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FORSCHUNG/189: Die Wachposten vom "System Erde" (FTE info)


FTE info - Sonderausgabe EIROforum - Februar 2007
Magazin über europäische Forschung

Die Wachposten vom "System Erde"


Angesichts der alarmierenden Entwicklung der Umweltbedingungen fällt der Weltraumtechnologie eine wichtige Rolle zu. Sie muss eine Diagnose erstellen, den Behandlungsplan aufstellen und darauf achten, dass dieser auch ordnungsgemäß eingehalten wird...


Bereits vor meinem Flug wusste ich, dass unser Planet klein und verwundbar ist. Doch erst als ich ihn in seiner unsagbaren Schönheit und Zartheit aus dem Weltraum sah, wurde mir klar, dass der Menschheit wichtigste Aufgabe ist, ihn für zukünftige Generationen zu hüten und zu bewahren." Diesen Satz schrieb vor 30 Jahren Sigmund Jähn, der erste deutsche Kosmonaut. Er könnte pathetisch klingen, hätten nicht seitdem Dutzende von Astronauten unterschiedlichster Nationalitäten ähnliche Worte gefunden.


Das Anthropozän

Muss man in noch weiterer Entfernung nach einer Erklärung für den Eifer suchen, mit dem die ESA seit Jahren immer größere und modernere Satellitensysteme in den Dienst eines weltweiten Konzepts der nachhaltigen Entwicklung stellen will? Das von der Weltraumorganisation seit dem Jahre 2004 koordinierte Programm Lebender Planet strebt insbesondere "eine zentrale Rolle beim Verständnis des Planeten Erde, bei der Voraussage der Veränderungen und bei der Begrenzung der negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Bevölkerung an."

Der Klimawandel ist nicht auf die globale Erderwärmung beschränkt. Abgesehen von der Atmosphäre, sind die tiefgreifenden Veränderungen, die der Mensch in nur 150 Jahren auf dem gesamten Planeten hervorgerufen hat, so gewaltig, dass der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen den Neologismus Anthropozän geprägt hat, um das gegenwärtige Erdzeitalter zu beschreiben. Dieser Ausdruck zeigt, in wieweit das "Zeitalter des Menschen" Quelle unzähliger globaler Prozesse ist, angefangen bei der Entwicklung der Spezies bis hin zum Kohlenstoff-, Stickstoff- und Wasserkreislauf.

Außerdem und das rechtfertigt den Begriff System Erde, der Ende des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, kann man die Entwicklung unseres Planeten nur verstehen, wenn man die verschiedenen Sphären, aus denen sie besteht und die miteinander vernetzt sind, als ein System betrachtet: die Biosphäre (die Gesamtheit aller Organismen), die Kryosphäre (die von Eis bedeckte Oberfläche), die Ozeane, die Kontinente und natürlich die Atmosphäre. Um die Dynamik der verschiedenen Sphären und insbesondere die Folge ihrer Wechselwirkungen zu verstehen, muss man zunächst Verhaltensweisen und Korrelationen kennen. Als nächstes muss ihre gemeinsame Evolution anhand der Modellbildung vorhergesagt werden können.


Die medizinische Beobachtung des Planeten

Die Satelliten sind von diesem Standpunkt aus wahre Erdbeobachtungszentren. Sie liefern unzählige Bilder. Mit Hilfe von äußerst genauen Satelliten-Höhenmessern wird jetzt der stetige Anstieg der Meere aufgrund der Erderwärmung aufgezeichnet, unabhängig von den tektonischen Bewegungen der Kontinente, die die herkömmlichen Messungen mit Gezeitenmessern beeinträchtigen können. Sollte sich dieser Anstieg beschleunigen, kann dies normalerweise umgehend festgestellt werden. Carl Wunsch, einer der Pioniere dieser Höhenmesser, hebt hervor, dass "uns diese Geräte zeigen, wie sich das Meeressystem täglich grundlegend ändert, wodurch sich unsere Sichtweise gewandelt hat. Wir neigten dazu, diese Veränderungen als ein geophysisches Phänomen zu betrachten. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass es sich um ein viel komplexeres System handelt, dessen Flüssigkeit sich ständig in alle Richtungen bewegt."

Gleichzeitig wird die Entwicklung des Eises gewissenhaft beobachtet. Die von den ERS-Satelliten aufgenommenen Bilder zeigen, wie die grönländische Eiskappe Jahr um Jahr abschmilzt und die Forscher verfolgen die Wechselwirkungen mit dem Wasserspiegel. Ein anderes Beispiel: Die von Envisat im August 2006 gesendeten Bilder lassen im Packeis eine unerwartete, enorme Spalte bis zum Nordpol erkennen. "Ein derartiges Phänomen wurde zuvor noch nie beobachtet", urteilt Mark Drinkwater, von der Forschungsgruppe Ozean/Eis an der ESA. "In dieser Spalte könnte theoretisch ein Schiff von Spitzbergen oder von Sibirien bis zum Nordpol hinauffahren."


Die Auswirkungen des Menschen kontrollieren

Andererseits entgeht den scharfen Augen der Satelliten praktisch keine der Auswirkungen, die die menschlichen Aktivitäten auf den Planeten verursachen. Entwaldung, Urbanisierung - insbesondere der Küstengebiete - , Störungen des hydrographischen Systems durch den Bau von Kanälen, Trockenlegung von Feuchtgebieten, Errichtung von Staudämmen... Alles wird systematisch von den Erdbeobachtungs - satelliten bei ihrem Überflug aufgezeichnet. Auf diese Weise wird auch die weltweit steigende Anzahl der Waldbrände im World Fire Atlas erfasst, in den die Daten sofort nach ihrer Erfassung eingefügt werden.

Diese ständig aktualisierte Datensammlung ist eine völlig neue Wissensquelle für die Forscher", bemerkt Matt Fitzpatrick von der Abteilung Ökologie und Evolutionäre Biologie. "Sie wird es Umweltforscher ermöglichen, bislang ungelöste Fragen zum Wiederaufbau der natürlichen Umwelt nach einem Brand in einem neuen Licht zu untersuchen und entsprechende Lehren daraus zu ziehen." Ein großer Teil unserer Gasemissionen (Methan, Stickoxid) sind ebenso im Weltraum sichtbar wie die Auswirkungen bestimmter Umwelt - katastrophen (wie z. B. Ölteppiche) und Naturkatastrophen (Folgen von Tsunamis, Vulkanausbrüchen usw.).


Modelle zum Entschlüsseln

Feststellungen sind der erste Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Verständnis dieser Phänomene. Um ihre Triebkräfte und Wechselwirkungen zu entschlüsseln, müssen Modelle eingesetzt werden, anhand derer die verfügbaren Daten und Kenntnisse möglichst präzise dargestellt werden können. Diese Modelle werden ständig verfeinert, kalibriert und vor allem im Licht der neuen Satellitendaten, die von immer leistungsstärkeren Computern ausgewertet werden, getestet. Sie stellen den Versuch dar, das System Erde ununterbrochen neu aufzubauen. Längerfristig können selbst die Reaktionen oder die Passivität der menschlichen Gemeinschaft gegenüber den Umweltveränderungen (Dürreperioden, Überschwemmungen, Erwärmung oder Abkühlung der Jahreszeiten, Anstieg des Meeresspiegels usw.) im Modell dargestellt werden, denn sie sind für die Funktion des Systems von wachsender Bedeutung. Keine leichte Aufgabe...

Falls die internationale Gemeinschaft endlich Maßnahmen zum Schutz des Systems Erde vor der drohenden Destabilisierung ergreift, was auf jeden Fall zu hoffen ist, würden sich daraus neue Missionen für die ESA ergeben. Dann müsste auf jeden Fall die Einhaltung der internationalen Abkommen überwacht werden. Wer weiß, vielleicht besteht die Schlüsselrolle der ESA auch darin, die Menschheit mit vielen schönen aber auch erschreckenden Bildern ihres Planeten zu versorgen, damit seine Bewohner, genau wie die Astronauten, endlich verstehen, dass er ihr wertvollstes Erbe ist.


Erdbeobachter

Für den Zeitraum bis 2012 hat das Programm Lebender Planet bereits sechs sogenannte Earth Explorer-Missionen geplant. Während die ESA früher imposante Raumfahrzeuge mit einer großen instrumentellen Ausstattung bevorzugte, besteht die heutige Strategie darin, mit kleineren und zielgerichteten Geräten Antworten auf die dringendsten Fragen der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu finden.

GOCE (Gravity Field and Steady State Ocean Circulation Explorer) - Start 2007. GOCE wird auf das Schwerefeld unseres Planeten ausgerichtet und wird Informationen sowohl über die Ozeanzirkulation als auch über den inneren Aufbau der Erde liefern.

SMOS (Soil Moisture and Ocean Salinity) - Start 2007. Kartographierung der Bodenfeuchtigkeit und des Salzgehaltes der Ozeane. Verbesserung unseres Verständnisses vom Wasserkreislauf.

ADM-Aeolus (Atmospheric Dynamics Mission) - Start 2008. Messung der Windprofile in der Atmosphäre.

CryoSat-2. - Start 2009 (als Ersatz für CryoSat 1, abgestürzt im Jahr 2005). Untersuchung der Stärke von Landeis und Meereis sowie ihrer Veränderungen.

Swarm - Start 2010. Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von drei Satelliten zur Untersuchung der Dynamik des Magnetfelds der Erde. Ziel: Besseres Verständnis des Erdinneren und des Klimas.

EarthCARE (Earth Clouds Aerosols and Radiation Explorer) - Start 2012. Untersuchung der Strahlungsbilanz der Erde (japanisch-europäisches Projekt).

Weitere Projekte zur Fortsetzung dieser Missionen sind in Vorbereitung.


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Das Global Ozone Monitoring Experiment-2 (GOME-2), eines der Geräte der neuen Generation, soll durch die Erfassung von Daten zur Ozonkonzentration einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Atmosphäre leisten.

> Die von den Satelliten gelieferten Bilder haben der Erforschung des Systems Erde zu ähnlichen Fortschritten verholfen wie die Bildgebungstechniken MTR, Scanner, Röntgenographie, Echographie in der Medizin. Surinam und Französisch-Guayana "von oben gesehen"

> Grönland in einer Aufnahme des Meris-Spektrometer (Medium Resolution Imaging Spectrometer). Das Eis hebt sich unten auf dem Bild von den Wolken ab.


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Quelle:
FTE info - Sonderausgabe EIROforum, Februar 2007, Seite 36-37
Magazin über europäische Forschung
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2006
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FTE info wird auch auch auf Englisch, Französisch und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2007