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BERICHT/081: Der lange Weg zum sichtbaren Atom (DFG forschung)


forschung 4/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Der lange Weg zum sichtbaren Atom

Von Knut Urban


Seit Jahrhunderten kämpfen Physiker und Ingenieure gegen Abbildungsfehler von Mikroskopen. Mit hochauflösenden Durchstrahlungs-Elektronenmikroskopen haben sie die Schwächen weiter minimiert - und bringen so Forschung und Technik voran.


Am Anfang war der Blick durchs Mikroskop eine Kuriosität. Als die ersten Mikroskope aufkamen, wurden sie auf Jahrmärkten publikumswirksam zur Schau gestellt. Aber auch Forscher ließen sich früh von den Möglichkeiten der ersten, noch recht unvollkommenen Lichtmikroskope begeistern, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden. In der Wissenschaft wuchs schnell der Wunsch nach immer leistungsfähigeren Geräten, was ständig neue Entwicklungen anstieß. Doch der Weg zur modernen hochauflösenden Elektronenmikroskopie unserer Tage war lang - und an die Lösung einiger grundlegender physikalischer Fragen geknüpft.

Ein Meilenstein auf dem Weg zur Hochleistungsoptik mit ihren fehlerkorrigierenden Linsensystemen, die in Forschungsmikroskopen und modernen Digitalkameras für gestochen scharfe Bilder sorgen, war eine Erfindung des Physikers und Optikers Ernst Abbe (1840-1905). Durch eine sinnvolle Kombination von Sammel- und Zerstreuungslinsen, deren Abbildungsfehler sich gegenseitig kompensierten, war der Weg zu einem Mikroskopobjektiv von nie zuvor erreichter Qualität geebnet.

Dabei hatten bereits Isaac Newton und nach ihm Carl Friedrich Gauß erkannt, dass sphärische Linsen physikalisch unvermeidlich Abbildungsfehler aufweisen. Die beiden wichtigsten sind Öffnungsfehler, sphärische Aberration genannt, und Farbfehler, auch als chromatische Aberration bekannt. Aufgrund der sphärischen Aberration hat eine Linse für Strahlen, die unter großen Winkeln zur optischen Achse einfallen und die Randbereiche der Linse durchlaufen, eine höhere Brechkraft und somit eine kürzere Brennweite als für achsennahe Strahlen, die den Zentralbereich der Linse durchlaufen. Die Folge: Von einem Punkt in einem durchstrahlten Objekt entsteht in der Bildebene ein scharfes Bild, das von den achsennahen Strahlen stammt, und es entstehen unscharfe, überlagernde Bilder, die von den Randstrahlen erzeugt werden.

Es liegt nahe, zwischen Objekt und Linse eine Blende anzubringen, welche die Randstrahlen abhält. Doch für die Verbesserung der Bildqualität ist ein Preis zu zahlen: die Verschlechterung der Auflösung, Die chromatische Aberration führt aufgrund der von der Farbe, also der Wellenlänge des Lichtes, abhängigen Brechkraft ebenfalls zu unterschiedlichen Brennweiten der Linse und als Folge davon ebenfalls zu einer Überlagerung von scharfen und unscharfen Bildern.

Anfang der 1930er Jahre gelang es Ernst Ruska und Max Knoll, das erste Elektronenmikroskop zu bauen. Als Linsen für die Elektronenwellen dienten dabei ringförmige Magnetfelder, die mithilfe stromdurchflossener Spulen erzeugt werden. Aus der Wellenlänge der Elektronen berechneten die beiden Forscher, dass es zumindest theoretisch möglich sein sollte, die atomare Struktur der Materie abzubilden. Doch ihre Linsen wiesen so hohe Fehlerraten auf, dass an eine Realisierung atomarer Elektronenmikroskopie in Wirklichkeit nicht zu denken war.

Tatsächlich sollte es noch über 60 Jahre dauern, bis ein Weg gefunden war, fehlerkorrigierte Elektronenlinsen zu bauen. Dass der Weg zur modernen Höchstleistungselektronenmikroskopie so lang war, hat seine Ursache darin, dass sich auf der Basis zylindrischer magnetischer Felder nur Sammel-, aber keine Zerstreuungslinsen bauen lassen. Damit erschien der Elektronenoptik der von Abbe vorgeschlagene Weg, der die Lichtoptik zu ihren großen Erfolgen geführt hatte, verschlossen. Tatsächlich kam noch Ende der 1980er Jahre eine in den Vereinigten Staaten berufene Expertengruppe zu dem Schluss, dass die Fehlerkorrektur in der Elektronenoptik kein Weg zu höherer Auflösung sei.

Zu eben dieser Zeit machten sich in Deutschland drei Physiker, Harald Rose von der Technischen Universität Darmstadt, Maximilian Haider vom Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium und Knut Urban vom Forschungszentrum Jülich daran, eben dieses Ziel zu verwirklichen. Rose war es nämlich kurz zuvor gelungen, eine Zerstreuungslinse zu berechnen, die geeignet sein sollte, die sphärische Aberration der Objektivlinse eines Elektronenmikroskops zu korrigieren.

Dann gelang es Haiders Gruppe in Heidelberg, eine solche Korrekturlinse zu bauen und erfolgreich zu testen. Sie wurde in ein kommerzielles Mikroskop eingebaut, das eine Elektronenquelle besaß, welche Elektronen mit einer so geringen Energiebreite lieferte, dass man auf eine zusätzliche chromatische Korrektur verzichten konnte. Die ersten Bilder mit diesem Gerät wurden als eine Sensation gewertet. Zwar war der Durchbruch geschafft, aber es folgten weitere mühevolle Jahre, bis das erste aberrationskorrigierte Durchstrahlungs-Elektronenmikroskop der Welt im Jahr 2000 im Forschungszentrum Jülich seinen Betrieb aufnehmen konnte.

Worauf beruht das Prinzip dieser modernen Elektronenmikroskopie? Viele glauben, dass ganz ähnlich wie in der Lichtmikroskopie beim Durchstrahlen eines Präparates die Objekteinzelheiten dadurch sichtbar würden, dass die Elektronen lokal mehr oder weniger stark absorbiert werden und dadurch ein Hell-Dunkel-Eindruck, also ein Kontrast, entsteht.

In Wirklichkeit wird keines der Elektronen absorbiert, die Wechselwirkung der Elektronen mit den Atomen ist weit komplexen und wird durch die Quantenphysik beschrieben. Die Elektronenwellen erfahren im elektrischen Feld der Atome eine Phasendrehung, die man sich wie die Drehung eines Uhrzeigers veranschaulichen kann. Dabei dreht sich der Zeiger um so schneller, je näher die Elektronen an den Atomrümpfen vorbeilaufen.

Da man Phasendrehungen nicht wahrnehmen kann, muss man diesen "Phasenkontrast" erst noch in einen im Bild sichtbaren Hell-Dunkel-Kontrast umwandeln. Dies wird dadurch erreicht, dass die Objektivlinse um einen bestimmten Betrag defokussiert wird. Da ein Abweichen vom idealen Fokus einen Verlust an Schärfe der Abbildung bedeutet, muss zwischen Kontrast und Auflösung ein Kompromiss gefunden werden. Dieser wurde vor über 60 Jahren Otto Scherzer berechnet. Die nach dem theoretischen Physiker benannten Abbildungsbedingungen galten seitdem als Standard in der hochauflösenden Elektronenmikroskopie.

Schon in den ersten Monaten des praktischen Arbeitens mit dem neuen Elektronenmikroskop in Jülich zeigte sich, dass für die sogenannte Phasenkontrastmikroskopie ein neues Zeitalter begonnen hat. Dies ist der Entdeckung einer neuartigen Abbildungsweise zu verdanken, an die zuvor niemand gedacht hatte. Dafür stellt man die Korrektorlinse so ein, dass die Aberration der Objektivlinse um wenige Prozent überkompensiert, also um einen geringen Betrag negativ wird. Mit dieser Einstellung kann nicht nur eine wesentlich höhere Auflösung als in der klassischen Scherzer-Mode erzielt, sondern der Kontrast so erhöht werden werden, dass auch Atomarten, bei denen wegen ihrer kleinen Kernladungszahl die Elektronen nur wenig streuen, abbildbar werden; Sauerstoff zählt beispielsweise dazu.

Im Jahr 2005 sind die ersten kommerziellen, drei bis vier Millionen Euro teuren Durchstrahlungs-Elektronenmikroskope auf den Markt gekommen. Vor diesem Hintergrund haben das Forschungszentrum Jülich und die Rheinisch Westfälische Technische Hochschule Aachen das Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen ins Leben gerufen. Es hat seinen Sitz in Jülich und ist das bundesweit erste Nutzerzentrum auf dem Gebiet der ultrahochauflösenden Elektronenmikroskopie. Heute verfügt es über zwei, Anfang 2007 in Betrieb genommene Durchstrahlungs-Elektronenmikroskope der neuesten Generation. Die Forschungsmikroskope stehen der deutschen Forschung zur Verfügung.

Zurzeit erzielt die Hochleistungs-Elektronenoptik ihre bemerkenswertesten Ergebnisse bei der Erforschung der Oxide, einer der größten Materialklassen überhaupt. Dabei kann das für die Oxideigenschaften wichtigste Element, der Sauerstoff, nun erstmals direkt gesehen und seine Konzentration auf atomarer Ebene direkt gemessen werden.

Andere Arbeiten beschäftigen sich mit den Eigenschaften sehr dünner Schichten und Schichtsysteme, wie sie in zukünftigen Formen der Mikro- und Nanoelektronik eine Rolle spielen. Hier ist es jetzt gelungen, kleinste Verrückungen der Atome mit der zuvor nicht für möglich gehaltenen Genauigkeit von einigen Hundertstel eines Atomabstandes zu messen. Und die bringt den Fortschritt auf den Punkt: So unvorstellbar klein diese Abmessungen auch erscheinen mögen, sie bestimmen die Eigenschaften, welche die Stoffe im Großen haben.


Prof. Dr. Knut Urban ist Direktor am Institut für Festkörperforschung des Forschungszentrums Jülich und Professor für Experimentalphysik an der RWTH Aachen.

Adresse: Institut für Festkörperforschung des Forschungszentrums Jülich, Leo-Brandt-Str., 52428 Jülich

Das Jülicher Elektronenmikroskop wurde von der DFG im Rahmen einer Großgeräteinitiative unterstützt.


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Quelle:
forschung 4/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
S. 19-21
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2008