Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → PHYSIK

ASTRO/217: Kosmologische Kuriositäten - Teil 1 (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 2/13 - Februar 2013
Zeitschrift für Astronomie

Kosmologische Kuriositäten
Teil 1: Krümmung und Expansion

Von Elena Sellentin und Matthias Bartelmann



Möchten wir die Weiten des Kosmos erkunden, stoßen wir mit den uns aus dem Alltag vertrauten Vorstellungen über Raum und Zeit rasch an unsere Grenzen. Denn kosmische Vorgänge wie Lichtablenkung und Expansion lassen sich nur anhand einer formbaren vierdimensionalen Raumzeit erklären. Doch auch das geht durchaus anschaulich.


IN KÜRZE

• Nach Newton treten zwei Massen über Kräfte miteinander in Wechselwirkung; nach Einstein ist es die durch Materie oder Energie gekrümmte Raumzeit, die die Bewegung von Massen mitbestimmt.

• Eine räumlich flache Raumzeit kann raumzeitlich gekrümmt sein, eine räumlich gekrümmte Raumzeit raumzeitlich flach.

• Trotz der Expansion des gesamten Universums können räumliche Teilgebiete darin kollabieren.


Durch ihre Aussagen über Raum und Zeit ist die von Albert Einstein vor rund 100 Jahren entwickelte allgemeine Relativitätstheorie nach wie vor aktuell. Die Theorie erwuchs aus der speziellen Relativitätstheorie, wobei Einstein das Prinzip als Leitlinie diente, dass die träge und die schwere Masse gleichgesetzt werden können. Nach wie vor gibt es keine Beobachtungen, die eine Änderung der Theorie nahelegen oder gar erzwingen würden, wenn auch die Frage ungeklärt ist, wie die Quantentheorie mit der Relativitätstheorie vereinbart werden könne oder wie mit den Singularitäten der Relativitätstheorie umzugehen sei.

Obwohl die allgemeine Relativitätstheorie also fraglos zu den wenigen, monumentalen Säulen der modernen Physik gehört, wird sie oft mit einigem Misstrauen beäugt, weil ihre Annahmen und ihre Schlussfolgerungen allzu weit von der Alltagswelt entfernt zu sein scheinen, auf die unsere Wahrnehmung abgestimmt ist. Oft werden Vorschläge unterbreitet, gerade auch von Laien, wie die Relativitätstheorie durch Vorstellungen ersetzt werden könne, die dem »gesunden Menschenverstand« zugänglicher seien. Das Bedürfnis ist verständlich, die räumliche und zeitliche Struktur unserer Welt und die Schwerkraft mit Begriffen zu verstehen, die einer alltäglichen Erfahrung entlehnt werden können. Dennoch erweisen sich die Konzepte und Begriffe der allgemeinen Relativitätstheorie bei näherem Hinsehen als umwerfend einfach und überzeugend. Dies betrifft auch und besonders die Kosmologie, weil moderne Modelle für das Universum als Ganzes unweigerlich auf der allgemeinen Relativitätstheorie aufbauen müssen.

Wie Entfernungen im Universum zu bestimmen seien, was Rotverschiebung bedeute, was einen gekrümmten Raum von einem flachen und von einer gekrümmten Raumzeit unterscheide, welchen Teil des Universums wir eigentlich beobachten könnten und wie alt es sei, was außerhalb des Universums sei oder was sich vor dem Urknall ereignet habe: Fragen dieser Art werden häufig gestellt. Viele von ihnen sind mit Hilfe weniger, einfacher, klarer Bilder schlüssig zu erklären und keineswegs geheimnisvoll und schon gar nicht im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand, sofern dieser auf das Universum überhaupt mit Erfolg angewandt werden kann. Es geht nicht darum, dass die allgemeine Relativitätstheorie oder die Kosmologie nicht anschaulich oder nicht intuitiv seien. Im Gegenteil: Wer sich eine Weile ernsthaft mit der allgemeinen Relativitätstheorie beschäftigt hat, wird sie in der Regel weit überzeugender finden als die ältere newtonsche Theorie.

Einige Vorstellungen und Begriffe aus der Kosmologie möchten wir in diesem Artikel beschreiben und dabei zu zeigen versuchen, dass es keineswegs allein Experten vorbehalten bleiben muss, wesentliche Aussagen der allgemeinen Relativitätstheorie oder der Kosmologie zu verstehen.


Raum und Zeit als Bühne

Wer die Handlung eines Theaterstücks verstehen will, darf den Hintergrund nicht außer Acht lassen, vor dem es spielt. Während beispielsweise uneheliche Kinder in klassischen oder früheren Dramen meist einen tragischen Ausgang herbeirufen, können sie zeitgenössischen Theaterstücken durchaus eine heitere Wendung geben. So kann der zeitliche Hintergrund eines Stücks trotz gleichen Themas dessen Entwicklung und dessen Schluss entscheidend mitbestimmen.

Für unser Universum gilt dies auf ganz ähnliche Weise: In ihm tritt eine Vielzahl von Darstellern auf, beispielsweise Planeten, Sterne oder Galaxien, aber auch Teilchen wie die Photonen. Die Bühne ihres Zusammenspiels bereitet die kosmologische Raumzeit. Sie bestimmt, ob die Darsteller einem kollektiven Hitzeoder Kältetod entgegengehen, oder ob sie vielleicht sogar auf ewig immer wieder dasselbe kosmische Theaterstück von Neuem aufführen müssen.

In unserem Alltag wie auch auf der kosmischen Bühne ist ein Ereignis festgelegt durch einen bestimmten Zeitpunkt und einen bestimmten Ort. Der Ort ist durch drei räumliche Koordinaten definiert, die voneinander unabhängig sind. Die Zeit existiert als weitere davon unabhängige Größe. In diesem starren, von seinen Bewohnern unbeeinflussbaren Raum-Zeit-Gefüge spielt sich die newtonsche Physik ab.

Auch die Überlegungen der speziellen Relativitätstheorie basieren noch auf einer starren vierdimensionalen Raumzeit. Um die Gravitation mit der speziellen Relativitätstheorie verbinden zu können, wurde das Konzept in die Theorie eingeführt, dass die Geometrie sich von einem Ort zum anderen und mit der Zeit ändern könne. Dies kann durch eine räumliche oder raumzeitliche Krümmung ausgedrückt werden. In der allgemeinen Relativitätstheorie ist die vierdimensionale Raumzeit ein dehn- und formbares, veränderliches Gebilde, dessen geometrische Struktur durch die Massen bestimmt und verändert wird, die in sie eingebettet sind. Da Energie und Masse zueinander äquivalent sind, wirken sich auch alle Formen von Energie auf die Struktur der Raumzeit aus. Im Gegenzug schreiben die Krümmungseigenschaften der Raumzeit vor, wie alle Formen von Materie und Energie sich zu bewegen haben. Die Raumzeit und ihre Bewohner beeinflussen sich also dergestalt gegenseitig. Dieses Wechselspiel bewirkt letztlich auch, dass sich unser Universum ausdehnen muss.

Wie lässt sich aber überhaupt eine Raumzeit für das gesamte Universum konstruieren, die dessen Verhalten bestimmt? Welche Eigenschaften hat sie, und auf welche Ursachen gehen diese zurück?


Aus der Bahn geworfen

In der newtonschen Gravitationstheorie wird der Bewegungszustand eines Körpers, also seine Geschwindigkeit und seine Bewegungsrichtung, durch die Wirkung der Schwerkraft einer anderen - in der Nähe befindlichen - Masse verändert. Die Eigenschaften von Raum und Zeit bleiben dadurch unberührt. In der allgemeinen Relativitätstheorie dagegen wird die Änderung der Bewegung eines Körpers durch die Krümmung der Raumzeit vermittelt, die durch eine andere Masse hervorgerufen wird.

Was geschieht nun aus der Sicht der newtonschen Theorie verglichen mit der allgemeinen Relativitätstheorie, während etwa ein Komet an der Sonne vorbeifliegt? Newton sagt, dass der Komet, zunächst noch weitab von einem schweren Himmelskörper, allein auf Grund seiner trägen Masse seine ursprüngliche Flugrichtung beibehält. Gelangt er jedoch in den Einflussbereich der Schwerkraft der Sonne, wird er beschleunigt und von seiner Bahn abgelenkt. Dadurch kommt seine typische parabel- oder hyperbelförmige Bahn zu Stande. Dieselbe Bahn des Kometen um die Sonne entsteht auch in der allgemeinen Relativitätstheorie. Jedoch sagt Einstein, dass die Sonne durch ihre Masse die Raumzeit in ihrer Umgebung krümmt und eine Senke in der Raumzeit erzeugt, durch die der Komet abgelenkt wird.

Um dies zu veranschaulichen, kann man sich eine gekrümmte Raumzeit reduziert auf zwei räumliche Dimensionen wie ein gespanntes Gummituch vorstellen, das sich einsenkt, wenn schwere Kugeln darauf gelegt werden. Der herannahende Komet wird durch eine kleine Kugel vertreten, die an einer großen Kugel, der Sonne, vorbeirollt. Solange der Komet weit von der Sonne entfernt ist, rollt er geradeaus über das flache Tuch. In der Nähe der Sonne tritt der Komet aber in eine gekrümmte Raumzeit ein. Dort bewegt er sich etwas in die Senke hinein und damit leicht nach innen, was ihn von seiner ursprünglichen Bahn ablenkt, und schließlich wieder aus der Senke hinaus von der Sonne weg (siehe Kasten unten).

KASTEN
Schwerkraft oder Raumzeitkrümmung
Nach der newtonschen Gravitationstheorie ziehen sich zwei Körper auf Grund ihrer schweren Massen an. Auf diese Weise erklärt sich etwa die Bahn eines Kometen im Sonnensystem. Noch weitab von der Sonne bewegt sich der Komet nahezu geradeaus. Nähert er sich dem Zentralgestirn, wird er durch dessen Schwerkraft Fg von seiner ursprünglichen Bahn abgelenkt (Bild links).
Zwei unterschiedliche Modelle erklären ein und dieselbe Kometenbahn.
Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie folgt der Komet den geometrischen Gegebenheiten der Raumzeit, die durch jegliche Form von Materie und Energie bestimmt werden: In der Nähe der Sonne etwa entsteht in der Raumzeit eine Senke, die der Komet durchläuft, wenn er die Sonne passiert (Bild rechts). Auch auf diese Weise lässt sich erklären, dass der Komet von seiner Bahn abgelenkt wird. Das Ergebnis ist dasselbe wie es auch die newtonsche Theorie vorhersagt.
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Kometenbahn nach Isaac Newton
- Kometenbahn nach Albert Einstein
 
KASTEN ENDE


Was ist »geradeaus«?

Wie lässt sich die Bahn des Kometen in dem gekrümmten Raum nun geometrisch verstehen? Der Komet fliegt zu jedem Zeitpunkt in die Richtung, die für ihn »geradeaus« erscheint. Was »geradeaus« ist, wird in einer gekrümmten Raumzeit über die Tangente an eine Bahnkurve bestimmt. Die Tangente an eine Kurve zeigt an, in welche Richtung der nächste Schritt entlang der Kurve erfolgen muss. Entlang einer Geraden im flachen Raum führt der nächste Schritt immer in dieselbe Richtung wie der letzte. Ihre Tangente ist also immer parallel zur Geraden selbst. Anhand dieser Eigenschaft lässt sich die Idee einer Geraden in einen gekrümmten Raum übertragen: Wir betrachten eine Kurve als (möglichst) gerade, die an jedem ihrer Punkte in Richtung ihrer Tangente weiterführt. Solche verallgemeinerten Geraden heißen geodätische Linien oder Geodätische und haben eine möglichst geringe Krümmung. Ebenso wie materielle Teilchen bewegt sich auch Licht auf solchen geodätischen Linien (siehe Kasten unten).

KASTEN
Wie findet Licht seinen Weg im gekrümmten Raum?
Mit Hilfe desselben Konzepts der raumzeitlichen Krümmung, das die allgemeine Relativitätstheorie zur Beschreibung der Wechselwirkunng zwischen Massen heranzieht, erklärt sie auch, wie sich Licht in der Nähe von Massen ausbreitet: »geradeaus« zwar, aber auf dem Hintergrund einer gekrümmten Raumzeit. Dabei bewegt es sich entlang so genannter geodätischer Linien, die den Weg der geringsten Krümmung vorgeben. Was für ein Photon in einer gekrümmten Raumzeit »geradeaus« bedeutet, kann damit mathematisch streng festgelegt werden.
Geodätische Linien weisen Licht in der gekrümmten Raumzeit den Weg geradeaus.
Die Position eines Sterns, dessen Licht nahe an der Sonne vorbeiläuft, erscheint uns daher ein klein wenig versetzt verglichen mit seiner tatsächlichen Position (Bild links). Dieser Effekt lässt sich gut bei einer Sonnenfinsternis nachprüfen. Auch bei weiter entfernten kosmischen Objekten macht sich die Lichtablenkung als Gravitationslinseneffekt bemerkbar. Galaxien oder Quasare, deren Licht auf dem Weg zum Beobachter massereiche Galaxien oder auch Galaxienhaufen passiert, können mehrfach, etwa als Einstein-Kreuz, abgebildet werden oder auf bizarre Weise verzerrt erscheinen (Bild rechts). In der newtonschen Theorie ist dagegen unklar, wie ein Photon als masseloses Teilchen eine in der Nähe liegende Masse bemerken könnte.
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Lichtablenkung nahe der Sonne
- Einsteinkreuz
 
KASTEN ENDE


Ob ein Raum nun flach oder in irgendeiner Form gekrümmt ist, kann man daran erkennen, wie zwei benachbarte geodätische Linien zueinander verlaufen. In einem flachen Raum, zum Beispiel auf einer Tischplatte, streben zwei Geraden so voneinander weg, dass der Abstand zwischen ihnen proportional zum Weg ist, den man auf einer der beiden Geraden zurückgelegt hat (siehe Kasten unten).

KASTEN
Flacher oder gekrümmter Raum?
Ob der Raum, in dem sich die Bewohner aufhalten, flach oder gekrümmt ist, lässt sich herausfinden, indem sich zwei Bewohner A und B auf zwei unterschiedlichen Geodätischen in diesem Raum bewegen und messen, in welchem Maße sie sich voneinander entfernen: In einem flachen Raum bewegen sie sich auf zwei Geraden voneinander weg. Ihr Abstand nimmt mit zunehmender Entfernung vom Schnittpunkt der beiden Geraden linear zu. Anders verhält es sich auf der Oberfläche des Erdballs. Starten A und B am Nordpol und entfernen sich auf verschiedenen Großkreisen, den Geodätischen auf einer Kugeloberfläche, voneinander, wird ihr Abstand zueinander anfangs fast linear zunehmen, je näher sie dem Äquator kommen, wird er sich jedoch immer langsamer vergrößern. Dieses Verhalten kennzeichnet einen positiv gekrümmten Raum.
Die Abstandsänderung zwischen zwei geodätischen Linien gibt die Art der Krümmung an.
Auf einer sattelartig gekrümmten Oberfläche, wie zum Beispiel einem Alpenpass, entsprechen zwei Passstraßen, die auf einem möglichst geraden Weg über die Alpen führen, den geodätischen Linien. Zwei Reisende A und B, die aus unterschiedlichen Richtungen nördlich der Alpen losfahren, nähern sich immer mehr an bis sie sich am Pass am nächsten sind. Nachdem sie den Pass überquert haben, entfernen sie sich wieder voneinander. Ein solches Verhalten von Geodätischen kennzeichnet einen negativ gekrümmten Raum.
Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.
 
KASTEN ENDE


Doch wie verhält es sich in einem gekrümmten Raum? Reduzieren wir den Raum der Einfachheit halber wieder auf zwei Dimensionen und nehmen wir zunächst eine Kugeloberfläche zu Hilfe, um diese Ideen zu veranschaulichen. Stellen wir uns vor, wir befänden uns am Nordpol der Erde und liefen in irgendeine Richtung »geradeaus« los. Dabei müssen wir auf der Erdoberfläche bleiben. Deswegen muss uns jeder Schritt sowohl vom Nordpol wegführen als auch auf der Kugeloberfläche belassen. Die Tangente an unseren Weg muss auch zur Erdoberfläche tangential bleiben. Dies hat zur Folge, dass sich unsere Bahn der Erdoberfläche anschmiegt: Die »möglichst gerade« Bahn führt uns entlang eines Längenkreises vom Nordpol weg nach Süden. Hätten wir nicht am Nordpol begonnen, sondern an einem anderen beliebigen Punkt der Erde, wäre statt des Längenkreises ein anderer Großkreis entstanden. Großkreise sind die Schnittlinien solcher Ebenen mit der Kugeloberfläche, die den Kugelmittelpunkt enthalten. Sie stellen geodätische Linien auf der Kugeloberfläche dar.

Welchen Abstand messen wir nun zu einem Begleiter, der zum selben Zeitpunkt wie wir am Nordpol aufgebrochen ist, aber eine etwas andere Richtung eingeschlagen hat? Zunächst nimmt dieser Abstand nahezu linear mit unserer Entfernung zum Nordpol zu, wächst aber immer weniger, je näher wir dem Äquator kommen, und nimmt sogar wieder ab, sobald wir den Äquator überschritten haben. Ein derartiges Verhalten des Abstands zwischen zwei geodätischen Linien kennzeichnet einen positiv gekrümmten Raum (siehe Kasten oben).

Ersetzen wir nun die Kugel durch eine Sattelfläche. Im Alltag kann uns eine solche Fläche begegnen, wenn wir auf einer Urlaubsreise die Alpen überqueren möchten, dabei aber nicht den Gotthard-Tunnel benutzen, sondern eine Passstraße, die uns zwischen zwei Gipfeln hindurch führt. Steigen wir am höchsten Punkt der Straße - dem Pass - aus unserem Auto und sehen uns genauer um, so zeigt sich folgendes Bild: Entlang der Passstraße, also hinter und vor uns, fällt das Gelände ab. Quer dazu, in Richtung der beiden Gipfel, steigt es jedoch an. Stellen wir uns vor, durch diese Landschaft wären zwei Passstraßen konstruiert worden, die aus unterschiedlichen Richtungen auf den Pass treffen, aber beide möglichst gerade verlaufen sollen. Diese Straßen verlaufen dann entlang geodätischer Linien. Eine könnte beispielsweise aus dem westlichen Teil Deutschlands nach Italien führen, die andere aus dem östlichen Teil Deutschlands. Je näher die Straßen dem Pass kommen, desto kleiner wird der Abstand zwischen ihnen. Am Pass ist ihr Abstand dann minimal, und sie führen nebeneinander über das Gebirge. Sobald das Gelände nach der Passüberquerung abfällt, entfernen sich die Straßen jedoch wieder voneinander. Die Straße aus dem Westen Deutschlands wird dann in den Westen Italiens führen, die Straße aus dem Osten Deutschlands aber in den Osten Italiens. Der Abstand zwischen den Straßen nimmt vor der Passüberquerung schneller ab - und nach der Passüberquerung schneller zu - als der Abstand zweier sich schneidender Geraden in einem ebenen Raum. Ein solches Verhalten des Abstandes zwischen zwei Geodätischen ist typisch für einen negativ gekrümmten Raum (siehe Kasten oben).

Mit der formbaren vierdimensionalen Raumzeit im Hinterkopf können wir uns nun fragen, ob es neben räumlicher Krümmung auch eine raumzeitliche Krümmung geben kann und was dies bedeutet. Denn auf ganz ähnliche Weise wie im Raum allein beschreiben geodätische Linien auch eine raumzeitliche Krümmung. Wie hängen dann räumliche und raumzeitliche Krümmung eigentlich miteinander zusammen?


Krümmung in Raum und Zeit
Konstruieren wir nun mit Hilfe eines Gummituchs ein Beispiel für eine Raumzeit, die räumlich flach ist, und sehen nach, wie sie sich raumzeitlich verhalten kann: Ein flach auf einem Tisch liegendes Gummituch stellt einen flachen Raum dar. Wir denken uns dieses Gummituch mit einem regelmäßigen Gitter bedruckt und wählen zwei Kreuzungspunkte der Gitterlinien aus. Wenn wir uns nun vorstellen, dass das Gummituch im Lauf der Zeit in seinen zwei Dimensionen gleichmäßig gedehnt und dabei mit konstanter Geschwindigkeit von der Tischplatte abgehoben wird, wandern diese beiden Punkte voneinander weg. Im Lauf der Zeit beschreiben sie zwei Linien, die von der Tischplatte weg streben. Dies sind unsere raumzeitlichen Geodätischen. Wie sich diese beiden geodätischen Linien zueinander verhalten, erlaubt uns, die raumzeitliche Krümmung zu ermitteln.

Betrachten wir das Tuch von oben, sehen wir nur, dass sich die beiden Punkte voneinander entfernen. Betrachten wir den Vorgang aber von der Seite, werden die geodätischen Linien sichtbar, entlang derer die beiden Punkte im zeitlichen Verlauf wandern. Abhängig davon, wie das Gummituch gedehnt wird - oder expandiert, haben diese Linien unterschiedliche Formen. Dehnt sich das Tuch mit gleichförmiger Geschwindigkeit aus, beschreiben die beiden Punkte zwei voneinander weg strebende Geraden; die Ausdehnungsrate ist konstant. Wird die Expansion im Lauf der Zeit schneller, krümmen sich die Wege der beiden Punkte voneinander weg; wird sie langsamer, nähern sie sich zwei parallelen Geraden an. Diese geodätischen Linien veranschaulichen also eine raumzeitliche Krümmung, während doch das Gummituch selbst zu jedem Zeitpunkt flach geblieben ist. Wir haben einen flachen Raum konstruiert, der raumzeitlich gekrümmt sein kann (siehe Kasten unten).

KASTEN
Flachheit und Krümmung in der Raumzeit
Der Raum wie auch die Raumzeit lassen sich mit Hilfe eines Gummituchs darstellen. Zu einer festen Zeit stellt das Gummituch hier den Raum dar. Betrachten wir es aber über eine gewisse Zeit hinweg und verfolgen, wie zwei darauf durch Koordinaten vorgegebene Orte 1 und 2 sich zueinander verändern, kann es die Raumzeit veranschaulichen. Ein flacher (Bild links) oder auch ein gekrümmter (Bild rechts) Raum kann sich auf verschiedene Weise ausdehnen: linear (blau), schneller als linear, also beschleunigt (grün), oder langsamer als linear (rot). In Verbindung mit der zeitlichen Dimension ergeben sich je nach Art der Ausdehnung raumzeitliche geodätische Linien mit unterschiedlicher Krümmung: Im flachen Raum und bei linearer Ausdehnungsrate sind das zwei voneinander weg strebende Geraden.
Räumliche und raumzeitliche Krümmung müssen einander nicht bedingen.
Bei beschleunigter Expansion sind es zwei sich voneinander weg krümmende Kurven und bei langsamerer Ausdehnung streben die geodätischen Linien immer weniger voneinander weg, bis sie sich zwei parallelen Geraden annähern. In den beiden letzten Fällen ist die Raumzeit gekrümmt, während der Raum selbst flach ist. Ersetzt man das flache Gummituch durch einen sich ausdehnenden Ballon, sind die geodätischen Linien bei linearer Ausdehnung zwei voneinander weg strebende Geraden - trotz gekrümmtem Raum ist die Raumzeit flach! Dehnt sich der Ballon beschleunigt oder langsamer als linear aus, ist die Raumzeit aber ebenfalls gekrümmt.
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- flacher, expandierender Raum
- gekrümmter, expandierender Raum
 
KASTEN ENDE


Nehmen wir statt des Tuchs einen Luftballon, halten wir ein Beispiel für einen gekrümmten Raum in der Hand. Markieren wir nun zwei Punkte auf der Oberfläche des Ballons und sehen zu, wie ihr Abstand zueinander anwächst, wenn sich der Ballon ausdehnt. Dazu stellen wir uns vor, dass verschiedene Stadien der Ausdehnung des Ballons ineinander gestellt werden. Dadurch sehen wir eine Reihe einander umhüllender Ballons. Wenn wir nun noch die beiden markierten Punkte auf jedem dieser Ballons miteinander verbinden, zeichnen wir die geodätischen Linien nach, entlang derer die Punkte transportiert wurden, während sich der Ballon ausdehnte. Wie diese beiden geodätischen Linien aussehen, hängt davon ab, wie der Ballon aufgeblasen wurde. Ist die Ausdehnungsrate konstant, ergeben sich zwei Geraden, die vom gedachten gemeinsamen Mittelpunkt der Ballonhüllen aus voneinander weg streben: Sie zeigen uns raumzeitliche Flachheit an, obwohl doch der Raum, der Ballon nämlich, gekrümmt ist. Wird die Ausdehnung jedoch immer langsamer, wie es bei einem echten Luftballon zu erwarten wäre, krümmen sich die beiden Linien aufeinander zu und nähern sich zwei parallel verlaufenden Geraden an. Dehnt sich der Ballon beschleunigt aus, biegen sich die Linien voneinander weg. In diesen beiden Fällen beschreibt die Ausdehnung des Ballons eine gekrümmte Raumzeit (siehe Kasten oben). Eine räumlich flache Raumzeit kann also durchaus raumzeitlich gekrümmt sein, ebenso wie eine raumzeitlich flache Raumzeit räumlich gekrümmt sein kann. Raumzeitliche und räumliche Flachheit lassen sich also streng voneinander unterscheiden.

Eine Vielzahl von Messungen hat seit etwa zehn Jahren ergeben, dass unser Universum innerhalb der Messfehler räumlich flach ist. Die aussagekräftigste Messung dieser Art zieht die am weitesten entfernte Lichtquelle in unserem Universum heran, den kosmischen Mikrowellenhintergrund, und vergleicht die Winkelgröße seiner typischen Helligkeitsschwankungen mit der Größe, die sie auf Grund physikalischer Überlegungen haben sollten. Wenn das Universum räumlich flach ist, steht die Winkelgröße in demjenigen Verhältnis zur physikalischen Größe, das tatsächlich gemessen wird. In einem positiv gekrümmten Universum würden dieselben Helligkeitsschwankungen einen größeren Winkel aufspannen, wenn es negativ gekrümmt wäre, einen kleineren. So kann aus einer direkten Winkelmessung die räumliche Krümmung des Universums erschlossen werden. Es könnte auch raumzeitlich flach sein, wenn seine Expansionsrate konstant wäre. Dies ist aber nicht der Fall.


Die veränderliche Konstante

Der zeitliche Verlauf der Ausdehnungsrate entscheidet also mit darüber, ob eine Raumzeit gekrümmt oder flach ist. Die raumzeitliche Krümmung und die Ausdehnungsrate des Universums wiederum hängen aber von seinem Materie- und Energieinhalt ab. Diesen Zusammenhang beschreiben in der allgemeinen Relativitätstheorie die einsteinschen Feldgleichungen für eine beliebige Verteilung von Materie und Energie. Legt man zu Grunde, dass das Universum isotrop und homogen sei, vereinfachen sich diese Gleichungen zu den so genannten Friedmann-Gleichungen (siehe Kasten unten).

KASTEN
Homogenität und Isotropie
Die moderne Kosmologie beruht auf zwei Grundannahmen über das Universum, nämlich dass es homogen und isotrop sei. Isotrop bedeutet, dass das Universum für uns in jeder Raumrichtung im Mittel gleich aussieht. Homogen bedeutet, dass wir im Mittel dasselbe sehen würden, wenn wir von einem anderen Ort im Universum aus beobachten könnten. Die Homogenität und die Isotropie des Universums können aus der Annahme abgeleitet werden, dass sich unsere eigene Position im Universum durch keine Besonderheiten auszeichnen soll.
Das Universum sieht in alle Richtungen nahezu gleich aus, zeitlich ändert sich der Anblick jedoch.
Unter dieser Voraussetzung können wir es wagen, die aus dem Labor vertrauten physikalischen Gesetze auf den Kosmos anzuwenden. Wäre unsere Position ausgezeichnet, wäre es zweifelhaft, weshalb die physikalischen Gesetze auf der Erde dieselben sein sollten wie die in einer weit entfernten Galaxie. Während nach diesen Annahmen unsere Position im Raum zwar durch nichts ausgezeichnet ist, kann unsere Position in der Zeit durchaus besonders sein und etwa von anderen kosmischen Epochen unterschieden werden. Der kosmische Mikrowellenhintergrund, hier in einer Aufnahme von dem Satelliten WAMP bei 2,73 Kelvin, sieht nahezu in alle Richtungen gleich aus. Die Temperaturschwankungen, farblich von blau über grün nach rot gekennzeichnet, betragen maximal 200 Mikrokelvin. Diese minimalen Unterschiede waren maßgeblich für die spätere Strukturbildung.
 
KASTEN ENDE


Anhand der vorgegebenen Materie- und Energiedichten legen diese Gleichungen fest, wie schnell sich das Universum ausdehnen darf. Umgekehrt sinken aber die Dichten als Folge der Ausdehnung ab. Jeder neue Ausdehnungsschritt findet deshalb gemäß einer neu eingestellten Dichte statt. Über die 13,7 Milliarden Jahre hinweg, die unser Universum inzwischen alt ist, hat sich seine Ausdehnungsrate daher ständig verändert.

In der Beobachtung manifestiert sich die Expansion darin, dass das Licht von Galaxien auf Grund ihrer durch die Ausdehnung bedingten, scheinbaren Fluchtbewegung umso stärker rotverschoben ist, je weiter sie von uns entfernt sind. Die Fluchtgeschwindigkeit einer Galaxie und ihre Entfernung stehen über die Hubble-Konstante in Verbindung, die die Ausdehnungsrate wiedergibt. Der aus Beobachtungen abgeleitete heutige Wert der Hubble-Konstanten beträgt etwa 72 Kilometer pro Sekunde und Megaparsec, das heißt, eine Entfernung von einem Megaparsec wird pro Sekunde um 72 Kilometer größer.

Sind Energie- und Materiegehalt des Universums bekannt, lässt sich aus den Friedmann-Gleichungen für jeden beliebigen Zeitpunkt die Ausdehnungsrate bestimmen. Diese zeitliche Funktion der Expansionsrate wird als Hubble-Funktion bezeichnet. Damit ist die Hubble-Konstante nichts anderes als der heutige Wert der Hubble-Funktion. Es handelt sich in Wirklichkeit also gar nicht um eine Konstante. So darf man sich auf Grund dieser Bezeichnung auch nicht dazu verleiten lassen, sich die Ausdehnungsrate des Universums als konstant vorzustellen.

In Bezug auf die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Universums fällt auch oft die Frage, ob es wahr sei, dass sich manche Objekte auf Grund der Expansion des Universums mit Überlichtgeschwindigkeit von uns entfernen. Das ist tatsächlich so, widerspricht aber weder der speziellen noch der allgemeinen Relativitätstheorie. Das liegt daran, dass die Fluchtgeschwindigkeit weit entfernter kosmischer Objekte nicht dadurch zu Stande kommt, dass sie sich relativ zum Raum bewegen würden, sondern dass der Raum selbst sich ausdehnt und die Objekte mit sich nimmt, die er enthält. Weil jede beliebige Strecke in unserem Universum durch diese Expansion gedehnt wird, gibt die Hubble-Konstante die Ausdehnungsgeschwindigkeit relativ zu einer Längeneinheit an: Mit jedem Megaparsec Entfernung nimmt die Geschwindigkeit, mit der Raumgebiete auf Grund der Expansion von uns zurückweichen, um 72 Kilometer pro Sekunde zu. Damit gibt sie auch an, wie schnell der expandierende Raum ein Objekt in einem Megaparsec Entfernung von uns fortträgt, nämlich mit einer Geschwindigkeit von 72 Kilometern pro Sekunde. Ein Objekt in zwei Megaparsec Entfernung wird doppelt so schnell von uns fortgetragen, in drei Megaparsec Entfernung dreimal so schnell und so weiter. In einer Entfernung von gut 4000 Megaparsec ist es dann aber so weit, dass sich ein Objekt durch die Expansion des Raums mit Überlichtgeschwindigkeit von uns entfernt.


Das Schicksal des Universums

Wie ist es nun um die zukünftige zeitliche Entwicklung der Expansion des Universums bestellt: Wird es für immer expandieren? Oder wird die Expansion in ferner Zukunft zu einem Stillstand kommen und sich eventuell sogar in eine Kontraktion umwandeln? All dies sind mögliche Szenarien, die die Friedmann-Gleichungen erlauben. Welches Szenario tatsächlich eintritt, hängt davon ab, welche Eigenschaften dem Universum bei seiner Entstehung, dem Urknall, mitgegeben wurden.

Vergleichbar ist dies mit einem in die Luft geworfenen Stein. Abhängig vom Betrag und der Richtung seiner Startgeschwindigkeit durchläuft er verschiedene Flugbahnen. Wird er senkrecht nach oben geworfen, erreicht er einen höchsten Punkt und fällt danach auf die Erde zurück. Dies entspricht einem Universum, das sich zunächst ausdehnt, dann aber wieder kollabiert. Übersteigt seine Startgeschwindigkeit jedoch die Fluchtgeschwindigkeit, so verlässt er die Erde, was analog zu einem auf immer expandierenden Universum wäre. Wirft man den Stein jedoch schon zu Anfang zu Boden, so wird er immer nur fallen. Für den Stein ist also seine Startgeschwindigkeit eine wichtige Anfangsbedingung, die über seine Flugbahn entscheidet.

Im Fall des Universums werden solche Anfangsbedingungen durch eine Reihe von Parametern gesetzt, die die Dichten verschiedener Formen von Materie und Energie angeben. Sie entscheiden über den Verlauf der Expansion.

Dass diese Dichteparameter genau bestimmt werden konnten, brachte der Kosmologie einen entscheidenden Durchbruch: Satelliten wie Cobe, WMAP und Planck, Ballone wie Boomerang und Maxima, Himmelsdurchmusterungen wie der 2-Degree-Field und der Sloan Digital Sky Survey sowie eine Vielzahl weiterer Beobachtungen ermöglichten es, diese Dichteparameter einzuschränken und die Expansionsgeschichte des Universums zu rekonstruieren.

Der genannte Durchbruch wurde vor allem durch drei Arten von Messungen möglich. Zum einen erlaubten es zunehmend präzise Messungen der Helligkeitsschwankungen im kosmischen Mikrowellenhintergrund, die räumliche Flachheit des Universums festzustellen, wodurch zugleich die Summe aller Dichteparameter bestimmt wurde. Große Durchmusterungen der Galaxienverteilung in unserer weiteren kosmischen Nachbarschaft zeigten, dass die gesamte Materiedichte nicht einmal 30 Prozent der gesamten Dichte erreicht. Aus Messungen an Supernovae vom Typ Ia ist bekannt, dass die restlichen 70 Prozent auf die so genannte Dunkle Energie entfallen. Momentan führt dieses Mischungsverhältnis von Materie und Dunkler Energie zur beschleunigten Expansion des Universums.

Ob dies für alle Zeiten so bliebt, hängt von den Eigenschaften der Dunklen Energie ab, die noch intensiv erforscht werden. Das finale Schicksal des Universums lässt sich erst vorhersagen, wenn die Eigenschaften der Dunklen Energie bekannt sind.


Kollaps einer Kugel

Dass sich das Universum ausdehnt, bedeutet aber keineswegs, dass sich Körper wie die Erde oder Galaxien mit ihm ausdehnen. Der Grund dafür liegt in der Entstehung von Strukturen, die durch ihre Schwerkraft zusammengehalten werden und für die unsere Galaxie ein Beispiel ist. Im sehr jungen Universum gab es jedoch noch keine Strukturen, die durch ihre eigene Schwerkraft zusammengehalten wurden. Stattdessen erfüllte den Raum eine nahezu homogen verteilte Mischung aus dunkler und aus uns bekannter gewöhnlicher Materie. Diese Mischung hatte überall fast dieselbe mittlere Dichte. Jedoch waren schon Gebiete angelegt, in denen die Dichte minimal erhöht war, und andere, in denen sie geringfügig niedriger war (siehe Kasten oben).

Stellen wir uns ein solches leicht überdichtes Gebiet im frühen Universum als eine gleichmäßig mit Gas und dunkler Materie gefüllte Kugel vor. Solche gedachten Kugeln werden Halos genannt. Während die Dichteparameter des Universums die Anfangsbedingungen für seine Ausdehnung setzen, sind die Anfangsbedingungen für die Entwicklung des Halos durch seine eigenen Dichteparameter gegeben. Die Dichte unseres Universums ist nach heutigem Kenntnisstand zu klein, als dass es wieder kollabieren könnte. Würde sie aber eine bestimmte, kritische Dichte überschreiten, könnte in ferner Zukunft ein Kollaps eintreten.

Der betrachtete Halo ist jedoch bereits etwas dichter als seine Umgebung. Nach den Friedmann-Gleichungen, die im Halo ebenso wie außerhalb gelten, dehnt er sich ein wenig langsamer aus. Sein Volumen wächst deswegen langsamer als das eines vergleichbaren Ausschnitts aus dem umgebenden Universum. Dadurch verstärkt sich der Unterschied zwischen den Dichteparametern im Halo und außerhalb. Seine Ausdehnung verlangsamt sich daher zusehends. Falls die anfängliche Überdichte im Halo groß genug war, kommt seine Ausdehnung irgendwann zum Stillstand und kehrt sich in einen Kollaps um. Man sagt, dass sich der Halo zu diesem Zeitpunkt von der kosmischen Ausdehnung abkoppelt (siehe Kasten unten).

KASTEN
Friedmanngleichungen und Halobildung
Wie der Energie- und Materieinhalt und die Krümmung der Raumzeit sich gegenseitig bedingen, ist in der allgemeinen Relativitätstheorie durch die einsteinschen Feldgleichungen gegeben. Unter der Annahme eines homogenen und isotropen Raumes vereinfachen sie sich zu den Friedmann-Gleichungen. Sie übernehmen aus der allgemeinen Relativitätstheorie das Wechselspiel zwischen der Ausdehnung des Universums und seinen Materie- und Energiedichten. Die Dichten legen durch die Friedmann-Gleichungen fest, ob und wie schnell sich das Universum ausdehnen darf. Umgekehrt sinken aber die Dichten während der Ausdehnung ab. Jeder neue Ausdehnungsschritt findet deshalb gemäß einer neu eingestellten Dichte statt.
Regionen größerer Dichte haben sich von der Expansion entkoppelt.
Über die 13,7 Milliarden Jahre hinweg, die unser Universum inzwischen alt ist, hat sich seine Ausdehnungsrate daher ständig verändert. Da sich aus den Friedmann-Gleichungen je nach Anfangsbedingungen unterschiedliche Lösungen ergeben, können sich Regionen mit anfangs leicht erhöhter Dichte im Lauf der Zeit immer mehr verdichten und von der globalen Expansion abkoppeln. So konnten im Universum Strukturen entstehen.
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Regionen mit leicht erhöhter Dichte (a, blaugrau) expandierten von Anfang an langsamer als ihre Umgebung. Mit der Zeit bildeten sich daraus Halos, deren Entwicklung sich immer mehr von der globalen Ausdehnung abkoppelte (b). Schließlich kollabierten die Halos, die darin enthaltene Materie verdichtete sich und formte Galaxien (c).
 
KASTEN ENDE


Betrachten wir dieses Argument noch einmal von seinem Ende her: Der sich erst ausdehnende, später kollabierende Halo mag am Ende eine Galaxie oder eine andere kosmische Struktur enthalten. Anfänglich expandierte der Halo zwar mit einer ähnlichen Rate wie das umgebende Universum auch. Damit im weiteren Verlauf aber etwa eine Galaxie aus ihm werden kann, muss er zu einem stabilen Gebilde kollabieren. Daher wissen wir, dass er sich von der Ausdehnung des Universums unabhängig gemacht haben muss. Der Halo kann als ein Ausschnitt des Universums betrachtet werden, in dem dieselbe Friedmann-Gleichung auf Grund leicht erhöhter Dichteparameter zu einem anderen Ausdehnungsverhalten geführt hat. Heute nimmt sein Inneres nicht mehr an der Expansion Teil.


Thema »Kosmologie«
Teil 1: Krümmung und Expansion
Februar 2013
Teil 2: Entfernung und kosmische Vergangenheit
März 2013


Matthias Bartelmann ist seit 2003 Professor für theoretische Astrophysik am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg. Er war Dekan und Prodekan der Heidelberger Fakultät für Physik und Astronomie und ist Mitherausgeber von »Sterne und Weltraum«. Seine wissenschaftlichen Interessen liegen im Bereich der kosmischen Strukturbildung.

Elena Sellentin begann ihr Physikstudium 2007 in Heidelberg und schloss dort 2012 mit dem Master of Science ab. Inzwischen promoviert sie auf dem Gebiet der Dunklen Energie und ist für die Öffentlichkeitsarbeit am Haus der Astronomie aktiv.

*

w i s - wissenschaft in die schulen

Didaktische Materialien zu diesem Beitrag

Was ist WIS?
Unser Projekt »Wissenschaft in die Schulen!« wendet sich an Lehrerinnen und Lehrer, die ihren naturwissenschaftlichen Unterricht mit aktuellen und praktischen Bezügen anschaulich und abwechslungsreich gestalten wollen - und an Schülerinnen und Schüler, die sich für Vorgänge in der Natur begeistern und ein tieferes Verständnis des Universums gewinnen möchten.

Um diese Brücke von der Wissenschaft in die Schulen zu schlagen, stellt WIS didaktische Materialien als PDF-Dokumente zur Verfügung (kostenloser Download von unserer Internetseite www.wissenschaft-schulen.de).

Mit Hilfe der ID-Nummer sind diese auf der Seite www.wissenschaft-schulen.de/artikel/ID-Nummer als Download unter dem Link »Zentrales WiS!-Dokument« zugänglich.

WiS in Sterne und Weltraum

Zum Artikel »Kosmische Kuriositäten, Teil 1« auf S. 32 der Druckausgabe: Viele Gegenstände aus dem Alltag eignen sich zur Darstellung der allgemeinen Relativitätstheorie oder Kosmologie. Im WIS-Beitrag finden sie eine Einkaufsliste und eine Anleitung, wie sie mit Gummibändern, Luftballons und verschiedenen Metermaßen raumzeitliche und räumliche Krümmung, sowie Abstandsmaße in Experimenten mit ihren Schülern richtig darstellen.
(ID-Nummer: 1156167)

*


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S. 33:
Die Bögen im Galaxienhaufen Abell 2218 stammen vom Licht dahinter liegender Quellen. Sie zeigen eindrücklich, wie Licht in der Nähe großer Materieansammlungen abgelenkt wird.


© 2013 Elena Sellentin, Matthias Bartelmann, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

*

Quelle:
Sterne und Weltraum 2/13 - Februar 2013, Seite 32 - 42
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie), Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528 150, Fax: 06221/528 377
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de
 
Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2013