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LAIRE/063: LHC-Beschleunigerring - Weltbild auf der Basis der Zerstörung (SB)


Trümmerreste-Wissenschaft

Unbekanntes erforschen, aber schon alle Gefahren kennen wollen

Befürworter des neuen Teilchenbeschleunigers LHC am CERN üben sich im argumentatorischen Spagat


In Genf hat im September der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt seinen Betrieb aufgenommen. Die Forscher wollen bei Temperaturen von -273 Grad Protonenstrahlen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und miteinander kollidieren lassen. Die dabei entstehende Explosionswolke wird mit hochsensiblen Detektoren registriert, anschließend werden die Resultate von den Forschern interpretiert. Auf diese Weise hoffen sie, ihre Vorstellung von der Entstehung des Universums und der Beschaffenheit der Materie komplettieren zu können.

Im Vorfeld der Inbetriebnahme des Beschleunigers hat es mehrere vergebliche Versuche seitens einiger Wissenschaftler gegeben, die Experimente zu verhindern. Inzwischen hat ihnen ein Schaden am Beschleuniger den Gefallen getan und zu einer halbjährigen Verzögerung geführt. Die Kritiker befürchten, daß bei den Kollisionen winzige Schwarze Löcher entstehen, die Materie aus ihrer Umgebung anziehen, unaufhaltsam wachsen und irgendwann die ganze Erde verschlingen. Auch wird vor der Entstehung von gefährlichen Vakuumblasen, fremdartigen Teilchen (Strangelets) und magnetischen Monopolen gewarnt.

Die Betreiber des Teilchenbeschleunigers LHC (Large Hadron Collider) hatten, um solcherlei Bedenken zu begegnen, eine Expertenkommission einberufen. Diese teilte 2003 in einem Gutachten mit, daß sie keine Anhaltspunkte gefunden habe, die Anlaß gäben, aufgrund von Unwägbarkeiten den LHC nicht in Betrieb zu nehmen.

Dennoch kochte die Debatte in der Fachwelt auf. Angefangen vom Studierenden der Physik im ersten Semester bis zum habilitierten Hochschullehrer, viele von ihnen nutzen den Vorteil des Internets als lebendige Diskussionsplattform, um ihre teils hochwissenschaftlichen Ausführungen zu verbreiten. In Foren und anderen Websites werden weiterhin Argumente gegeneinander gehalten, Behauptungen überprüft, es wird Fachliteratur zitiert oder ungekürzt zur Bewertung zur Verfügung gestellt. Dabei einen Überblick erlangen zu wollen wäre vermessen, um zig Millionen Einträge zu überprüfen und sämtliche Querverweise nachzurecherchieren reicht vermutlich ein Menschenleben nicht aus. Zumal das System hochdynamisch ist. Informationen verschwinden, als hätte es sie nie gegeben, neue kommen täglich, wenn nicht gar stündlich hinzu. Im folgenden sollen vor dem Hintergrund kritischer Positionen Fragen an die Versuche und dahinterstehenden Modellvorstellungen gestellt und erörtert werden.

Eines sticht bei der Versuchsanordnung als erstes ins Auge, sofern man sich nicht von Bezeichnungen wie "größtes technisches Experiment der Menschheitsgeschichte" oder Zahlenangaben wie, daß der Beschleuniger rund vier Milliarden Euro gekostet hat, daß mehrere tausend Physiker an ihm arbeiten und daß die Anlage so viel Energie benötigt wie der gesamte Kanton Genf, beeindrucken läßt: Im Prinzip machen die Forscher nichts anderes als unsere in Höhlen hausenden Vorfahren, als sie zwei Steine gegeneinanderschlugen und dabei die blitzenden Funken bestaunten. Offensichtlich kam irgendwann der Zeitpunkt, ab dem sie erwogen, diesen Effekt für sich nutzbar zu machen. Das vorläufige Endergebnis einer langen Kette funkensprühender Effekte: der LHC.

In dem Teilchenbeschleuniger prallen nicht Steine, sondern Wasserstoff- und Bleiionen gegeneinander. Aber muß man etwa annehmen, daß, nur weil etwas aufgrund eines heftigen Zusammenstoßes auseinandergerissen wird - möglicherweise entlang von Schwachstellen innerhalb der Struktur - und wie Funken davonstiebt, den einzelnen Trümmerresten ein definiertes Merkmal (beispielsweise massetragend, wie das angenommene Higgs-Boson) zugesprochen werden kann?

Nehmen wir einen Vergleich aus der makroskopischen Welt: Wenn man einen Felsen sprengt, dann fliegt er in unterschiedlich geformten Stücken auseinander. Sprengt man einen zweiten Felsen aus dem gleichen Gesteinsmaterial, fliegt er auf andere Weise auseinander. Sicherlich wäre es seltsam, käme jemand auf die Idee, alle ungefähr faustgroßen, fingerhutgroßen und stecknadelkopfgroßen Brocken einzusammeln und ihnen aufgrund seiner eigenen Zuordnung jeweils eine bestimmte Funktion innerhalb des Felsens zuschreiben zu wollen.

Bei den Versuchen im Teilchenbeschleuniger wird so etwas Ähnliches getan, wenngleich der Meßaufbau komplex ist. Allerdings muß dazu einschränkend gesagt werden, daß sich die Forscher bei den Kollisionsexperimenten in so kleinen Dimensionen bewegen, daß die Nachweisgeräte wiederum angemessen und damit grob sind, vergleichbar mit verschieden großen Eimern, in die nur Trümmerstücke einer bestimmten Gestalt und Masse hineinpassen. In der Konsequenz müßte man sogar fragen, ob nicht der ganze Teilchenzoo der Physik im wesentlichen die Beschaffenheit der verschiedenen Detektoren und Versuchsanordnungen der Trümmerreste-Wissenschaft widerspiegelt. Dann wäre allerdings zu fragen, wie plausibel ein darauf aufgebautes Weltbild ist.

Darüber hinaus ist festzustellen, daß ein Detektor um so eingeschränkter ist, je sensibler er sein soll. Die Nachweisgeräte am Beschleunigerring des CERN sind extrem sensibel und damit um so begrenzter in ihren Möglichkeiten der Abbildung von dem, was als Wirklichkeit angenommen wird. Um deren Komplexität einschränkungslos abzubilden, bräuchte man eine zweite Wirklichkeit. Die Herstellung eines solchen Detektors übersteigt die technischen Möglichkeiten der Physiker geringfügig. Deshalb müssen sie ihre Sicht auf die Dinge extrem einschränken und vereinfachen. Ebenfalls aus Gründen der Vereinfachung bilden sie Kategorien von Teilchen (Trümmerstücken), die sie einfangen wollen.

Die Detektoren sind für menschliche Verhältnisse Meisterwerke der technischen Präzision, dennoch unterliegen sie einem Grundproblem: Sie können nur das messen, was gemessen werden soll. Mit einem Fieberthermometer kann man keine Entfernung, mit einem Zollstock keine Körpertemperatur messen. Das bedeutet übertragen auf die Experimentanordnungen am LHC, daß die zu erwartenden Ergebnisse mit der Wahl der Detektoren schon vorweggenommen werden. Das Unbekannte, das die Physiker am Teilchenbeschleuniger erforschen wollen, müßte folgerichtig noch immer zum Bekannten gezählt werden. Folgerichtig würde sich etwas ganz und gar Unbekanntes den Detektoren entziehen.

Tatsächlich haben die Physiker am CERN schon recht genaue Vorstellungen von dem, was sie herausfinden wollen. Es sind Zweifel aber angebracht, daß in den Experimenten genau das und ausschließlich das produziert wird. Außerdem gilt es zu bedenken, daß zwischen Meßergebnissen und Auswertung Filter geschaltet sind, die alle zuvor als unwichtig erachteten Resultate herausnehmen. Das schränkt die Sicht der Physiker auf das eigentliche Geschehen zusätzlich ein.

Werden die Detektoren alle für die Physiker relevanten Ereignisse registrieren? Davon kann ausgegangen werden, ansonsten hätten die Forscher noch weitere Meßapparate aufgestellt. Ob aber die Detektoren alle denkbaren Ereignisse registrieren, die beim Zusammenprall der Protonen überhaupt entstehen können? Mit Sicherheit nicht. Auch wenn die vier hausgroßen Experimentierhallen am LHC, welche die Bezeichnungen ALICE, ATLAS, CMS und LHCb tragen, jeweils eine Vielzahl von Detektoren enthalten, die auf verschiedene Eigenschaften und Bewegungsrichtungen der Sprengwolke reagieren, bleibt die prinzipielle Beschränkung des Meßvorgangs unüberwindlich: Ein Fieberthermometer reagiert nicht auf die Strecke. Man kann es noch so lange und unter den verschiedensten Winkeln an eine Dachlatte anlegen, ihre Länge wird man auf diese Weise niemals bestimmen können. Dazu benötigt man beispielsweise einen Zollstock. Umgekehrt macht es keinen Sinn, sich selbigen unter die Achsel zu klemmen - die Temperatur wird man so niemals in Erfahrung bringen.

Dieser Vergleich ist deshalb nicht irrelevant, als daß die Behauptung im Raum steht, die Experimente könnten zu keinen nennenswerten Schäden an der Umwelt führen. Präziser wäre es zu sagen: Die am LHC arbeitenden Physiker erwarten nicht, daß die von ihnen aufgestellten Detektoren etwas anzeigen, das für die Umwelt gefährlich werden könnte.

Hieran zeigt sich jedoch ein fundamentales Problem in der Argumentation der Befürworter der Versuche am LHC. Einerseits wollen sie mit Energien arbeiten, die bislang an keinem Teilchenbeschleuniger erreicht wurden, und es sollen Dinge entstehen, die bislang nicht nachgewiesen wurden. Andererseits soll auf keinen Fall etwas passieren, das zu ernsthaften Schäden führt. Das Argument wirkt nicht nur auf den Laien unglaubwürdig, auch der eine oder andere Wissenschaftler geht damit nicht d'accord, wie die noch anhängige Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beweist.

Argumente der Befürworter wie, "ich habe Frau und Kinder, ich würde nichts gutheißen, was ihnen schaden könnte," oder "schon vor acht Jahren wurden beim Anwerfen des Teilchenbeschleunigers RHIC am Brookhaven National Laboratory Befürchtungen laut, daß fremdartige Materie produziert wird, und dazu es ist nicht gekommen", sind nicht stichhaltig. Erstens soll den am LHC arbeitenden Physikern keineswegs unterstellt werden, sie handelten aus ihrer Sicht unverantwortlich. Sie glauben fest daran, daß die Experimente nicht entufern. Aber Gewißheit gibt es nur als Annäherungswert, und auch Physiker können sich irren. Wäre es nicht so, würden die Menschen heute noch annehmen, daß die Erde eine Scheibe ist. Zweitens vergliche man Äpfel mit Birnen, wenn die angebliche Harmlosigkeit der LHC-Versuche damit zu begründen versucht wird, daß auch die Versuche am RHIC nicht schiefgegangen sind.

Kommen wir zurück auf unser Eingangsbild des Höhlenbewohners. Sollte er mit seinen funkensprühenden Kollisionsexperimenten - Stein prallt auf Stein - versehentlich die zundertrockenen Schlafstätten von ihm und seinen Mitbewohnern in Brand gesteckt haben, würde er vermutlich auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe antworten, daß er sich nichts Böses dabei gedacht habe. Nun, ein Höhlenfeuer dürfte relativ einfach zu löschen sein, und selbst wenn das womöglich mühsam im Wald zusammengeklaubte Interieur restlos zerstört ist, wäre die Behausung wahrscheinlich mit ein paar Handgriffen wieder bezugsfertig. Ob das auch für die Höhle unter dem französisch-schweizerischen Jura und ihre Umgebung gilt?

Kommen wir abschließend auf einen Aspekt, der in der öffentlichen Debatte weitgehend unbeachtet geblieben ist. Die Physiker wollen fundamentale Erkenntnisse zum vermuteten Urknall, zum Aufbau der Materie und zur Beschaffenheit des Universums gewinnen. Was ist von einem Weltbild zu halten, das auf Erkenntnissen beruht, die wesentlich mit Methoden der ultimativen Zerstörung (Kollisionsexperimenten) gewonnen werden? Ergibt sich daraus nicht zwingend der Schluß, daß auch das Weltbild nichts anderes hervorzubringen imstande ist, als die vermeintlich naturgesetzliche Zerstörung zu begründen? Es ist bezeichnend, daß die zerstörerischste Waffe der Menschheit, die Atombombe, in der Folge der Hochzeit des physikalischen Erkenntniszuwachses entwickelt wurde. Das westliche Weltbild erlebte an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert einen ungeheuren Innovationsschub ... mit letztlich vernichtender Konsequenz für hunderttausende Menschen in Hiroshima und Nagasaki.

Sollte der LHC die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen und zu einem neuen Weltbild überleiten, wäre in der Verarbeitung der Daten mit einem Produkt zu rechnen, das möglicherweise ein Vielfaches der Vernichtungskraft der Atombombe birgt. Die Physiker wissen davon. Bereits vor hundert Jahren schwärmten sie von unbegrenzten Energieressourcen - entstanden sind Kernwaffen und als Nebenprodukt Kernkraftwerke. Erneut träumen Wissenschaftler von Energie im Überfluß, wenn sie gemäß ihrem Weltbild, das sie durch die Experimente am LHC bestätigen und verfeinern wollen, neue Materiezustände erzeugen wollen.

Mit jener "unbegrenzten Energie", deren Erschließung sich die Physiker am CERN auf der Spur wähnen, könnten diejenigen, die sich im Besitz des Wissens und seiner technologischen Übertragsprodukte befinden, schon ein überzeugendes Drohpotential gegen unliebsame Staaten aufbauen. Bei einer Investition von vier Milliarden Euro soll ja auch was herausspringen ... die Befürchtung, daß die Experimente vorher aus dem Ruder laufen, sollte angesichts des angestrebten Ergebnisses nicht ausgeschlossen werden.

25. September 2008