Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → MEINUNGEN

LAIRE/060: Hirnforscher erkennen angeblich politische Gesinnung (SB)


Hirnlappen von "Liberalen" feuern heftiger bei Stimuli


Was geht nur in den Köpfen anderer Menschen vor? Diese uralte Grundfrage der menschlichen Lebensgemeinschaften bewegt Forscher noch heute. Zur Beruhigung der Probanden führen die Wissenschaftler der Gegenwart in der Regel allerdings keine Trepanationen mehr durch, um zu schauen, wie es unter dem knöchernen Schädeldach ihrer Mitmenschen aussieht. Statt dessen arbeiten sie vorzugsweise mit weniger destruktiven Methoden. Die Messung der Durchblutung, der magnetischen Resonanz und das äußere Abgreifen elektrochemischer Spannungen zählen zu den wichtigsten Hilfsmittel der modernen Hirnforscher.

Hat sich deren Handwerkszeug auch gewandelt - die früheren Fragen sind geblieben. Besitzt der Mensch eine Seele? Was denkt der Mensch, wenn er denkt? Was empfindet er? Und natürlich: Kann man auf physiologischer Ebene Einfluß darauf nehmen?

Kürzlich berichteten der Politikwissenschaftler David Amodio von der Universität New York und seine Kollegen, daß sie mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG) ablesen konnten, ob eine Versuchsperson konservativ oder liberal eingestellt ist. Bei letzteren war der anteriore cinguläre Cortex im Vorderlappen des Gehirns wesentlich aktiver. Das wird so gedeutet, daß sich Liberale leichter auf neue Situationen einstellen können als Konservative.

In dem Versuchsaufbau mußten die verkabelten Probanden einen Knopf drücken, sobald sie ein Signal sahen. Der Vorgang wurde so lange wiederholt, bis die Forscher glaubten, daß bei den Versuchspersonen ein Gewöhnungseffekt eingetreten war. Daraufhin zeigten die Forscher ein zweites Signal, das mit der Bedeutung belegt war, jetzt nicht mehr auf den Knopf zu drücken.

Laut EEG zeigten die Nervenzellen im anterioren cingulären Cortex beider Gruppen nach dem zweiten Signal starke Aktivität, was dahingehend interpretiert wurde, daß sich die Probanden auf etwas Neues einstellen mußten; deshalb hätten die Nervenzellen gefeuert. Jene Versuchspersonen, die sich als liberal einschätzten, wiesen eine höhere Intensität in dieser Hirnregion auf, wohingegen die "Konservativen" häufiger auf den Knopf drückten, obwohl sie es nicht sollten. Die Studie erschien diese Woche im britischen Journal "Nature Neuroscience" (Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1038/nn1979).

Nach Einschätzung der Forscher gibt es eine gewisse erbliche Veranlagung, eine Art Blaupause, zu einer bestimmten politischen Einstellung. Die werde sich bei vielen Menschen im Laufe des Lebens kaum ändern, wird behauptet.

Solche Herleitungen garantieren zwar einige Aufmerksamkeit bis in die Mainstream-Medien hinein, aber sie sind unseriös. Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Studie auf der Untersuchung von lediglich 43 Personen beruht. Allein das gemahnt zu mehr Vorsicht bei der Verallgemeinerung der Untersuchungsergebnisse. Desweiteren fällt auf, daß die Unterscheidung in "liberal" und "konservativ" allein auf die Selbsteinschätzung der Probanden beruht. Man muß kein Psychologe sein, um zu wissen, daß das keine zuverlässige Grundlage für weitere Forschungen sein kann. Präziser wäre es zu sagen, daß die beiden Vergleichsgruppen nicht aus "Liberalen" und "Konservativen" bestanden, sondern aus Personen, die sich selbst einer bestimmten Richtung zugeordnet haben. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie nach äußeren Bemessungskriterien tatsächlich liberal oder konservativ gewesen sind.

So hat man es hier mit einer Studie zu tun, deren Voraussetzungen fragwürdig sind. Die Konsequenzen dieser und ähnlicher Sondierungsversuche des menschlichen Gehirns sind haarsträubend. Weiterentwicklungen der Gehirnscanmethoden könnten ein großer Schritt in den totalitären Staat sein. Denkbar wäre die Selektion vermeintlich liberaler Babys, um ihr unerwünschtes Erbe in pädagogischen Sonderbildungseinrichtungen, womöglich begleitet von einer psychopharmakologischen Therapie, so weit wie möglich auszumerzen.

Denkbar wäre aber auch die Installation von Überwachungssystemen im öffentlichen Raum, um unliebsame Personen wie angebliche Liberale, Kriminelle und Terroristen zu observieren oder aus dem Verkehr zu ziehen - das könnte zu einer Renaissance der Hexenverfolgung führen. Interesse am Detektieren von unerwünschten politischen Einstellungen dürften auch Unternehmen haben, die bei Bewerbungsgesprächen die Gesinnung abfragen könnten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Meßergebnisse objektivierbar, also "wahr" sind. Es genügt, daß Kriterien erarbeitet werden, nach denen sie "wahr" zu sein haben.

Der Zeitpunkt, an dem sich die Gesellschaft so weit verändert hat, daß neurowissenschaftliche Methoden der Gesinnungsprüfung und daraus abgeleitet des Meinungsverbots zum Einsatz kommen, liegt anscheinend nicht fern - um es vorsichtig zu formulieren. Denn wenn der Stadtsoziologe Andrej H. von der Universität Berlin mehrere Wochen im Gefängnis verbringen muß, nur weil er, so weit bekannt, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten Begriffe wie "Gentrifikation" verwendet hat, die auch in Bekennerschreiben einer ominösen "militanten Gruppe" auftauchen, der eine Reihe von Brandanschlägen zur Last gelegt wird, dann beweist der Sicherheitsstaat damit, wie sehr ihn danach dürstet, mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten einer gesellschaftskritischen politischen Gesinnung den Garaus zu machen.

Dem oben genannten New Yorker Forscher und seinen Kollegen soll nicht unterstellt werden, daß sie die Absicht haben, einem repressiven Staat Mittel an die Hand zu geben, um die Bevölkerung aufs schwerste zu drangsalieren. Genauso wenig wie den Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts pauschal zu unterstellen ist, daß sie Tod oder Siechtum von mehreren hunderttausend Japanern nach dem Abwurf der von ihnen entwickelten Nuklearbomben herbeiführen wollten.

12. September 2007