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FORSCHUNG/254: Der unbekannte Baustein der Erde (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 10/10 - Oktober 2010

Mineralogie
Der unerkannte Baustein der Erde

Von Kei Hirose


Die Entdeckung eines neuen Minerals mit hoher Dichte lässt den Erdmantel weitaus unruhiger erscheinen als bislang vermutet. Daraus ergeben sich aufregende Schlussfolgerungen für die Erdgeschichte.


In Kürze
Der häufigste Mineraltyp des unteren Erdmantels ändert bei hohen Druck, wie er nahe der Grenze zum Erdkern vorliegt, seine Struktur und wird dichter.
Aus der Existenz dieser dichteren Phase ergibt sich, dass der Erdmantel dynamischer ist und Wärme effizienter transportiert als lange angenommen.
Der raschere Wärmetransport hilft zu erklären, warum Kontinente so schnell gewachsen sind und sich das Erdmagnetfeld sehr früh schon so verstärkte, dass es den Sonnenwind und die kosmische Strahlung abschirmte, was den Leben erlaubte, an Land zu gehen.

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Das tiefste jemals von Menschen gebohrte Loch reicht auf der russischen Halbinsel Kola zwölf Kilometer hinab. Während sich ein Raumfahrzeug auf dem Weg zum rund sechs Milliarden Kilometer von der Sonne entfernten Pluto befindet, können wir immer noch keine Sonde ins Erdinnere schicken. De facto ist das nur 6380 Kilometer unter unseren Füßen gelegene Zentrum unseres Planeten also weiter entfernt als der Rand des Sonnensystems. Bezeichnenderweise wurde die Existenz des inneren Erdkerns anhand seismischer Wellen erst 1930 bewiesen sechs Jahre nach der Entdeckung Plutos.

Dennoch haben die Geowissenschaftler eine erstaunliche Fülle von Erkenntnissen über das Innere unseres Planeten zusammengetragen. Aufgebaut ist er ähnlich wie eine Zwiebel, wobei Kern, Mantel und Kruste Kugelschalen bilden. Auf die mittlere davon, den Erdmantel, entfallen etwa 85 Prozent des Volumens. Mit seinen langsamen Umwälzbewegungen - Physiker sprechen von Konvektionsströmen - staucht und dehnt er die Kruste, drückt sie empor und zieht sie an anderen Stellen nach unten, legt sie in Falten und zerbricht sie. Chemisch besteht er aus Silizium, Eisen, Sauerstoff und Magnesium, die in annähernd konstantem Mengenverhältnis im gesamten Mantel vorkommen - gemeinsam mir geringeren Mengen anderer Elemente. Je nach der Tiefe bilden sie allerdings unterschiedliche Mineralarten. So ist der Mantel selbst wiederum in mehrere konzentrische Schalen unterteilt, in denen jeweils andere Minerale vorherrschen.

Von den meisten sind Eigenschaften und Zusammensetzung seit Jahrzehnten recht gut bekannt. Nur die tiefste Schicht gab bis vor Kurzem Rätsel auf. Erst 2002 lüftete die Synthese eines neuen, extrem dichten Minerals, das sich bei den Temperaturen und Drücken in den untersten 300 Kilometern des Mantels bildet, das Geheimnis. Untersuchungen seither zeigten, dass dieses Mineral - der so genannte Postperowskit - die Dynamik der Erde entscheidend beeinflusst. Seine Existenz spricht für kräftigere Konvektionsströme im Mantel, mit denen kälteres Gestein in die Tiefe wandert, während heißes aufsteigt. Dadurch wird mehr Wärme aus dem Erdinneren abgeführt als zuvor gedacht. Ohne Postperowskit wären die Kontinente langsamer gewachsen, und es hätte weniger Vulkanismus gegeben. Seine Bildung dürfte auch die Entstehung des Erdmagnetfelds beschleunigt haben, das die Erdoberfläche gegen kosmische Strahlung und Solarwind abschirmte und so erst das Leben an Land ermöglichte. Der Postperowskit bildet demnach einen entscheidenden Mosaikstein im Gesamtbild der Erdentwicklung und trägt wesentlich zu ihrem Verständnis bei.


Einblicke in die Tiefe

Geophysiker ermitteln die innere Struktur der Erde, indem sie seismische Wellen vermessen. Diese laufen nach einem Erdbeben quer durch den Globus und lassen sich mit empfindlichen Instrumenten auf der gegenüberliegenden Seite registrieren. Stoßen Erdbebenwellen an eine Materialgrenze, werden sie gebrochen oder reflektiert, wodurch sich ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit und -richtung sprunghaft ändern. Durch weltumspannende Messungen ihrer Laufzeiten ließen sich so im Mantel fünf Schalen nachweisen, deren Gestein wegen der höheren Drücke und Temperaturen in zunehmender Tiefe jeweils anders aufgebaut ist.

Gesteine bestehen aus verschiedenen Mineralen. Diese haben charakteristische Kristallstrukturen, in denen die Atome in einem festen geometrischen Muster angeordnet sind. Minerale eines Typs stimmen deshalb in Zusammensetzung, Farbe und physikalischen Eigenschaften überein. Im Erdmantel zwingen steigende Drücke und Temperaturen die Elemente, sich unterhalb gewisser Tiefen jeweils in neuen Kristallstrukturen anzuordnen. Physiker sprechen von Phasenumwandlungen.

Da Geologen keine Proben aus dem Erdinneren entnehmen können, mussten sie früher, um Informationen über die dortigen Materialien und Strukturen zu erhalten, nach Brocken von Mantelgesteinen suchen, die aufsteigendes Magma aus großen Tiefen an die Oberfläche befördert hatten. Diese enthalten oft Diamanten, die sich nur unter Drücken und Temperaturen bilden, wie sie in mindestens 150 Kilometer Tiefe herrschen. Deshalb sind ihre Muttergesteine in einem ähnlichen Tiefenbereich zu vermuten und liefern wertvolle Aufschlüsse über den obersten Teil des Mantels. Die vorherrschenden Minerale dort sind demnach Olivin, Wadsleyit ("modifizierter Spinell") und Spinell. Nach ihnen wurden die betreffenden Schichten benannt.

Gesteinsmaterial aus mehr als 200 Kilometer Tiefe erreicht die Oberfläche nur selten. Als es aber vor über 40 Jahren gelang, auch im Labor extrem hohe Temperaturen und Drücke zu erzeugen, konnten die Forscher endlich diejenigen Minerale künstlich herstellen, die sie in den unteren Bereichen des Mantels vermuteten. Demnach bildet ab einer Tiefe von 660 Kilometern eine dichte Form von Magnesiumsilikat (MgSiO3) den Hauptbestandteil des Gesteins. Es gehört zur großen Kristallfamilie der Perowskite. Darin werden negativ geladene Sauerstoffatome und zwei Typen positiv geladener Ionen - in diesem Fall Magnesium und Silizium - durch elektrostatische Anziehung in einem geometrisch recht einfachen Gitter zusammengehalten. Perowskite können in ihrer chemischen Zusammensetzung stark variieren. Supraleiter gehören ebenso dazu wie Materialien, die in vielen Bereichen der Elektronik Verwendung finden, etwa in piezoelektrischen Antrieben oder in Kondensatoren.

Magnesium-Silikat-Perowskit wurde erstmals 1974 synthetisiert - bei einem Druck von 30 Gigapascal. (Ein Gigapascal entspricht etwa dem 10.000-fachen Atmosphärendruck in Meereshöhe.) In den folgenden drei Jahrzehnten glaubten alle Experten, dieses Mineral sei bis zur Basis des Mantels in 2900 Kilometer Tiefe vorhanden. Eine weitere Phasenumwandlung finde nicht mehr statt.


Eine rätselhafte Anomalie

Doch schon in den 1960er Jahren war eine seismische Anomalie in rund 2600 Kilometer Tiefe entdeckt worden. Sie unterteilt den unteren Mantel, auch D-Schicht genannt, in zwei Schalen: D' und D" (gesprochen: D-Strich und D-zwei-Strich). Dabei reicht die D"-Schicht von 2600 bis 2900 Kilometer, wo sich die Grenze zum äußeren Erdkern befindet. Im Jahr 1983 wurde diese Anomalie als Diskontinuität erkannt, an der sich die Eigenschaften des Gesteins sprunghaft ändern. Doch sahen Geologen darin keine Phasengrenze, sondern erklärten sie mit einer Veränderung des relativen Anteils der Elemente im Gestein.

Ein Grund dafür war die "ideale" Kristallstruktur von Perowskit, in dem die Atome geometrisch so dicht gepackt sind, dass die maximal mögliche Masse pro Volumeneinheit erreicht scheint. Nach Meinung der Experten sollte sich dieses Material unmöglich zu einer noch dichteren Struktur zusammenpressen lassen. Allerdings wirkte auch eine sprunghafte Änderung der chemischen Zusammensetzung nicht überzeugend. Durch Konvektion würde der untere Mantel ständig aufgewühlt, wodurch sich seine Bestandteile mit denjenigen der darüberliegenden Schichten vermischen sollten. Eine gleichmäßige Verteilung der verschiedenen Elemente müsste die Folge sein.

Die experimentelle Klärung dieser Frage erforderte Drücke von über 120 Gigapascal und Temperaturen von mehr als 2500 Kelvin. Mitte der 1990er Jahre begann ich mich für das Problem zu interessieren. Später startete ich Laborexperimente mit einer Diamantstempel-Zelle, in der mantelähnliches Material unter hohem Druck zwischen zwei Naturdiamanten von Edelsteinqualität (etwa zwei zehntel Karat) gepresst und dann per Laser erhitzt werden kann (siehe Kasten S. 84).


DAS ERDINNERE IM LABOR

Das Team des Autors hat die Bedingungen im unteren Mantel mit einer Diamantstempel-Zelle nachgeahmt. In dieser zylindrischen Stahlapparatur konzentriert sich der Druck beim Anziehen der Schrauben - was gewöhnlich von Hand geschieht - auf die nur wenige Mikrometer breite Fläche zwischen den Spitzen zweier Diamanten. Der Autor und seine Mitarbeiter erhitzten die dort platzierten Proben per Laser und beobachteten mit einem Röntgenstrahl, wie sich ihre Kristallstruktur veränderte, während Druck und Temperatur auf Werte im unteren Mantel gesteigert wurden.

(Abbildung im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Oberhalb von 80 Gigapascal beginnt sich aber selbst Diamant - das härteste bekannte Material - deutlich zu verformen. Um den Druck weiter zu erhöhen, muss man versuchen, die Spitzen der Diamantstempel so zu formen, dass der Edelstein nicht zerbricht. Dabei erlitten meine Kollegen und ich zahlreiche Fehlschläge, die nicht nur unseren Forschungsetat strapazierten, sondern auch unseren Enthusiasmus hin und wieder auf eine harte Probe stellten. Doch schließlich konnten wir 2001 mit abgeschrägten Diamantstempeln den Grenzwert von 120 Gigapascal überschreiten. Wir waren eines der ersten Forscherteams auf der Welt, denen dies gelang, und das erste, das die Auswirkungen solcher Drücke auf Perowskit untersuchte.


Kristallklare Befunde

Um zu verstehen, was im Inneren unserer Proben passierte, bauten wir unsere Versuchsanordnung im SPring-8 auf. Dieser ringförmige Teilchenbeschleuniger westlich von Osaka (Japan) beherbergt die intensivste Röntgenquelle weltweit. Seit 100 Jahren dienen Röntgenstrahlen dazu, die innere Struktur von Materialien zu ermitteln, da sie an deren Kristallgitter gebeugt werden. Der Grund dafür ist, dass ihre Wellenlänge den Abständen zwischen benachbarten Atomen in Festkörpern entspricht. Die haarfeinen, intensiven Röntgenstrahlen von SPring-8 ermöglichten es uns, qualitativ hochwertige Aufnahmen in Abständen von jeweils nur einer Sekunde anzufertigen - eine große Hilfe, um Veränderungen in der Kristallstruktur bei derart hohen Temperaturen und Drücken festzustellen.

Im Winter 2002 berichtete mir mein Mitarbeiter Motohiko Murakami am SPring-8, dass sich das Beugungsmuster von Magnesium-Silikat-Perowskit stark veränderte, wenn er das Mineral bei einem Druck von 125 Gigapascal erhitzte. So etwas deutet gewöhnlich auf einen Phasenübergang hin, bei dem sich eine neue Kristallstruktur bildet - genau das, was ich erhofft hatte. Wenn sich die Beobachtung meines Mitarbeiters bestätigte, wäre es die bedeutendste Entdeckung in der Hochdruck-Mineralogie - und vielleicht in der gesamten Forschung über das Erdinnere - seit 1974, als Magnesium-Silikat-Perowskit selbst erstmals synthetisiert wurde.

Zunächst nahm ich die Sache allerdings nicht allzu ernst, denn es gibt viele Gründe, warum sich Beugungsmuster verändern. So können Proben chemisch mit dem Material reagieren, das sie im Stempel hält - in der Regel Ton. Auch als ich einige Tage später im engsten Kollegenkreis von der Beobachtung berichtete, war die Reaktion eher skeptisch. "Ihr müsst etwas falsch machen", meinte ein Kristallograf. Schließlich habe Perowskit ein ideales, dicht gepacktes Kristallgitter, und keine Phasenumwandlung in eine kompaktere Struktur sei jemals zuvor festgestellt worden.

Wir wiederholten die Experimente viele Male, wobei wir - was uns ermutigte - stets das neu entdeckte Beugungsmuster beobachteten. Auch stellten wir fest, dass sich dieses Muster wieder in das von Perowskit verwandelte, wenn wir die Probe bei niedrigem Druck erneut erhitzten. Also war der Übergang reversibel, was eine Änderung in der chemischen Zusammensetzung der Probe ausschloss. Von diesem Zeitpunkt an glaubte ich fest daran, dass wir Magnesium-Silikat-Perowskit in eine neue Struktur umgewandelt hatten.

Von da an glaubte ich fest daran, dass wir Perowskit in eine neue Struktur umgewandelt hatten

Als Nächstes fanden wir heraus, dass der Übergang bei einer Temperatur von 2500 Kelvin nicht erst bei 125, sondern schon bei 120 Gigapascal stattfindet - also exakt unter dem Druck, der in 2600 Kilometer Tiefe herrscht, wo die mysteriöse Diskontinuität in der Ausbreitungsgeschwindigkeit seismischer Wellen festgestellt wurde. Das alte Rätsel schien damit endlich gelöst: Wir hatten eine bisher unbekannte Phasenumwandlung entdeckt und ein neues Material gefunden, aus dem die D'-Schicht hauptsächlich bestehen musste. Dessen Eigenschaften könnten, wie ich sogleich spekulierte, auch bedeutende Konsequenzen für die Dynamik des Erdmantels haben.

Doch bevor wir unsere Arbeit fortsetzten, mussten wir erst die Kristallstruktur der neuen Phase bestimmen. Dies war eine Herausforderung, weil damals noch keine Erkenntnisse über einen druckabhängigen Übergang von Kristallen des Perowskit-Typs vorlagen. Fast ein Jahr lang durchforsteten wir Kristallografiekataloge, um analoge Muster zu unseren Beugungsdaten zu finden - die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen angesichts der Existenz von Zehntausenden in Frage kommender Kristallstrukturen. Schließlich ließ ein Kollege von, mir, der Chemiker Katsuyuki Kawamura, Ende 2003 während der Weihnachtsferien eine Computersimulation laufen, in der er Magnesium-, Silizium- und Sauerstoffatome hohem Druck aussetzte. Er begann mit zufällig verteilten Aromen bei einer sehr hohen Temperatur. Als er seine virtuelle Probe abkühlte, fing das Material zu kristallisieren an. Daraufhin berechnete Kawamura das Beugungsmuster, das diese Kristallstruktur erzeugen würde. Und siehe da: Es stimmte perfekt mir dem von uns im Experiment beobachteten überein.

Wir wählten den Namen Postperowskit für die neue Phase (von einem Mineral darf man streng genommen erst sprechen, wenn klar ist, dass es auch in der Natur vorkommt). Die gefundene Struktur entspricht im Wesentlichen derjenigen zweier bekannter Kristalle: Uraneisensulfid (UFeS3) und Kalziumiridiumoxid (CaIrO3). Beide sind unter Umgebungsbedingungen stabil. Unseren direkten Messungen zufolge hat Postperowskit eine um 1 bis 1,5 Prozent höhere Dichte als Perowskit.

Seit der Veröffentlichung unserer Ergebnisse im Jahr 2004 haben Forscher auf verschiedenen Gebieten daraus ein faszinierendes neues Bild der vielfältigen Vorgänge im Erdinneren abgeleitet. Unter anderem warf unsere Entdeckung ein neues Licht auf den Wärmestrom vom Erdkern zum Mantel. Der Kern besteht vorwiegend aus Eisen, womit er doppelt so dicht ist wie der Mantel. Deshalb findet an der Grenze zwischen beiden praktisch keine Vermischung statt. Wärmeübertragung erfolgt also vorwiegend durch Leitung. Während der Mantel reich an radioaktiven Elementen oder Isotopen wie Uran, Thorium und Kalium-40 ist, enthält der Kern wahrscheinlich nur geringe Mengen davon. Seine heutige Temperatur von etwa 4000 bis 5000 Kelvin verdankt er also vorwiegend der Resthitze aus der Entstehungszeit der Erde. Seither hat er sich durch Abgabe von Wärme an den Mantel allmählich abgekühlt.


Schnellere Abkühlung des Erdkerns

Mit plausiblen Annahmen über die Wärmeleitfähigkeit des Postperowskits an der Untergrenze des Mantels konnten meine Kollegen und ich den globalen Wärmestrom vom Erdkern in den Erdmantel auf fünf bis zehn Terawatt schätzen. Dieser Wert ist vergleichbar mit der gesamten durchschnittlichen Produktion aller Elektrizitätswerke weltweit. Der Energiefluss wäre damit größer als zuvor angenommen, und der Kern hätte sich schneller abgekühlt. Um seine gegenwärtige Temperatur zu erreichen, muss er folglich anfangs heißer gewesen sein als bisher vermutet.

Der Kern der frühen Erde war durchweg flüssig. Doch irgendwann begann er im Zentrum zu kristallisieren. Dadurch ist er heute zweigeteilt: in einen inneren, festen und einen äußeren, flüssigen Bereich. Die schnellere Abkühlung lässt darauf schließen, dass sich der feste innere Kern erst vor weniger als einer Milliarde Jahren zu bilden begann; denn sonst müsste er viel größer sein, als er heute ist. Er wäre also jung im Vergleich zur Erde selbst, die vor 4,6 Milliarden Jahren entstand.

Wann sich der innere Kern entwickelte, hat Folgen für den Geomagnetismus, der sich seinerseits auf das Leben auswirkte. Nach Ansicht der Erdwissenschaftler beruht das Erdmagnetfeld darauf, dass das flüssige Eisen im geschmolzenen äußeren Kern durch seine konvektive Umwälzbewegung wie ein Dynamo wirkt. Ein fester innerer Kern sorgt für eine gleichmäßigere Konvektion, die ein stärkeres Magnetfeld hervorruft. Dieses Feld schirmt die Erde vor dem Sonnenwind und der kosmischen Strahlung ab, die genetische Mutationen verursachen können und dadurch vor allem für Organismen an Land ausgesprochen gefährlich wären. Vielleicht hat also erst die Verstärkung des Erdmagnetfelds vor rund einer Milliarde Jahren dem Leben die Ausbreitung von den Meeren auf die Kontinente erlaubt.

Postperowskit beeinflusst aber nicht nur den Übergang von Wärme an der Außenseite des Kerns, sondern auch ihren anschließenden Transport durch den Mantel nach oben. Daraus ergeben sieh weitere Erkenntnisse zur Erdgeschichte. Unmittelbar oberhalb der Kern-Mantel-Grenze bilden sich so genannte Mantelplumes, in denen Material, das heißer und damit weniger dicht ist als das Umgebungsgestein, unter der Wirkung von Auftriebskräften säulenartig aufsteigt. Dabei gelangt der besonders heiße Postperowskit in Zonen geringeren Drucks und wandelt sieh wegen seiner höheren Temperatur schon vor Erreichen der D'-Schicht in Perowskit um. Da dieser weniger dicht ist, gibt das den Plumpes zusätzlichen Auftrieb und beschleunigt ihren weiteren Weg nach oben. Computersimulationen zufolge bilden sich, wenn die D"-Schicht aus Postperowskit besteht, mehr Plumpes, die stärker mäandrieren, was den Wärmefluss durch den Erdmantel um 20 Prozent steigert.


Aufwühlende Befunde

Durch die Beschleunigung der Konvektion im Mantel erhöht Postperowskit die Temperatur an der Oberseite dieser Erdschicht um mehrere hundert Grad. Das äußert sich in verstärktem Vulkanismus. In der Frühzeit der Erde, als der Kern heißer war, herrschte auch im untersten Teil des Mantels eine höhere Temperatur. Dadurch konnte dort kein Postperowskit entstehen, was den Wärmestrom verringerte. Der obere Mantel war deshalb paradoxerweise kühler als heute. Als die Erde langsam abkühlte, wandelte sich wahrscheinlich vor etwa 2,3 Milliarden Jahren - ein Teil des Perowskits in Postperowskit um. Dadurch intensivierte sich der Wärmefluss aus dem Kern, und die Temperaturen im gesamten Mantel stiegen, was die Plattenbewegung beschleunigte und den Vulkanismus verstärkte. Als Folge davon dürften nach Schätzungen einiger Forscher die Kontinente während der letzten 2,3 Milliarden Jahre doppelt so schnell gewachsen sein wie die meiste Zeit davor. Allerdings ist diese Schlussfolgerung durchaus umstritten.


GESTEIGERTE KONVEKTION

Simulationen zufolge verläuft die Konvektion des Erdmantels, wenn sich an seiner Basis eine Postperowskitschicht befindet (rechts), schneller und chaotischer als ohne solch eine Schicht, die bei der frühen Erde fehlte. So wie Luft über heißem Asphalt schlierenartig aufsteigt, bilden sich über dem heißen Erdkern so genannte Plumes aus säulenförmig empordringendem Mantelgestein. Bei ihrem Aufstieg gelangt Postperowskit in Zonen niedrigeren Drucks und geht deshalb in den weniger dichten Perowskit über. Die resultierende Ausdehnung verleiht den Plumes weiteren Auftrieb.

(Abbildung im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Die physikalischen Eigenschaften der D"-Schicht könnten beträchtlich von denjenigen des darüberliegenden Mantels abweichen. Nach jüngsten Messungen ist zum Beispiel die elektrische Leitfähigkeit von Postperowskit um einige Größenordnungen höher als die von Perowskit. Eine hochleitfähige Schicht im untersten Teil des Mantels würde - als Folge der so genannten Lorentzkraft - bei jeder Änderung des Strömungsmusters im äußeren Kern den Austausch von Drehimpuls zwischen beiden verstärken. Simulationen anderer Forscher zufolge sollte dieser Austausch die Rotationsgeschwindigkeit der Erde um Beträge verändern, die gut mit jenen Schwankungen der Tageslänge im Bereich von Millisekunden übereinstimmen, die auf Zeitskalen von Jahrzehnten zu beobachten sind. Die elektrische Leitfähigkeit von Postperowskit und der resultierende verstärkte Austausch von Drehmoment könnte zum Teil auch erklären, warum die Richtung der Erdrotationsachse mit Perioden unter 20 Jahren schwankt - ein als Nutation bekanntes Phänomen.

Zwar kommt Postperowskit auf der Erde nur in der wenige hundert Kilometer mächtigen Basis des Mantels vor. Bei anderen Planeten aber könnte er größeren Raum einnehmen. Theoretisch ist MgSiO3-Postperowskit bis zu Drücken von 1000 Gigapascal und Temperaturen von 10.000 Kelvin stabil, bevor er in ein Gemisch aus Siliziumdioxid und Magnesiumoxid zerfällt. Daher sollte er ein Hauptbestandteil der festen Kerne von Uranus und Neptun sein. Bei den Kernen der Riesenplaneren Jupiter und Saturn sorgt dagegen eine dicke Wasserstoffhülle für so hohe Drücke und Temperaturen, dass Postperowskit nicht beständig wäre.


EVOLUTION VON MANTEL UND KERN

Als sich die Erde bildete, gab es an der Grenze zum heißen, eisenreichen Kern, der vollkommen flüssig war, noch keinen Postperowskit. Da der Mantel wegen ungenügender Konvektion die Hitze nicht effizient abführen konnte, kühlte das Erdinnere nur langsam ab (Babyerde). Die Entstehung von Postperowskit an der Mantelbasis vor etwa 2,3 Milliarden Jahren beschleunigte die Umwälzung des Erdmantels. Das dürfte den Vulkanismus verstärkt haben - und mit ihm das Wachstum der Kontinente (jugendliche Erde). Durch den resultierenden beschleunigten Wärmetransport kühlte der Kern genügend ab, um vor rund einer Milliarde Jahren im Zentrum zu erstarren (ausgereifte Erde). Dadurch wurden die Konvektionsmuster in seiner flüssigen äußeren Schale regelmäßiger und begannen das Erdmagnetfeld zu erzeugen, das die Erdoberfläche vor dem Sonnenwind und kosmischer Strahlung mit ihren schädlichen Auswirkungen auf das Erbgut von Organismen abschirmt - vermutlich die Voraussetzung für den Übertritt des Lebens vom Meer aufs Festland.

(Abbildung im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Wie steht es mit anderen Sonnensystemen? Alle bislang beobachteten Exoplaneten sind größer als die Erde. Diejenigen mit weniger als zehn Erdmassen werden für erdähnliche Gesteinskörper gehalten und Supererden genannt. Die Zusammensetzung von Exoplaneten lässt sich aus der Beobachtung der Sterne, um die sie kreisen, erschließen. So zeigen die Absorptionslinien im optischen Sonnenspektrum, dass die Atmosphäre der Sonne in ihrer chemischen Zusammensetzung den Planeten ähnelt. Analog haben Astronomen ermittelt, dass zahlreiche Supererden wahrscheinlich aus ähnlichen Elementen und Verbindungen bestehen wie unsere eigene Erde. Bedenkt man die Druck- und Temperaturverhältnisse in ihrem Inneren, könnte bei vielen von ihnen Postperowskit der häufigste Bestandteil sein.


Fortsetzung folgt

Der unterste Bereich des Erdmantels gab lange Zeit Rätsel auf. Seit der Entdeckung von Postperowskit sind viele seiner Eigenschaften gut erklärbar. Dennoch bleiben offene Fragen. So deuten seismische Daten schon seit Langem darauf hin, dass die D"-Schicht nicht einheitlich ist. Vielmehr weist sie zwei markante Verdickungen auf, eine etwa unter Afrika und die andere unter dem Pazifischen Ozean. Handelt es sich vielleicht um zwei Massen, die spezifisch schwerer sind als die Umgebung, aber immer noch leicht genug, um auf dem äußeren Erdkern zu driften - ähnlich wie die Kontinente auf dem äußeren Mantel? Diese "verborgenen Kontinente" könnten die Strömungen an der Mantelbasis und indirekt das Konvektionsmuster im gesamten Mantel beeinflussen - und damit sogar die Plattentektonik an der Erdoberfläche. Wie sind diese Massen entstanden? Wachsen sie derzeit? Hängt diejenige unter dem Pazifik mit dem Mantelplume zusammen, der die Inselgruppe von Hawaii entstehen ließ? Antworten auf diese und ähnliche Fragen lassen sich eventuell schon in naher Zukunft finden.

Dagegen stellt uns der eisenreiche Metallkern immer noch vor Rätsel, die sich wohl nicht so bald lösen lassen. Bis vor Kurzem war er viel schwieriger zu erforschen als der Mantel, weil sich die dort herrschenden Drücke und Temperaturen nicht mit der Diamantstempel-Technik reproduzieren ließen. Forscher konnten die hohen Drücke zwar kurzfristig mit der Stoßwellenkompression erzeugen, doch bei dieser Holzhammermethode treten zu hohe Temperaturen auf.

Immerhin ist seit 1952 bekannt, dass die Dichte des flüssigen äußeren Kerns etwa zehn Prozent unter der von reinem Eisen oder einer Eisen-Nickel-Legierung liegt. Es müssen also auch leichtere Elemente wie Schwefel, Silizium, Sauerstoff, Kohlenstoff oder Wasserstoff vorhanden sein. Doch wie soll man sie nachweisen? Die zuverlässigsten Schätzungen der Temperatur im Kern beruhen auf dem Schmelzpunkt von Eisenlegierungen bei einem Druck, wie er an der Grenze zwischen festem und flüssigem Kern herrscht. Sie sind aber mit einer Ungewissheit von mehr als 2000 Kelvin behaftet, weil die Schmelztemperatur stark von der genauen Zusammensetzung abhängt - und die ist bis heute unbekannt. Unklar ist auch noch, welche Kristallstruktur Eisen unter den Bedingungen im inneren Kern hat. Das macht es schwer, seismologische Beobachtungen zu interpretieren.

Jüngst konnten wir aber Diamantstempel herstellen, die den gesamten Druck- und Temperaturbereich des Erdkerns abdecken. Damit ist eine Tür geöffnet, die uns der Lösung der alten Rätsel über den tiefsten Teil unseres Planeten näherbringt. Es wird ein wenig wie eine Reise zum Mittelpunkt der Erde werden, wenn auch nur in unserer Fantasie.


EIN KOMPLEXER PLANET

Die Erde hat eine Zwiebelstruktur mit Schalen, die aus jeweils anderen Steffen aufgebaut sind. Mit der Entdeckung eines neuen, äußerst dichten Materials im Labor des Autors lässt sich die Natur einer bislang rätselhaften Schicht dieser Zwiebel erklären, deren Existenz aus Messungen der Fortpflanzung von Erdbebenwellen durch den Globus erschlossen worden war.

Kruste (bis 35 Kilometer Tiefe)

Die Kontinente bestehen aus verschiedenen Gesteinen, die bis zu mehrere Jahrmilliarden alt und relativ leicht sind. Daher schwimmen sie auf dem dichteren, darunterliegenden Mantel. Bei dem gleichförmigen, basaltischen Gestein der ozeanischen Kruste handelt es sich hingegen um Mantelmaterial, das an untermeerischen Bergrücken austritt, zum Rand eines Kontinents wandert und dort - in der Regel nach spätestens 200 Millionen Jahren - in den Mantel zurücksinkt.

Mantel

Mantelstein setzt sich vorwiegend aus Verbindungen der Elemente Sauerstoff, Silizium und Magnesium zusammen. Zwar ist es großenteils fest, doch verformt es sich innerhalb von sogenannten Konvektionsströmen, die den gesamten Mantel umwälzen. Diese Ströme führen Wärme aus dem Erdinneren ab und treiben die Kontinentaldrift an.

Oberer Mantel (35-660 Kilometer) Da Druck und Temperatur mit der Tiefe zunehmen, entstehen Schalen, in denen die atomaren Bestandteile des Mantels unterschiedlich arrangiert sind, also jeweils andere kristalline Verbindungen bilden. Die Schichten des oberen Mantels sind nach den dort vorherrschenden Mineralen - Olivin, Wadsleyit und Spinell - benannt.

Unterer Mantel (660-2900 Kilometer)
Der untere Mantel wurde jahrzehntelang für relativ einheitlich strukturiert gehalten. Seismologische Daten deuteten allerdings darauf hin, dass sich an seiner Basis eine gesonderte Schicht befindet.

- Perowskit-Schicht
Sie besteht zu 70 Prozent aus Magnesiumsilikat (MgSiO3), das in einer sehr kompakten Kristallstruktur vorliegt, die für Minerale vom Perowskit-Typ charakteristisch ist. Darin sind die Magnesiumionen (gelb) von oktaedrischen Silizium-Sauerstoff-Gruppen (blaue Doppelpyramiden) umgeben. Bis vor Kurzem hielten Wissenschaftler eine dichtere kristalline Packung dieser Elemente für unmöglich.

- Postperowskit-Schicht
Bei Drücken und Temperaturen, wie sie in den untersten 300 Kilometern des Mantels herrschen, verwandelt sich Perowskit in ein Material mit anderer Struktur. Darin sind die Magnesiumionen und die Silizium-Sauerstoff-Gruppen in getrennten Schichten angeordnet. Der Übergang ist mit der Abgabe von Wärme verbunden und reduziert das Volumen um etwa 1,5 Prozent - ein geringfügiger Unterschied, der aber erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Planeten hat.

Kern (2900-6400 Kilometer)

Die tiefste Region der Erde enthält vorwiegend Eisen, das ein viel höheres spezifisches Gewicht hat als das Mantelgestein. Es ist im äußeren Kern flüssig und im inneren fest. Durch Konvektionsströmungen wird der äußere Kern genauso umgewälzt wie der Mantel - allerdings wesentlich schneller. Diese Konvektion erzeugt nach allgemeiner Ansicht über einen Dynamoeffekt das Erdmagnetfeld.

(Abbildungen im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Kei Hirose ist Professor für Hochdruckgeologie an der Technischen Hochschule Tokio. Das Studium der Erdwissenschaft wählte er einst in der Hoffnung, dass sein Beruf ihn in die Antarktis führen würde oder ihm die Chance gäbe, die Tiefsee per Tauchboot zu erkunden. Heute arbeitet Hirose an der Erzeugung ultrahoher Drücke und Temperaturen im Labor, um so Aufschluss über Materialien im Innern der Erde und anderer Planeten zu erhalten. Doch seine Reiseträume hat er noch nicht aufgegeben.


Literatur

Gurnis, M.: Die verbeulte Erde. In: Spektrum der Wissenschaft 5/2001, S. 28-35.

Hazen, R.M.: Perowskite. In: Spektrum der Wissenschaft 8/1988, S. 42-50.

Hirose, K.: Deep Mantle Properties. Science 327, S. 151-152, 8. Januar 2010.

Murakami, M. et al.: Post-Perovskite Phase Transition in MgSiO3. In: Science 304, S. 855-858, 7. Mai 2004.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/1044188.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S. 85:
Experimentell ließ sich ermitteln, bei welchen Drücken und Temperaturen Perowskit sich in Postperowskit umwandelt (Schwellenwert-Linie). Demnach sind die Temperaturverhältnisse im Erdinneren (schwarze Kurve) heute gerade so, dass Postperowskit an der Untergrenze des Mantels in Tiefen zwischen 2600 und 2900 Metern vorkommt. Die frühe Erde war dagegen zu heiß (weiße Linie) für die Bildung des Minerals.

© 2010 Kei Hirose, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 10/10 - Oktober 2010, Seite 80 - 87
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010