheimischen Zuckerproduzenten lange, da sie befürchteten, der natürliche gewonnene Süßstoff könnte dem ebenfalls pflanzlichen Rübenzucker den Rang ablaufen.

Die Substanz ist jedoch auch Süßstoffherstellern ein Dorn im Auge, denn sie besitzt nicht nur die diätischen Vorteile konventioneller Süßstoffe und eine wesentlich stärkere Süße als Saccharose, sie bleibt - im Gegensatz zu anderen, natürlich gewonnenen Süßstoffen - auch beim Erhitzen chemisch stabil.

Darüber hinaus läßt sich das Luxuserzeugnis, zu dessen Herstellung bisher die Blätter der lateinamerikanischen Steviapflanze eingeführt wurden, offenbar auch problemlos auf mitteleuropäischen Äckern anpflanzen. Bei entsprechender Nachfrage könnte Steviosid ein Umdenken in der heimischen Agrarwirtschaft auslösen. Aber auch auf dem Süßwarenmarkt und vor allem im Zuckerersatz- und Süßstoffbereich, auf dem ohnehin kriegsähnliche Konkurrenzzustände herrschen, könnte das Produkt neue Unruhen auslösen, ehe es sich etabliert.

Konkurrierende Süßstoffhersteller wie auch die Zuckerlobby fahren hier mittels vermeintlich wissenschaftlicher Expertisen wechselseitig immer wieder neue Argumente auf, um gegnerische Produkte in irgendeiner Weise für den Verbraucher unattraktiv werden zu lassen. Der beste Ansatzpunkt, den anderen in dieser Schlacht auszuhebeln, ist immer noch die gesundheitliche Bedenklichkeit. Auf diese Weise wurde schon der Ruf von Saccharin und Cyclamat geschädigt und genau das versuchte man auch schon vor Jahren bei Steviosid, was allerdings inzwischen in Vergessenheit geraten ist.

Im Krieg um die Süßungsmittel galt es anfänglich schon als gesundheitsgefährdend, wenn man überhaupt von diesem Stoff gehört hatte. Daß aber sämtliche Gerüchte von anderen Herstellern synthetischer Süßstoffe in Umlauf gebracht worden waren, die sich mit Angriff und Verteidigung aus eigener Anschauung bestens auskennen, war nicht allgemein bekannt.

In zahllosen Versuchsreihen und von Zucker- und Süßstoffproduzenten bezahlten Forschungsaufträgen wurde zu beweisen versucht, daß von dem süßen Hauptinhaltsstoff der Stevia-Pflanze ein Gesundheitsrisiko ausgeht. Und tatsächlich gelang das auch fast:

"Zumindest in einer Studie aus dem Jahr 1999 schien Steviosid die Fruchtbarkeit von Ratten zu beeinträchtigen. "Allerdings erst in absurd hohen Dosen", so der Bonner Privatdozent Dr. Ralf Pude vom Institut für Gartenbauwissenschaft; "ein Erwachsener müsste täglich mehr als die Hälfte seines Körpergewichts an frischen Stevia- Blättern zu sich nehmen, um auf vergleichbare Konzentrationen zu kommen - in dieser Menge wäre selbst Zucker gefährlich."
(idw, 19. April 2005)

Angesichts der Tatsache, daß die ganzen Blätter auch etwa drei Prozent der recht bitter schmeckenden sogenannten Rebaudoside enthalten, wird der Verzehr einer solchen Menge kaum ohne Eingriff der natürlichen Abwehr, sprich: Erbrechen, zu bewerkstelligen sein. Das bedeutet im Klartext, eine derart große Dosis schmeckt so widerlich bitter, daß der Mensch sie gar nicht erst zu sich nimmt.

Realistisch sind derartige Dosen schon gar nicht: Wollte man die rund 130 Gramm Zucker, die der Durchschnittsdeutsche täglich mit der Nahrung aufnimmt, komplett durch das 300mal süßere Steviosid ersetzen, käme man auf weniger als ein halbes Gramm - ein Stückchen Würfelzucker wiegt sechsmal so viel. Da verursachen die im Würfelzucker enthaltenen Bleichstoffe und Katalysatorspuren wesentlich gravierenderen gesundheitlichen Schaden.

Daß Steviosid schließlich im Sommer 2005 doch die Zulassung als Nahrungsergänzungsmitel erhielt, bedeutet auch nur, daß die auf diese Weise ermittelte, in Frage kommende tägliche Aufnahmemenge offiziell als gesundheitlich unbedenklich eingeschätzt wird. Daß ist sehr willkürlich, liegt aber durchaus im Trend der Zeit, in der nährwertlose Nahrungsergänzungsmittel geradezu gesucht werden, um Energieträger wie Zucker aus der Lebensmittelproduktion herauszuziehen und anderweitig zu nutzen.

Heute wird, abgesehen von der zahnschonenden und gewichtsreduzierenden Wirkung, sogar die bei Daueranwendung beobachtete Blutdrucksenkung ebenfalls als positiv bewertet. Ob es sich dabei um eine direkte Wirkung oder einen indirekten Effekt durch die verringerte Zuckeraufnahme handelt, müßte allerdings noch geklärt werden. Denn ein echter Blutdrucksenker wäre letztlich auch nicht für jeden wirklich unbedenklich, im Gegenteil...

Was die Langzeit-Erfahrungen betrifft, können Hersteller von Steviosid aber auch auf eine beinahe ebenso lange südamerikanische Tradition zurückblicken wie die Zuckerindustrie. So verleihen Japans Köche ihren Gerichten schon seit 25 Jahren mit Stevia-Extrakt die rechte Süße; in Paraguay "zuckerten" schon die Indianer damit vor einem halben Jahrtausend ihren Mate-Tee - alles augenscheinlich ohne negative Folgen.

Steviosid wäre damit der erste natürlich gewachsene Pflanzensüßstoff, der den synthetischen Produkten den Rang ablaufen könnte.

Synthetische Süßstoffe Relative

Sacharin                        

Cyclohexyl-Sulfamat (Cyclamat)

Dulcin
1-Propoxy-2-amino-4-Nitrobenzol
(Intensivsüßstoff, nicht mehr im
Handel)

Steviosid                       
Süßkraft (vgl. Rohrzucker = 1)
400
30
200
3000


300

Wie sehr das reine Pflanzenprodukt den Markt in Aufruhr bringen kann, zeigt sich in Asien, wo sich Steviosid inzwischen schon einen Marktanteil von 75 Prozent erobert hat. Allerdings sind dort auch einige der Hauptkonkurrenten des synthetischen Süßstoffmarkts wegen ihrer gesundheitlichen Risiken generell verboten.

Seit nun bekannt wurde, daß sich die Pflanze auch auf hiesigen Äckern anbauen läßt (Zeitschrift für Arznei- und Gewürzpflanzen 2005; 10 (1), Seite 37-43), scheint ihre Einführung auf dem hiesigen Markt zum Selbstgänger zu werden.

Nur erfriert die aus Paraguay stammende Arzneipflanze bei Minusgraden und muß daher jedes Jahr neu gepflanzt werden. In ihrer Heimat läßt sie sich mehrere Jahre hintereinander ernten, was die gentechnisch ausgerichteten Wissenschaftler auf den Plan ruft, die nun auch kälteresistentere Arten herausselektieren möchten. Eine neue Mikrokulturtechnik soll zudem die Vermehrung des "Süßstoff-Krauts" vereinfachen. Zudem könnte die anpassungsfähige Pflanze unter dem Gesichtspunkt klimatischer Veränderung in der hiesigen Agrarkultur eine Rolle spielen.

"Auf den Feldern wuchsen zwischen den normalen Stevia-Pflanzen auch welche, deren Blätter ein wenig anders gefärbt waren", erinnert er sich. "Und die waren sogar noch süßer als die Ursprungspflanzen."
(idw, 19. April 2005)

Abgesehen von der nicht ganz unproblematischen blutdrucksenkenden Wirkung kommt bei Stevia ein weiterer gesundheitlich bedenklicher Kritikpunkt dazu:

Das Steviosid sitzt in den Blättern der Pflanze; diese werden getrocknet und zu einem grünen Pulver zermahlen, das sich prinzipiell schon zum Süßen eignet. Damit der Kuchen nicht in einem unappetitlichen Grün schimmert, entfernt man aber in der Regel zuvor noch die Blattfarbstoffe. Dadurch verbessert sich auch der Geschmack, der dann kaum noch von dem von Zucker zu unterscheiden ist.
(idw, 19. April 2005)

Das bedeutet, daß auch dieses "Naturprodukt" wie Rübenzucker chemisch bearbeitet, raffiniert, werden muß, damit es die für Verbraucher akzeptable, sterile "Weiße" erhält.

Ohne die chemische Bearbeitung verbleiben auch die Hauptbestandteile der Steviapflanze, die sogenannten Rebaudoside im Süßexstrakt, die einen anhaltenden bitteren Nachgeschmack verursachen und die man ebenfalls gerne aus dem Süßstoff entfernen möchte. Sie machen bis zu 3% der Blattmasse der Pflanzen aus.

Das Steviosid als natürliches "BIO"-Süßungsmittel der Zukunft wird sich mit dem exotischen Flair der Indianerkultur schmücken, gleichzeitig aber noch stärker chemisch bearbeitet sein als der als Genußmittel und Dickmacher verpönte Zucker, den es ablösen soll.

Erstveröffentlichung 22. April 2005
Neue, aktualisierte Fassung

8. Januar 2009