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PHARMAZIE/082: Naltrexon - soziales Fehlverhalten chemisch bekämpfen (SB)


Brave New World

Gesellschaftliches Fehlverhalten soll chemisch unterdrückt werden

Opioidantagonist wird nun auch gegen Kleptomanie eingesetzt


Wer fühlt sich hier nicht an den bekannten Science-Fiction Roman "Brave New World" erinnert, in dem mit Hilfe von "Soma", einer ausnahmslos verabreichten Allzweck-Droge, soziales Fehlverhalten aus-, menschliche Gefühle gleichgeschaltet und damit eine gut funktionierende, angepaßte Gesellschaft geschaffen wurde?

Die "Eine-für-alles-und-jeden" Pille haben wir zwar noch nicht erfunden, sind jedoch zumindest kurz davor, Menschen chemisch in Gutmenschen zu verwandeln.

Laut einer jüngeren Studie soll Naltrexon, ein in Deutschland besser unter den Handelsnamen "Nalorex" oder "Nemexin(R)" bekannter Opioidantagonist, der hier allerdings ebenso wie Naloxon nur als Antidot bei Opiatvergiftungen und -suchtentwöhnung eingesetzt wird, nun möglicherweise dabei helfen, Kleptomanen von ihrer speziellen Sucht zu befreien.

Untersuchungen dazu, die aufgrund der sozialen Fragestellung nur an Menschen durchgeführt werden können, finden derzeit schon in den USA statt, wo der Antagonist seit 2006 auch schon zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen ist. Jetzt könnte, auch wenn die Fallzahl der Studie für eine Zulassung womöglich zu gering ist, noch die Kleptomanie hinzukommen.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Dr. Jon E. Grant von der Universität Minnesota, der sich auch schon mit der medikamentösen Unterdrückung der pathologischen Spielsucht beschäftigt hat, will laut Nachrichtenagentur Reuters den Nachweis erbracht haben, daß die Droge der Sucht das Erregende nehmen könne, das den Kleptomanen dazu treibt, gesellschaftliche Grenzen zu verletzen und sich Fremdeigentum widerrechtlich anzueignen.

"It gets rid of that rush and desire," said Dr. Jon Grant, of the University of Minnesota, who led the study. ["Drang und Verlangen werden ausgemerzt", sagt Dr. Jon Grant, der Universität von Minnesota, der die Studie leitet. Übers. Schattenblick-Team]
(Associated Press, 31. März 2009)

Der Unterschied im Verhalten sei während die Einnahme der Droge signifikant gewesen, zumal die Testpersonen unter ihrem zwanghaften Verlangen stark gelitten hätten. In dieser Studie wurde nur 25 Freiwilligen, die nach eigener Aussage mindestens eine Stunde pro Woche "zwangsweise stehlen müssen", ein hochwirksames und durchaus nicht nebenwirkungsfreies Medikament verabreicht, um ihr Sozialverhalten zu ändern. Die Wirkung des Naltrexon, das anders als bei der sogenannten Substitutionsbehandlung mit Methadon oder anderen Opioiden, die in vielen Ländern auf vehemente Ablehnung stößt, bei der Bekämpfung der Heroinsucht keine weitere oder neue Abhängigkeit schaffen soll, besteht darin, daß nur der sogenannte Opiatrezeptor, der im Gehirn für euphorische Gefühle sorgt, blockiert wird. Anders gesagt, werden damit Glücksgefühle ausgeschaltet. Wobei nicht deutlich wurde, ob der Betroffene durch die Medikation und somit Unterdrückung sämtlicher "Freude" gewissermaßen gefühlsmäßig sanktioniert wird.

Mit Naltrexon läßt sich auch nur eine ganz bestimmte Suchtform, d.h. die sogenannte "Belohnungssucht" behandeln, die man vor allem von Alkoholikern oder Schokoholikern kennt: Schon der Anblick, der Geruch oder andere Wahrnehmung der möglichen "Belohnung" wie Schokolade, ein Alkohol, aber auch der Glücksspielautomat oder der Reiz fremden Eigentums soll in den entsprechenden Gehirnstrukturen die Ausschüttung körpereigener Glückshormone und somit positive Gefühle bzw. gesteigertes Verlangen auslösen.

Als Nebenwirkungen sind bei der Einnahme von Naltrexon dagegen Schlafstörungen, Angstzustände und gesteigerte Erregbarkeit beschrieben. Auch Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Gelenk- und Muskelschmerzen sowie Kopfschmerzen treten sehr häufig auf. Besondere Vorsicht ist bei Patienten mit eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion geboten. Das ist neben fehlender positiver Gefühle der Preis, den ein Süchtiger zu zahlen hat.

Laut Grant soll das "Raubverhalten" der Kleptomanen unter Einnahme von Naltrexon im Vergleich zu einer Placebogruppe deutlich abgenommen haben. Ihre Erkenntnisse haben die Forscher in der jüngsten Ausgabe des Journal of Biological Psychiatry veröffentlicht.

Tatsächlich hat sich Dr. Grant auch schon bei der Untersuchung der Wirkung von Naltrexon auf eine weitere unerwünschte soziale Erscheinung wie "der Spielsucht" hervorgetan. So heißt es auf der Internetseite "Medknowledge":

Das Opiat-Entwöhnungsmittel Naltrexon kann offenbar die Behandlung der pathologischen Spielsucht unterstützen. Entsprechende Ergebnisse einer randomisierten kontrollierten Studie wurden jetzt im Journal of Clinical Psychiatry (1) publiziert.

Danach hatte die gleiche Forschungsgruppe um Dr. Jon E. Grant Naltrexon bei sogenannten "pathologischen Spielern" angewendet. Der Erfolg ist mit dem bei den "notorischen Dieben" zu vergleichen:

Die Einnahme des Medikaments verspricht keinesfalls Heilung. Eine Reduktion der Spielhäufigkeit kann jedoch Patienten und Angehörigen helfen, mit der Sucht besser umzugehen und die finanziellen Folgen zu beschränken.

Dafür muß der vermeintlich Süchtige allerdings für den Rest seines Lebens regelmäßig stark wirksame Medikamente einnehmen, darüber hinaus ist eine ständige psychologische Überwachung des Patienten für den Therapieerfolg unerläßlich. Der Zugriff staatlicher oder medizinischer Einrichtungen auf das Individiuum wird dadurch immer selbstverständlicher:

Nach der Einschätzung von Grant war bereits die niedrigste Dosierung von 50mg/die Naltrexon (in der Studie drei Dosierungen 50, 100 oder 150 mg) effektiv, was eine gut verträgliche Therapie erwarten lässt. Der abschließende Beweis der Wirksamkeit bleibt einer Phase-III-Studie vorbehalten. Für Grant steht allerdings fest, dass das Medikament nur in Kombination mit einer individuellen (psychologischen) Betreuung sinnvoll ist..."Mehr im Deutschen Ärzteblatt... (Medknowledge Suchkatalog, Online-Fortbildung, Studie: Opiatentzugsmittel Naltrexon
(Nemexin) hilft gegen Spielsucht, 16. Juni 2008)

Angesichts dieser Möglichkeiten fragt man sich doch, wohin diese Entwicklung geht? Nächstes Objekt US-ärztlicher Begierden ist sicherlich die hier schon erwähnte Schokoladensucht, auch der Kaufsucht eines Angehörigen, die schon viele Familien in den finanziellen Ruin trieb, könnte medikamentös die Spitze genommen werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden Ärzte und Psychologen allerdings das aktuelle Lieblingsthema der Ernährungsmediziner, die Fettsucht (bzw. politisch, anglizistisch, korrekt die "Obesity"), aufs Korn nehmen. Wenn sich mit Naltrexon auch hier entsprechende Erfolge verzeichnen lassen, dann sind wir der schönen neuen Welt, mit ihren perfekten, schönen Menschen und dem gewissen "Soma" schon ein gutes Stück nähergekommen.

3. April 2009