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FORSCHUNG/188: Überleben arktischer Pflanzen in der Eiszeit (Uni Erlangen)


uni.kurier.magazin - 107/September 2006
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

These, Antithese, DCG

Neue Theorie zum Überleben arktischer Pflanzen in der Eiszeit


Dass eine neue Theorie nicht unbedingt, wie landläufig gerne angenommen, ihre Vorgängerinnen widerlegen muss, sondern diese in alter dialektischer Tradition auch sinnvoll ergänzen und erweitern kann, zeigt die "debris covered glacier"-Theorie. Mit ihr lassen sich Fragen nach dem Überleben arktischer und alpiner Pflanzen während der Eiszeit klären, die mit Hilfe der althergebrachten Hypothesen gar nicht oder nicht befriedigend beantwortet werden konnten.


Schuttbedeckte Gletscher - Eiszeitliche Pflanzenrefugien?

Wie haben arktische und alpine Pflanzen die Hochglazial-Phasen während der Eiszeit überlebt? In dieser Frage dominierten bislang zwei gegensätzliche Hypothesen die Forschung. Die progressive "Nunatak"-Theorie geht davon aus, dass Teile der Pflanzensippen auf isolierten, eisfreien Bergkuppen - in der Inuit-Sprache eben Nunataks - Überleben konnten, die über die Gletscher herausragten. Die konservative tabula rasa-Theorie vertritt dagegen die Auffassung von der postglazialen Rückwanderung aller Arten aus dem Vorfeld der Inlandeismassen. Studien zur heutigen Pflanzenverbreitung auf schuttbedeckten Gletscheroberflächen zeigen eine stellenweise erstaunlich arten- und strukturreiche Vegetation. Das nährt die Vermutung, dass auch solche "debris covered glaciers" (DCG) der Dauer-Überwinterung während der Eiszeiten gedient haben könnten. Diese neue Hypothese vermag nicht nur die paläogeographische und -ökologische Forschung zu stimulieren. Sie hat auch genug Potential für eine Verknüpfung der beiden gegensätzlichen klassischen Theorien.


Schwarze Gletscher

Üblicherweise konzentriert sich Gletscherforschung bevorzugt auf schuttfreie "weiße" Gletscher. Dagegen sind Analysen "schwarzer", schuttbedeckter Gletscher seltener, da zum Beispiel Berechnungen zur Massenbilanz oder Reaktionen auf Klimaschwankungen wegen erschwerter Zugänge problematisch sind: Vereinzelt kann sich die Schuttmächtigkeit auf 15 Meter belaufen. Ein solcher "Schuttmantel" besteht aus Material unterschiedlichster Größe und Konsistenz. Das Spektrum reicht von großen Blöcken bis hin zu feinem Sand. Herkunftsquellen sind umgebende Felswände, Schnee- und Eislawinen oder Mittel- und unterschürfte Seitenmoränen. Ist die Schuttauflage mächtiger als 50 Zentimeter, reduziert oder verhindert sie ein Rückschmelzen der Gletscher.

Die raren Publikationen über Pflanzenwuchs auf schuttbedeckten Gletschern beschränken sich bislang auf einen Gletscher im südlichen Zentralchile, ein Teilgebiet in Zentral-Nepal und auf mehrere Beispiele in Alaska, über die zugleich die breiteste Fotodokumentation vorliegt. Für mehr als ein Dutzend schuttbedeckter Gletscher im südlichen Zentral-Alaska sind dichte Waldbestände mit Bäumen von über 50 Zentimetern Stammdurchmesser dokumentiert. Eindrucksvollste Beispiele sind die riesigen Vorlandgletscher Bering, Malaspina und Fairweather. Solche mobilen Pflanzenstandorte, die mit dem Gletscher talabwärts driften, sind weitaus häufiger als früher vermutet und keineswegs auf bestimmte Regionen beschränkt. Detaillierte Untersuchungen, die Prof. Michael Richter zusammen mit seinen ehemaligen Mitarbeitern Dr. Friederike Grüninger und Dr. Thomas Fickert durchgeführt hat, beruhen auf Feldstudien von Gletschern in semiariden, semihumiden und humiden Gebieten, also in nahezu allen Klimazonen. Untersuchungsobjekte waren unter anderem der Gonga Gomba Gletscher am Gonga Shan und der Oitagh Gletscher im Kunlun (Südwest- bzw. West-China), der Ventisquero Blanco am Monte Tronador (südliches Chile), der Carbon Glacier am Mount Rainier (Washington, USA) und der Miage Gletscher auf der Südseite des Mont Blanc im italienischen Aosta-Tal. Das Resultat: überall finden sich erstaunlich dichte oder zumindest vielfältige Vegetationsdecken. Auf dem Miage Gletscher gibt es beispielsweise über 80 Gefäßpflanzen-Arten, und auf dem Ventisquero Blanco ragen einzelne 10 Meter hohe Bäume über eine vollständig deckende Stauden-Gras-Flur auf.


Was wächst auf Gletschern?

Generelle Regeln zu Ausbreitung und Wuchsform der Pflanzen bestehen nicht. In wenigen Fällen stammen die Teilhaber auf den schuttbedeckten Eiskörpern von unterfahrenen Seitenmoränen oder von aufgeglittenen Rutschungen aus den angrenzenden Hängen und bilden Flecken einer allochthonen, ortsfremden Vegetation. Häufiger erfolgt aber eine autochthone Besiedlung der Schuttoberflächen auf herkömmliche Samenausbreitung mit Hilfe des Windes oder von Tieren, und zwar von bereits etablierten Individuen auf dem Gletscher selbst beziehungsweise von umliegenden Standorten aus.

Zu den erfolgreichsten Wuchsformen, die sich auf Gletschern ansiedeln, gehören (Zwerg-) Strauch-Pioniere mit weitläufig ausgeprägtem Wurzelsystem. Aber auch viele Vertreter späterer Entwicklungsstadien nach Neubesiedlung und sogar aus reifen Pflanzengemeinschaften treten auf. Zu den kuriosesten Beobachtungen zählen kissenförmige Kakteen und Erd-Orchideen auf dem 4400 Meter hoch gelegenen Glaciar Kinzl in Peru. Neben floristischen Übereinstimmungen entsprechen selbst die Ökosystem-Funktionen der "glazialen" Vegetation jenen der benachbarten "terrestrischen" Systeme, wie etwa ein für boreale Nadelwälder typisches Wildfeuer auf dem Ruth Glacier in Alaska im Jahr 1997 belegt (die boreale Zone ist eine Vegetationszone, die nur in der nördlichen Hemisphäre vorkommt; zwischen dem 50. und dem 70. Breitengrad umspannt sie die Erde mit einem mindestens 700 Kilometer breiten Gürtel). Wenn es also weder konkrete "Gletscher-Spezialisten" noch eindeutige "Gletscher-Ökosysteme" gibt, sondern vielmehr eine Gemeinschaft aus bunt zusammengewürfelten Arten und Lebensformen auf heutigen Gletscher-Oberflächen zu gedeihen vermag, so stellt sich die Frage, warum während der pleistozänen Vereisungen nicht ebenfalls derartige Refugien auf tiefer gelegenen Gletscherzungen möglich gewesen sein sollen.

Mit dieser These lassen sich offene Fragen beantworten, die sich mit der tabula rasa-Hypothese nicht und mit der Nunatak-Theorie kaum klären lassen. Ein aktuelles Beispiel sind die kürzlich von einem schwedischen Geographen an der Baumgrenze im westlichen Sektor des skandinavischen Gebirges entdeckten 8000 Jahre alten Fichten-Makrofossilien. Eine Einwanderung von Osten aus konnte zu dieser postglazialen Phase noch nicht erfolgt sein. Denn aus Pollenanalysen hat sich ergeben, dass erste Fichtenvorkommen erst vor 4000 Jahren wieder in Ostschweden heimisch wurden - mit erheblicher Verzögerung zum Abschmelzen der ausgedehnten Inlandvereisung. Was liegt also näher, als dass die nachgewiesene rasche Wiederbesiedlung der Skanden durch Nadelbäume von Westen aus erfolgte, mithin also von jenen tief reichenden Gletschern aus, die zur Entstehung der Fjordlandschaft führten?


Die DCG-Theorie

Die neue "debris covered glacier"-Theorie ergänzt die beiden bestehenden Hypothesen ohne sie zu widerlegen. Während Nunataks dem langfristigen Überleben einzelner Pflanzenarten nur kleine, weit verstreute und frostige Refugien boten, vergrößerten ehemals schuttbedeckte Gletscher die potenziellen Wuchsflächen beträchtlich. Zudem reichten die Gletscher nach kalteiszeitlichen Maßstäben weit hinunter in "mildere" Klimate im westlichen Tief- bzw. Vorland, so dass sich die Wuchsstandorte im Zungenbereich der Gletscher gegenüber herausragenden Nunataks für Pflanzen als thermisch deutlich komfortabler erwiesen. Gleichermaßen wird die tabula rasa-Theorie nicht gänzlich verworfen, denn die stark verzögerte Rückkehr von Koniferen (Zapfenträger) aus den bis zum Ural vereisten östlichen Gebieten bestätigt eine durchschlagende Eliminierung der Vegetation in diesem Bereich ehemals weitflächiger Inlandvereisung.

Es bleiben noch drei Fragen: Erstens, woher soll der Schutt in Gebieten eines zusammenhängenden Eisschildes stammen, solange ein Gebirge weitgehend von Gletschern überdeckt ist und herausragende Felspartien rar sind? In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass zu Beginn einer Kaltphase die Schuttmassen, die durch mechanische Verwitterung zum Transport bereit lagen, für die folgenden Gletscher der glazialen Hochphasen zu umfassend waren, um gänzlich ausgeräumt zu werden, und stattdessen unterfahren bzw. auf die Zunge aufgehoben wurden. Das Bild der riesigen "Eisfladen" im Vorfeld der Küstengebirge in Alaska erhärtet diese Überlegung. Solche "piemont glaciers" vermitteln einen Eindruck der eiszeitlichen Küstengebirge in hohen Breitengraden: So wie heute auf dem Malaspina Glacier dürften im Vorfeld westlich der Fjordlandschaften der Skanden, in den nordamerikanischen Coast Ranges und in den patagonischen Anden ausgedehnte Schuttmassen auf Gletschern auch seinerzeit Wäldern Zuflucht geboten haben.

Zweitens stellt sich die Frage, inwiefern auf dem Eisstrom abwärts wandernde Pflanzen nicht spätestens beim Kalben an der Gletscherzunge in den Ozean oder zumindest auf das Vorfeld abstürzten. Dies war sicherlich der Fall. Jedoch konnten Samen der meisten Arten zugleich von starken aufsteigenden Winden profitieren, die sie in höhere Gletscherbereiche transportierten. Funde vitaler Pflanzen, deren Samen vom Wind sogar oberhalb ihres normalen Verbreitungsgebiets in die höchsten Schuttlagen auf Gletschern getragen werden, belegen einen Zyklus aus aufwärtiger Samen-Ausbreitung und abwärtiger Pflanzen-Wanderung.

Dies führt zur dritten Frage, ob alle Arten, die auf schuttbedeckten Gletschern auftreten, in der Lage sind, sich dort zu reproduzieren. Unsere eigenen Studien belegen, dass dies für die bei weitem meisten Kräuter und Gräser durchaus zutrifft. Ebenso zeigen Erlen und Weidenbäume lebhafte Fruchtreife und raschen Aufwuchs. Nadelbäume tendieren dagegen zu schwächeren Zuwachsraten. Ein Beispiel: 25 bis 35 Jahre alte Lärchen auf dem Miage Gletscher oder Fichten auf dem Gonga Gomba Gletscher zeichnen sich durch gedrungenen Wuchs von maximal zwei Metern Höhe aus. Ebenso wenig scheinen sich während dieser ersten Jahrzehnte Zapfen zu bilden, jedoch trifft dies für reife Waldbestände wie jene in Alaska durchaus zu.

Natürlich ist die DCG-Theorie nicht für alle Hochgebirgsregionen als Erklärung einer raschen Wiederbesiedlung von Nöten. In den beiden Amerikas diente beispielsweise der Nord-Süd-Verlauf der Gebirgsketten als Migrationsweg, indem er während der Eiszeiten (ant)arktischen Pflanzen eine Chance bot, geeignete Rückzugsstandorte in niedrigeren Breiten zu finden. Ebenso vermochten sich viele Pflanzenarten auf das periglaziale Umfeld ihres Herkunftsgebirges zu verteilen (z.B. östlich der patagonischen Anden, in Hochasien oder auch in den mittel- und südeuropäischen Gebirgen). In diesen Fällen mögen schuttbedeckte Gletscher zwar die Rückeroberung der ehemals vereisten Gebiete durch einige Sippen begünstigt haben, waren zu diesem Zweck aber nicht zwingend erforderlich. In anderen Fällen, insbesondere entlang der Westseite jener Hochgebirge mit steilen Fjordküsten wie in Skandinavien, Alaska, West-Kanada und Patagonien, blieben aber nur wenige und kleine eisfreie Gebiete von den Eismassen verschont. Hier dürften für einige Pflanzensippen "schwarze" Gletscher als überlebens-wichtige Refugien von erheblicher Bedeutung gewesen sein.


Informationen:
Prof. Dr. Michael Richter
Institut für Geographie
Tel.: 09131/85-22015
mrichter@geographie.uni-erlangen.de


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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 107/September 2006, S. 84-86
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2007