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FORSCHUNG/197: Die Geheimnisse des "gläsernen Berges" (DFG forschung)


forschung 3/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Geheimnisse des "gläsernen Berges"
Auch in der Natur kommen Gläser vor. Wenn ihre Entstehungsmechanismen und Eigenschaften erforscht werden, ist das zugleich für die Schaffung neuer Materialien und für technische Anwendungen von großem Wert.

Von Klaus Heide


Gläserne Berge haben die Phantasie der Völker beflügelt. In Märchen finden sich immer wieder die Herausforderungen beschrieben, die mit der Überwindung von gläsernen, scheinbar unzerstörbaren Hindernissen verbunden sind. Diese Zuschreibung von Haltbarkeit und Dauer stehen in offensichtlichem Gegensatz zu dem alltäglichen Bild von Glas und seinen Eigenschaften. Glas mit seinen teilweise faszinierenden Farben und Formen gilt als brüchig und wenig haltbar; der "glasige Zustand" wird gern mit "Kurzlebigkeit" gleichgesetzt.

Diese verbreitete Vorstellung eines labilen, glasigen Zustands steht in bemerkenswertem Kontrast zu einer modernen Technologie, die verspricht, die Gefahren toxischer Sonderabfälle bannen zu können. In der "Verglasung" radioaktiver Abfälle wird heute von den Betreibern der Kernkraftwerke eine Lösung für die "Endlagerung" gefährlicher Abbauprodukte gesehen. Nicht nur diese hoch brisante Zukunftsfrage macht es erforderlich, die Eigenschaften von Glas genau zu kennen.

Zwei Kernfragen stehen dabei im Vordergrund: Besitzt Glas mit seinen gelösten Stoffen und deren chemischen und physikalischen Reaktionen eine Beständigkeit, die für die Fixierung der toxischen Stoffe in einer Zeitspanne von mehr als tausend Jahren erforderlich ist? Und wie reagiert das Glas mit seinem natürlichen Umfeld bei geologischen und geophysikalischen Prozessen? Während die erste Frage heute in erster Linie ein Gegenstand der Materialwissenschaften ist, richtet sich die zweite Frage auch an die Geowissenschaften. Das Lösen dieser Aufgabe legt geowissenschaftlich orientierte Studien nahe, die in den letzten Jahren am Institut für Geowissenschaften der Universität Jena in Kooperation mit armenischen und türkischen Kooperationspartnern betrieben wurden.

Mithilfe zahlreicher Laborexperimente kann heute die Haltbarkeit technisch erzeugter Gläser bestimmt werden. Hierbei liegt der Prognosezeitraum im Bereich von Jahren. Größere Zeiträume, das heißt Zeitspannen zwischen hundert und tausend Jahren, lassen sich in einigen Fällen aus archäologischen Befunden ableiten. Diese Zeiträume sind jedoch für die Erfordernisse im Zusammenhang mit der Endlagerung von Sonderabfällen nicht ausreichend. Für eine gesicherte Bewertung der Haltbarkeit verglaster Abfälle ist eine geologische Zeitskala von mehr als tausend Jahren erforderlich.

So bietet sich ein Studium der in der Natur in vorgeschichtlicher Zeit gebildeten Gläser an. Dabei lässt sich feststellen, dass die "gläsernen Berge" keineswegs nur Märchenphantasien sind. In bestimmten Gegenden können sie bestiegen und genauer studiert werden: zum Beispiel die gläsernen Felsklippen im Triebisch-Tal bei Meißen in Sachsen, die nicht nur als geomorphologische Formation interessant sind. Das Material dieser Klippen, der sogenannte Pechstein, ist trotz seines hohen Alters von mindestens 300 Millionen Jahren immer noch ein Glas. Offensichtlich hat es unter den wechselnden klimatischen Bedingungen in dieser Region die letzten 10 000 Jahre wesentlich besser überstanden als die benachbarten kristallinen Gesteine.

Lediglich eine nur wenige Millimeter dicke Verwitterungskruste bedeckt das grüne, schwarze oder rotbraune pechartig glänzende Glas. Dieses durch vulkanische Aktivitäten im erdgeschichtlichen Karbon (beginnend vor 360 Millionen Jahren) entstandene Glas unterscheidet sich von anderen natürlichen Gläsern, den Obsidianen, besonders im Wassergehalt. Während die Pechsteine bis zu zehn Prozent ihrer Masse Wasser enthalten können, liegt der Wassergehalt der Obsidiane meist unter ein Prozent. Obsidiane haben sehr unterschiedliche Alter, zum Teil sind sie mehrere Millionen Jahre alt. Auch von den Obsidianen gibt es riesige Vorkommen, die durchaus märchenhafte Dimensionen, zum Beispiel in Landschaften Armeniens, der Türkei oder Italiens annehmen. Nach ihrem äußeren Zustand zu urteilen, sind sie so "frisch" wie neu produziertes technisches Glas.

Ihre Eigenart wird durch verschiedene Kristalle in einer glasigen Struktur bestimmt. Die Formen der Kristalle geben wie Buchstaben in einem Buch Auskunft über die Entstehungsgeschichte. Sie bieten damit eine wichtige Informationsquelle. In ihrer Gesamtheit ergeben sie die "Worte" zu einem "Text", dessen Entzifferung noch bei Weitem nicht abgeschlossen ist. Interessant sind die physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser Gläser. Die Transformation der Obsidiane in eine Schmelze erfolgt bei deutlich höheren Temperaturen als bei den meisten technischen Gläsern. Bei Fensterglas erfolgt die Umwandlung ab etwa 560 Grad Celsius. Für einen Obsidian der nördlich von Sizilien gelegenen Insel Lipari erfolgt diese Transformation über 700 Grad Celsius, und bei einem Obsidian des armenischen Vulkans Arteni liegt dieser Wert bei 830 Grad Celsius. Die Werte sind somit höchst unterschiedlich.

Die Glasstruktur bestimmt den Prozess der Glastransformation. Die Vernetzung der einzelnen Bausteine beeinflusst ganz entscheidend das Fließverhalten glasbildender Schmelzen. Je höher der Transformationsbereich liegt und je größer dieser (in der Sprache der Glasmacher: je "länger" das Glas) ist, desto "zäher" ist das Glas bei vergleichbaren Temperaturen. Diesen Sachverhalt nutzt der Glasmacher bei der Verarbeitung des Glases, indem er die chemischen Bausteine variiert und sich zugleich das Fließverhalten natürlicher glasbildender Schmelzen zunutze macht. So bestehen technische Gläser in der Regel aus wenigen Grundkomponenten - Fensterglas etwa aus Sand, Soda und Kalk. Je nach technischer Verwendung werden die Eigenschaften durch Zusätze wie Kalium, Aluminium, Bor oder Fluor weiter verändert. Die Obsidiane und Pechsteine dagegen sind oxydische Vielkomponenten-Gläser.

Eine völlig andere Geschichte erzählen Gläser ähnlicher chemischer Zusammensetzung, die in zahllosen Einzelstücken auf der Erdoberfläche gefunden werden können. Sie bildeten sich offensichtlich in sehr kurzer Zeit an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche, zum Beispiel in Nordamerika vor etwa 36 Millionen Jahren, in Tschechien vor 14 Millionen Jahren, an der Elfenbeinküste vor einer Million Jahren oder im australisch-indochinesischen Raum vor 900 000 Jahren. Alle diese Gläser, sogenannte Tektite, sind trotz ihres hohen Alters ebenfalls noch erstaunlich gut erhalten. Im Gegensatz zu den vulkanischen Gläsern enthalten sie so gut wie keine Kristalle, jedoch viele Schlieren und Blasen.

Sie sind extrem wasserarm, das heißt, sie enthalten deutlich weniger Wasser als die Obsidiane oder Pechsteine, aber auch als technisch produzierte Behälter- oder Fenstergläser. Diese Gläser scheinen das Ergebnis einer Kollision eines kosmischen Körpers mit dem Erdplaneten zu sein. Hierbei wurden Teile der Erdkruste in sehr kurzer Zeit verdampft und aufgeschmolzen, und Schmelztropfen kühlten beim Rückfall auf die Erdoberfläche sehr schnell ab.

Entscheidend für die Glasbildung an der Erdoberfläche sind die chemische Zusammensetzung und der Bildungsprozess. Gegenüber den technisch erzeugten Gläsern enthalten die natürlichen Gläser der "Glasberge" und die Tektite deutlich mehr Aluminium (etwa zehn Prozent gegenüber bis zu drei Prozent der Masse in technischen Massegläsern). Gläser mit der Zusammensetzung der Obsidiane, Pechsteine oder Tektite sind nur bei Temperaturen über 1700 Grad Celsius im Labor zu synthetisieren. Dieser Vorgang vollzieht sich bei Temperaturen, die in der Natur bei vulkanischen Prozessen bisher nie beobachtet wurden. Unter dem Mikroskop erkennt man, dass die Fließfähigkeit der natürlichen Schmelzen sehr hoch gewesen sein muss. Zur Herabsetzung der Zähigkeit solcher Schmelzen sind an der Erdoberfläche Temperaturen deutlich über 1700 Grad Celsius oder aber entsprechende Zusätze erforderlich. Aus diesen und weiteren Beobachtungen lässt sich ableiten, dass eine Verglasung von Abfällen in obsidianähnlichen Gläsern mit konventionellen technologischen Verfahren kaum in Betracht kommt.

Doch angesichts mächtiger Vorkommen in vielen Regionen der Erde stellt sich die Frage nach einer sinnvollen Nutzung dieses wertvollen Rohstoffs. Zahlreiche Werkzeuge und Gegenstände belegen, dass diese Materialien in der Kulturgeschichte der Menschheit eine wichtige Rolle gespielt haben. Im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschheit und ihrer Umwelt vor den Folgen der technologischen Entwicklungen, wie der Kernkraft, bleibt es eine Herausforderung, die Eigenschaften und Entstehungsbedingungen für diese natürlichen Gläser weiter zu erforschen, damit intelligente Lösungen für deren technische Nutzung entwickelt werden können.

Ein Ergebnis der bisherigen Studien: Kompakte Materialien aus natürlichem Glas zu schaffen, ist nicht nur mit hohen Temperaturen möglich. So bestehen Teile der Glasmassen offensichtlich aus wiederverschweißten Glasbruchstücken, die massive Blöcke bilden. Über die Bedingungen zur Bildung solcher dicht verschweißten Glasbruchstücke bestehen nur vage Vorstellungen. Aus der Form der Bruchstücke kann man ableiten, dass diese nicht länger über die Glastransformationstemperatur erhitzt wurden. Die Entwicklung einer Technologie zur Verschweißung solcher Bruchstücke, eventuell direkt mit den Schadstoffen als Flussmittel, könnte aus dem Obsidian einen interessanten Rohstoff für einen nachhaltigen Umweltschutz machen.

Die "Endlagerung" solcher Blöcke mit darin fixierten Schadstoffen in "gläsernen Bergen" beinhaltet eine umweltfreundliche Zukunftsoption. Nicht zuletzt für wirtschaftlich schwache Länder mit großem radioaktiven Schadstoffpotenzial wie Armenien würden sich so neue Perspektiven zur Lösung aktueller Entsorgungsprobleme sowie zur Nutzung geeigneter Rohstoffe für den globalen Umweltschutz eröffnen.


Prof. Dr. Klaus Heide ist emeritierter Professor für Mineralogie an der Universität Jena.

Adresse:
Universität Jena, Chemisch-Geowissenschaftliche Fakultät
Burgweg 11, 07749 Jena

Die DFG hat Teilvorhaben der Grundlagenforschung in der Einzelförderung unterstützt.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Ein vulkanisches Glas, Obsidian genannt, aus dem türkischen Sirikli Tepe. Die in der glasigen Struktur eingeschlossenen Kristalle geben detailliert Auskunft über die Entstehungsgeschichte.

> Eine Komposition der Natur: Schlieren und Blasen setzen in einem hellgrünen Moldavitglas aus Tschechien Akzente. Gläser wie diese sind durch den Einschlag von Meteoriten auf der Erdoberfläche entstanden.

> Ein Obsidian-Steinbruch in Armenien.


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Quelle:
forschung 3/2007 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
S. 24-27
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2008