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ASTRO/179: Multiversum in Beweisnot (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 11/11 - November 2011

Kosmologie
Multiversum in Beweisnot

Von George F.R. Ellis


Viele Kosmologen fasziniert die Idee, es gebe unzählige Paralleluniversen mit jeweils eigenen Naturgesetzen. Doch das Problem ist: Niemand wird je nachprüfen können, ob ein solches Multiversum überhaupt existiert.


AUF EINEN BLICK

Unsichtbare Parallelwelten

1. Die Idee, es gebe jenseits unseres Weltalls noch andere Universen, war bis in die 1990er Jahre allein ein Thema für Sciencefiction-Romane. Doch heute behaupten viele Forscher, außerhalb unseres Kosmos lägen unzählige weitere Welten.

2. All diese Palleluniversen, in denen unter Umständen jeweils eigene physikalische Gesetze herrschen sollen, bilden zusammen das hypothetische Multiversum.

3. Allerdings wird eine astronomische Beobachtung dieser anderen Universen niemals möglich sein. Bestenfalls sprechen indirekte Argumente für das Multiversum - doch selbst wenn es existiert, bleiben grundlegende Naturrätsel ungelöst.


Seit einigen Jahren debattieren Kosmologen über eine kühne These: Außer dem expandierenden Universum, das wir wahrnehmen, sollen noch ungezählte weitere Universen existieren. Es gäbe demnach nicht nur einen Kosmos, sondern ein Multiversum. Der amerikanische Physiker Brian Greene bezeichnet diese Vorstellung als »super-kopernikanische Revolution«, da ihr zufolge nicht nur unser Planet einer unter vielen ist, sondern sogar unser gesamtes Universum in kosmischem Maßstab unbedeutend.

Was genau ist das, ein Multiversum? Zunächst einmal hat das Wort mehrere Bedeutungen. Astronomen vermögen bis zu einer Entfernung von rund 42 Milliarden Lichtjahren zu sehen; diese optische Grenze definiert unseren kosmischen Horizont. Es gibt aber keinen Grund, warum das All dort aufhören sollte. Jenseits des Horizonts dürften viele - sogar unendlich viele - Bereiche liegen, die dem für uns sichtbaren Kosmos gleichen. Zwar war die Materie anfänglich in jedem dieser Bereiche anders verteilt, aber in allen gelten dieselben Naturgesetze. Fast alle Experten akzeptieren diesen Typ des Multiversums, den der amerikanische Kosmologe Max Tegmark »Ebene 1« nennt.

Doch manche Theoretiker gehen weiter. Sie postulieren völlig unterschiedliche Universen mit einer jeweils anderen Physik, mit einer eigenen Geschichte oder gar mit unterschiedlich vielen Raumdimensionen. Die meisten dieser hypothetischen Welten sind lebensfeindlich, doch einige wimmeln von Organismen. Ein Hauptvertreter dieses »Ebene-2«-Multiversums ist der russisch-amerikanische Physiker Alexander Vilenkin. Er entwirft das dramatische Bild einer unendlichen Menge von Universen mit unendlich vielen Personen darin, die Ihren Namen tragen und gerade diesen Artikel lesen.

Derlei Behauptungen sind in vielen Kulturen nichts Neues. Neu ist allein der Anspruch, das Multiversum sei eine wissenschaftliche, also mathematisch strenge und experimentell prüfbare Theorie. Ich bin da skeptisch und glaube nicht, dass die Existenz dieser anderen Universen bewiesen wurde - ja überhaupt beweisbar ist. Indem die Befürworter des Multiversums unseren Begriff von physikalischer Realität ins Unermessliche erweitern, definieren sie stillschweigend die Bedeutung von Wissenschaft neu.


Über den Horizont hinaus

Die Vertreter eines weiten Multiversumbegriffs machen verschiedene Vorschläge, wie derart viele Universen entstehen könnten und wo sie alle sich aufhalten mögen. Liegen sie weit jenseits unseres Raumgebiets, wie das Modell der chaotischen Inflation von Alan H. Guth und Andrei Linde behauptet (siehe »Das selbstreproduzierende inflationäre Universum« von Andrei Linde, Spektrum der Wissenschaft 1/1995, S. 32)? Existieren sie zu unterschiedlichen Zeiten, wie das Modell des zyklischen Universums von Paul J. Steinhardt und Neil Turok vorsieht (siehe »Die Zeit vor dem Urknall« von Gabriele Veneziano, Spektrum der Wissenschaft 8/2004, S. 30)? Oder existieren sie, wie der britische Physiker David Deutsch behauptet, sogar im selben Raum wie wir, aber in einem anderen Zweig der quantenmechanischen Wellenfunktion (siehe »Die Quantenphysik der Zeitreise« von David Deutsch und Michael Lockwood, Spektrum der Wissenschaft 11/1994, S. 50)? Vielleicht haben sie überhaupt keinen Ort, sondern sind von unserer Raumzeit völlig abgekoppelt, wie Max Tegmark und Dennis Sciama annehmen (siehe »Paralleluniversen« von Max Tegmark, Spektrum der Wissenschaft 8/2003, S. 34).

Die am meisten akzeptierte Variante ist die chaotische Inflation, auf die ich mich konzentrieren will, doch gelten meine Anmerkungen im Prinzip auch für die übrigen Vorschläge. Die Idee besagt, dass der Raum insgesamt eine ewig expandierende Leere darstellt, in der Quanteneffekte fortwährend neue Universen hervorbringen. Das Inflationsmodell stammt aus den 1980er Jahren, und Physiker haben es auf Grundlage der Stringtheorie - einer »großen Vereinheitlichung« der Naturkräfte mit Ausnahme der Gravitation - weiterentwickelt. Gemäß der Stringtheorie können die blasenförmig keimenden Universen ganz unterschiedlich aussehen. Jede Blase beginnt demnach nicht nur mit einer zufälligen Materieverteilung, sondern auch mit einem beliebigen Materietyp. Zum Beispiel enthält unser Universum Elektronen und Quarks, die elektromagnetisch wechselwirken; in anderen Universen könnte es ganz andere Teilchen und Kräfte geben - und somit andere physikalische Gesetze. Die Gesamtmenge der zulässigen lokalen Gesetze wird als Stringlandschaft bezeichnet. Laut einigen Interpretationen ist diese Landschaft riesig und erlaubt eine enorme Vielfalt von Universen.


Das astronomische Jenseits

Wenn Astronomen ihre Teleskope auf den Himmel richten, können sie bis zu einer Entfernung von rund 42 Milliarden Lichtjahren sehen. Dieser kosmische Horizont gibt an, wie weit das Licht seit dem Urknall reisen konnte, während sich das Universum zugleich ausdehnte. Unter der plausiblen Annahme, dass der Raum dort nicht einfach aufhört, formulieren die Kosmologen Hypothesen über die Welt jenseits des Horizonts.

DAS EBENE-1-MULTIVERSUM: Plausibel
Die einfachste Annahme besagt, dass unser Raumvolumen ein repräsentatives Beispiel des Ganzen darstellt. Weit entfernte Außerirdische sehen andere Volumina, die sich aber alle gleichen - abgesehen von zufälligen Unterschieden der Materieverteilung. Insgesamt bilden die sichtbaren und unsichtbaren Gebiete eine einfache Art von Multiversum.

DAS EBENE-2-MULTIVERSUM: Fragwürdig
Viele Kosmologen gehen weiter und vermuten, dass in genügend großer Entfernung ganz andere Bedingungen herrschen. Unsere Umgebung ist demnach nur eine von vielen Blasen, die in einem ansonsten leeren Hyperraum treiben. In jeder Blase sollen jeweils eigene Naturgesetze gelten. Die anderen Blasen sind prinzipiell nicht direkt beobachtbar. Skeptiker halten diesen Typ des Multiversums für zweifelhaft.

Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.


Viele Physiker, insbesondere Befürworter der Stringlandschaft, interessieren sich eigentlich nicht besonders für Paralleluniversen. Einwände gegen den Begriff des Multiversums halten sie für unerheblich. Ihre Theorien stehen und fallen mit der inneren Widerspruchsfreiheit und werden, so hoffen sie, letztlich empirisch bestätigt. Das Multiversum betrachten sie nur als theoretischen Rahmen, während ihnen seine Entstehung ziemlich egal ist - anders als den Kosmologen.

Für diese bildet der kosmische Horizont das Grundproblem jeder Art von Multiversum. Weiter als bis zu diesem Horizont können wir nicht sehen - denn die mit Lichtgeschwindigkeit reisenden Signale hatten seit Beginn des expandierenden Universums keine Zeit, uns aus noch größeren Entfernungen zu erreichen. Sämtliche Paralleluniversen liegen jenseits unseres Horizonts und werden auch mit noch so raffinierter Zukunftstechnik für immer unsichtbar bleiben. Sie sind derart weit entfernt, dass sie niemals den geringsten Einfluss auf unser Universum ausüben können. Darum lässt sich keine Aussage über das Multiversum direkt bestätigen.

Die Anhänger der Vielweltenthese meinen, wir könnten aus den innerhalb des Horizonts gewonnenen Daten in groben Zügen folgern, was an Orten geschieht, die 1000, 10100, 101.000.000 oder unendlich Mal so weit entfernt liegen wie der kosmische Horizont. Das ist eine gewagte Extrapolation. Vielleicht schließt sich das Universum in sehr großem Maßstab, und es gibt da draußen keine Unendlichkeit. Vielleicht hört die gesamte Materie im Universum irgendwo auf, und danach kommt nur noch leerer Raum. Vielleicht enden Raum und Zeit an einer Singularität, die das Universum begrenzt. Kurzum: Wir wissen einfach nicht, was wirklich der Fall ist, denn wir besitzen über diese Regionen keine Information - und das wird immer so bleiben.


Sieben fragwürdige Argumente

Die meisten Verfechter des Multiversums sind seriöse Wissenschaftler, die sich des Problems völlig bewusst sind; sie meinen aber, wir könnten dennoch fundierte Vermutungen über die Vorgänge dort draußen anstellen. Ihre Argumente lassen sich grob in sieben Klassen einteilen, die samt und sonders problematisch sind.

Der Raum hat kein Ende.
Kaum jemand bestreitet, dass der Raum sich über unseren kosmischen Horizont hinaus erstreckt und dass jenseits des für uns Sichtbaren viele andere Bereiche liegen. Wenn dieser eingeschränkte Typ von Multiversum existiert, können wir von dem, was wir sehen, auf Regionen außerhalb des Horizonts schließen, wobei die Ungewissheit mit wachsender Entfernung zunimmt. Man kann sich dann leicht in immer größerer Entfernung kompliziertere Variationen ausmalen - etwa eine andere Physik. Doch das Problem mit dieser Extrapolation vom Bekannten zum Unbekannten ist, dass niemand sie zu widerlegen vermag. Wie können Forscher entscheiden, ob ihr Bild einer unbeobachtbaren Raumzeitregion eine vernünftige oder abstruse Extrapolation darstellt? Haben andere Universen abweichende Anfangsverteilungen der Materie, oder gelten dort andere Werte für fundamentale Naturkonstanten, etwa für die Stärke der Kernkräfte? Beides wäre möglich.

Die Physik sagt separate Domänen voraus.
Manche vereinheitlichte Theorien enthalten so genannte Skalarfelder - hypothetische Verwandte des Magnetfelds und anderer raumfüllender Kraftfelder. Sie sollen die kosmische Inflation antreiben und unendlich viele Universen erzeugen. Die Modelle sind theoretisch gut begründet, aber das Wesen der hypothetischen Felder ist unbekannt: Ihre Existenz wurde noch nicht experimentell bestätigt, niemand hat je ihre mutmaßlichen Eigenschaften gemessen. Vor allem haben die Physiker nicht erklärt, warum die Dynamik dieser Felder in verschiedenen Blasenuniversen zu unterschiedlichen Naturgesetzen führen sollte.

Die Theorie, die unendlich viele Universen voraussagt, wird durch Beobachtungen bestätigt.
Die kosmische Hintergrundstrahlung enthüllt, wie das Universum am Ende seiner anfänglichen, heißen Expansionsphase aussah. Aus dem räumlichen Verteilungsmuster der Strahlung geht hervor, dass es wirklich einst eine Periode der Inflation gab. Aber nicht alle Arten von Inflation setzen sich ewig fort und erzeugen unendlich viele Blasenuniversen. Aus den Beobachtungen lässt sich nicht auf einen bestimmten Inflationstyp schließen. Einige Kosmologen wie Paul J. Steinhardt meinen sogar, eine ewige Inflation würde nicht zu den tatsächlich beobachteten Mustern in der Hintergrundstrahlung führen (siehe »Kosmische Inflation auf dem Prüfstand« von Paul J. Steinhardt, Spektrum der Wissenschaft 8/2011, S. 40). Andrei Linde und andere widersprechen. Wer hat Recht? Das hängt davon ab, welche Annahmen man über die Physik des inflationären Felds macht.

Naturkonstanten sind fein auf die Entstehung von Leben abgestimmt.
Unser Universum hat die bemerkenswerte Eigenschaft, dass die physikalischen Konstanten just passende Werte haben, um komplexe Strukturen und insbesondere Leben zu ermöglichen. Wie Steven Weinberg, Martin Rees, Leonard Susskind und andere Theoretiker behaupten, liefert ein exotisches Multiversum eine gute Erklärung für diesen scheinbaren Zufall: Wenn in einer genügend großen Menge von Universen alle möglichen Werte vorkommen, müssen gewiss irgendwo lebensfreundliche Bedingungen herrschen. Dieses Argument wurde unter anderem bemüht, um die Dichte der Dunklen Energie zu erklären, von der man annimmt, dass sie die gegenwärtige Expansion des Universums beschleunigt. Ich gebe zu, dass das Multiversum möglicherweise diese Dichte erklärt. Jedenfalls haben wir derzeit keine bessere wissenschaftliche Erklärung - aber wir werden sie nie durch Beobachtungen überprüfen können. Außerdem unterstellen die meisten einschlägigen Analysen, die physikalischen Grundgleichungen seien überall gleich, nur die Konstanten variierten. Doch wenn man das Multiversum ernst nimmt, muss das nicht so sein (siehe »Leben im Multiversum« von Alejandro Jenkins und Gilad Perez, Spektrum der Wissenschaft 5/2010, S. 24).

Naturkonstanten entsprechen Vorhersagen des Multiversummodells.
Dieses Argument verfeinert das vorherige, indem angenommen wird, das Universum sei nur gerade so weit auf die Entstehung von Leben abgestimmt wie unbedingt nötig. Die Befürworter ermitteln die Wahrscheinlichkeit für verschiedene Dichtewerte der Dunklen Energie. Je höher der Wert, desto wahrscheinlicher ist er, aber desto lebensfeindlicher verhält sich das Universum. Der Wert, den wir beobachten, sollte genau an der Grenze zur Unbewohnbarkeit liegen, und anscheinend trifft das in der Tat zu (siehe Kasten unten). Der Haken ist nur, dass wir nicht mit Wahrscheinlichkeiten argumentieren dürfen, falls es gar kein Multiversum gibt, auf das der Wahrscheinlichkeitsbegriff anwendbar wäre. Das Argument setzt demnach voraus, was es beweisen will; wenn nur ein Universum existiert, gilt es schlicht nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist ein Test für die Widerspruchsfreiheit des Multiversummodells, aber kein Existenzbeweis.


Passt die Dunkle Energie?

Als Indiz für das Multiversum zitieren Befürworter die Dichte der Dunklen Energie, welche gegenwärtig für die beschleunigte Expansion des Universums sorgt. Die ewige Inflation verleiht jedem Paralleluniversum einen zufälligen Dichtewert seiner Dunklen Energie. Nur wenige Universen haben niedrige Werte, die meisten höhere (blaues Gebiet). Doch allzu große Dunkle Energie zerreißt die komplexen Strukturen, die zur Entstehung von Leben nötig sind (rotes Gebiet). Darum sollte in den meisten bewohnbaren Universen eine mittlere Dichte Dunkler Energie herrschen (Spitze des schwarzen Gebiets) - und genau das ist in unserem Universum tatsächlich der Fall. Doch Skeptiker halten dieses Argument für einen Zirkelschluss: Es gilt nur, wenn man von vornherein das Multiversum unterstellt.

Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.


Die Stringtheorie sagt eine Vielfalt von Universen voraus.
Die Stringtheorie trat mit dem Anspruch an, alles zu erklären, erweckt aber eher den Anschein, in ihr sei alles möglich. In der gegenwärtigen Form besagt sie, dass viele wesentliche Eigenschaften unseres Universums pure Zufälle sind. Wenn es nur ein Universum gibt, erscheinen diese Eigenschaften unerklärlich. Wie sollen wir beispielsweise verstehen, warum die Physik just so beschaffen ist, dass sie Leben ermöglicht? Doch falls das Universum bloß eines unter vielen ist, ergibt das - nach den oben erwähnten Argumenten - sofort Sinn. Nur ist die Stringtheorie weder empirisch bestätigt noch überhaupt vollständig. Erst wenn experimentell bewiesen wäre, dass sie zutrifft, wären ihre theoretischen Vorhersagen ein legitimes Argument für ein Multiversum. Ein solcher Beweis steht bislang aus.

Alles, was geschehen kann, geschieht tatsächlich.
Um zu erklären, warum die Natur gewissen Gesetzen gehorcht und anderen nicht, haben einige Physiker und Philosophen angenommen, die Natur treffe gar keine Wahl: Alle erdenklichen Gesetze gälten irgendwo. Die Idee wurde teilweise von der Quantenmechanik angeregt, die nach einem denkwürdigen Ausspruch des Theoretikers Murray Gell-Mann besagt, dass alles, was nicht verboten ist, zwangsläufig der Fall ist. Ein Teilchen nimmt alle Wege, die es nehmen kann, und was wir sehen, ist der gewichtete Mittelwert all dieser Möglichkeiten. Vielleicht gilt das Gleiche für das gesamte Universum - und schon landen wir beim Multiversum. Doch Astronomen haben nicht die kleinste Chance, dieses Multiversum von Möglichkeiten zu beobachten. Wir können nicht einmal wissen, von welchen Möglichkeiten die Rede ist. Die Idee ist nur dann sinnvoll, wenn wir ein unbeweisbares Organisationsprinzip voraussetzen, das entscheidet, was erlaubt ist und was nicht - zum Beispiel, dass alle möglichen mathematischen Strukturen in irgendeiner physikalischen Region verwirklicht sein müssen, wie Tegmark meint. Wir haben aber keine Ahnung, welche Arten von Existenz dieses Prinzip zur Folge hat - außer der Tatsache, dass es notwendigerweise die uns umgebende Welt einschließen muss. Auch können wir die Existenz oder das Wesen eines solchen Organisationsprinzips niemals überprüfen. Die Idee mag attraktiv sein, aber ihr angeblicher Bezug zur Wirklichkeit ist pure Spekulation.


Fehlende Indizien

Obwohl die theoretischen Argumente nicht ausreichen, haben Kosmologen mehrere empirische Tests für Paralleluniversen vorgeschlagen. Die kosmische Hintergrundstrahlung birgt vielleicht Spuren von anderen Blasenuniversen, falls unser Universum einst mit einer anderen Blase kollidiert ist, die aus dem chaotischen Inflationsszenario hervorging. Die Hintergrundstrahlung könnte auch Überbleibsel von Universen enthalten, die vor dem Urknall in einem endlosen Zyklus von Universen existierten. Dies würde uns echte Indizien für andere Universen liefern. Alle Behauptungen, man hätte entsprechende Hinweise gefunden, sind freilich höchst umstritten, und viele der hypothetischen Universen würden keinerlei Spuren hinterlassen. Darum lassen sich nur spezielle Typen von Multiversummodellen auf diese Weise überprüfen.

Ein zweiter Test versucht, winzige Abweichungen einzelner Naturkonstanten aufzuspüren; das würde die Annahme bestätigen, dass die Naturgesetze doch nicht ganz unveränderlich sind. Einige Astronomen behaupten, sie hätten solche Variationen gefunden (siehe »Veränderliche Naturkonstanten« von John D. Barrow und John K. Webb, Spektrum der Wissenschaft 10/2005, S. 78). Doch den meisten Forschern erscheint die Beweislage zweifelhaft.

Ein dritter Test beruht auf der Raumkrümmung des beobachtbaren Universums: Ist es sphärisch (positiv gekrümmt), hyperbolisch (negativ gekrümmt) oder »flach« (nicht gekrümmt)? Im Allgemeinen besagen die Multiversumszenarien, das Universum sei nicht sphärisch, denn eine Kugel hat nur ein endliches Volumen. Leider ist dieser Test nicht schlüssig. Jenseits unseres Horizonts könnte das Universum eine andere Form annehmen. Außerdem schließen nicht alle Multiversumtheorien eine sphärische Geometrie aus.

Ein besserer Test ist die Topologie des Universums: Ist es ringförmig geschlossen wie ein Torus oder eine Brezel? Dann wäre es endlich groß; das würde die meisten Versionen der Inflation - insbesondere die chaotische - definitiv widerlegen. Eine solche Gestalt würde wiederkehrende Muster am Himmel erzeugen, etwa riesige Kreise in der kosmischen Hintergrundstrahlung (siehe »Ist der Raum endlich?« von Jean-Pierre Luminet et al., Spektrum der Wissenschaft 7/1999, S. 50). Astronomen haben vergeblich nach solchen Mustern gesucht, aber das ist noch kein Grund, einem Multiversum den Vorzug zu geben.

Schließlich könnten die Physiker versuchen, einige der Theorien, die ein Multiversum vorhersagen, zu bestätigen oder zu widerlegen. Vielleicht finden sie empirische Indizien, die gegen die chaotische Inflation sprechen; vielleicht entdecken sie mathematische oder empirische Widersprüche im stringtheoretischen Landschaftsmodell. So etwas würde der Idee des Multiversums einen schweren Schlag versetzen.


Vages Konzept statt definierter Theorie

Alles in allem sind die Argumente für das Multiversum nicht überzeugend. Den Hauptgrund dafür bildet die extreme Schwammigkeit der Idee: Es handelt sich eher um ein vages Konzept als um eine definierte Theorie. Aus dem Mechanismus der ewigen Inflation folgt nicht automatisch, dass in jedem Teil des Multiversums eine andere Physik herrschen muss; dafür soll eine weitere spekulative Theorie herhalten. Zwar lassen sich beide kombinieren, aber das ist nicht zwingend.

Der entscheidende Schritt zur Begründung eines Multiversums ist die Extrapolation vom Bekannten zum Unbekannten, vom Überprüfbaren zum Unprüfbaren. Je nach Wahl der Extrapolation ergeben sich unterschiedliche Resultate. Da Theorien, die mit einem Multiversum operieren, fast alles zu erklären vermögen, kann jede Beobachtung zu irgendeiner Variante der Theorie passen. Die verschiedenen »Beweise« suggerieren eigentlich, dass wir eine theoretische Erklärung an Stelle einer empirischen Prüfung akzeptieren sollen. Doch bisher war Empirie die Grundvoraussetzung jeder wissenschaftlichen Forschung.

Zweifellos ist eine einheitliche Hypothese, die viele Phänomene erklärt, einem Sammelsurium von separaten Adhoc-Annahmen vorzuziehen. Dafür wäre man geneigt, sogar die Existenz unbeobachtbarer Paralleluniversen zu akzeptieren. Doch werden im Fall des Multiversums ungeheuer viele - oder gar unendlich viele - unbeobachtbare Gebilde postuliert, nur um ein einziges vorhandenes Universum zu erklären. Das passt schlecht zu der Maxime des englischen Philosophen William von Ockham (1285-1314), dass »Entitäten nicht unnötig vervielfacht werden sollen«.

Schließlich führen die Befürworter des Multiversums ein letztes Argument an: Es gebe keine guten Alternativen. Wissenschaftler fänden den Wildwuchs paralleler Welten vielleicht abstoßend, aber eine bessere Erklärung sei nicht in Sicht. Wer das Multiversum verwerfe, möge gefälligst einen brauchbaren Ersatz vorschlagen. Doch die Suche nach Alternativen hängt davon ab, was wir als Erklärung akzeptieren. Die Physiker hoffen seit jeher, dass die Gültigkeit der Naturgesetze unvermeidlich ist: Die Dinge sind, wie sie sind, weil sie gar nicht anders sein können. Aber anscheinend lässt sich so etwas nicht beweisen. Vielleicht ist das Universum ein bloßes Zufallsprodukt; es ist nun einmal so geworden, wie es ist. Oder vielleicht sollen die Dinge so und nicht anders sein; ihrer Existenz läge dann ein Zweck oder eine Absicht zu Grunde. Das sind aber keine wissenschaftlichen Fragen, sondern metaphysische Spekulationen, die keine physikalische Theorie zu entscheiden vermag - weder für ein einziges Universum noch für ein Multiversum.

Um neue Erkenntnisse zu gewinnen, müssen wir an der Idee festhalten, dass Empirie den Kern der Wissenschaft ausmacht. Ohne eine kausale Verbindung zu den Wesenheiten, die wir vorschlagen, verlieren wir uns in Hirngespinsten. Diese Verbindung kann durchaus ein wenig indirekt sein. Wenn eine Entität zwar unbeobachtbar, aber absolut notwendig ist für andere, tatsächlich verifizierte Entitäten, kann sie selbst als verifiziert gelten. Aber dann muss das Netzwerk von Erklärungen die Beweislast tragen. Meine kritische Frage an die Befürworter des Multiversums lautet: Könnt ihr beweisen, dass unsichtbare Paralleluniversen nötig sind, um die sichtbare Welt zu erklären? Ist die Verbindung wesentlich und unausweichlich?

Bei aller Skepsis halte ich das Konzept des Multiversums für einen ausgezeichneten Anlass, um über das Wesen der Wissenschaft und den Grund unseres Daseins nachzudenken. Das führt zu neuen, interessanten Erkenntnissen und ist somit ein produktives Forschungsprogramm. Wir sollten den Begriff des Multiversums vorurteilsfrei betrachten, aber nicht voraussetzungslos. Wir begeben uns dabei auf unsicheres Terrain.

Ob Paralleluniversen existieren oder nicht, bleibt unentschieden. Mit dieser Ungewissheit müssen wir leben. Gegen eine philosophische Spekulation auf wissenschaftlicher Grundlage - um nichts anderes handelt es sich beim Multiversum - ist an sich nichts einzuwenden. Nur sollten wir dann das Kind beim Namen nennen.


DER AUTOR
George F.R. Ellis ist Kosmologe und emeritierter Mathematikprofessor an der University of Cape Town (Südafrika). Er ist ein führender Experte für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie und hat 1975 mit Stephen Hawking das grundlegende Fachbuch »The Large Scale Structure of Space-Time« veröffentlicht.

QUELLEN
Carr, B. (Hg.): Universe or Multiverse? Cambridge University Press, Cambridge 2009

Ellis, G.F.R.: Issues in the Philosophy of Cosmology. In: Butterfield, J., Earman, J. (Hg.): Philosophy of Physics. Elsevier, Amsterdam 2006

Greene, B.: The Hidden Reality: Parallel Universes and the Deep Laws of the Cosmos. Knopf, New York 2011

Kragh, H.: Higher Speculations: Grand Theories and Failed Revolutions in Physics and Cosmology. Oxford University Press, Oxford 2011

WEBLINKS
www.scientificamerican.com/article.cfm?id=does-the-multiverse-really-exist
Leserdebatte, unter anderem über die Größe des kosmischen Horizonts (in englischer Sprache)

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1120982


© 2011 George F.R. Ellis, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 11/11 - November 2011, Seite 36 - 42
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2011