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BERICHT/076: Porträt - Jean Pierre Luminet (research*eu)


research*eu Nr. 57 - Juli 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Die Faszination für das Unsichtbare

Von Christine Rugemer


Jean-Pierre Luminet: "Nicht das Universum, wie es ist, interessiert mich, sondern wie es sein könnte."

Der Astrophysiker und Forschungsdirektor des CNRS (FR) am Observatorium von Paris-Meudon, Jean-Pierre Luminet, ist ein sehr vielseitiger Wissenschaftler. Er ist gleichzeitig auch Schriftsteller, Dichter, Musiker, Zeichner und steht gern als "Erzähler der Kosmologie" auf der Bühne. Für dieses Talent wurde ihm im März 2008 der Descartes-Preis für Wissenschaftskommunikation verliehen.(1)


Es könnte eine schöne Geschichte sein, die auf ganz klassische Art beginnt: Es war einmal ein kleiner Junge, der lebte im Süden, wo die Nächte klar sind. Er lichte die Sterne über alles und wurde Astrophysiker. Die Wahrheit ist aber viel komplizierter. Wenngleich in der französischen Provence geboren, reizte diesen Mann nicht so sehr der Große oder der Kleine Wagen, sondem vielmehr die unendliche Schwärze, die sie voneinander trennt. "Ich habe mich schon immer für alles interessiert, was man nicht sehen kann, und habe versucht, die unsichtbare Architektur des Universums zu verstehen. Ich habe irgendwo geschrieben, dass mich nicht das Universum fasziniert, wie es ist, sondern wie es sein könnte."

Als Jugendlicher hat Jean-Pierre Luminet zu allem Lust: Zeichnen, Literatur, Musik, Philosophie, Mathematik... Er lässt nichts aus. Schließlich ist es jedoch die Begegnung mit der Gedankenwelt der alten Griechen, die ihn zur Wissenschaft führt. "Heraklit und Parmenides haben fast ohne praktische Hilfsmittel versucht, sich vom reinen Mythos zu lösen und das Universum rationell zu verstehen. Gleichzeitig haben sie ihm aber auch eine gehörige Portion Poesie und Metaphysik verliehen." Der Kosmos von Parmenides ist geschlossen, perfekt und unveränderlich. Ganz im Gegensatz zu Heraklit, für den die Harmonie durch die ständige Veränderung, die Transformation und die Bewegung zum Ausdruck kommt. "Das gesamte abendländische Denken, sowohl in der Philosophie als auch in der wissenschaftlichen Forschung, schwankt ständig zwischen diesen beiden Neigungen, diesen beiden großen ästhetischen Empfindungen von der Welt."


Schwarze Löcher

Mit 15 Jahren stößt Luminet in einem Astronomie-Lexikon auf einen Satz, der ihm gefällt. "Ich erinnere mich an einen Artikel, der die Allgemeine Relativitätstheorie zusammenfasst und in dem der Autor erklärte, dass der Raum mit der Form von Mollusken vergleichbar sei." Das regt natürlich die Fantasie an. Und kurze Zeit später entscheidet er sich für Mathematikwissenschaften, infolge dessen er noch weitere Mollusken untersuchte, bevor sich ihm die Tore zur Kosmologie öffneten.

Wir sind in den 1960er Jahren und die Theorie des Urknalls wird für Astrophysiker bei der Beschreibung der Entstehung des Universums zur wichtigsten Referenz. Luminet ist begeistert von den Intuitionen des - häufig verkannten - Begründers dieses außergewöhnlichen Konzepts, des belgischen Priesters Georges Lemaître, dessen Biografie er später schrieb. "Lemaître ist nicht nur der Begründer der Urknall-Theorie, er hat auch die Existenz der Schwarzen Löcher vorausgeahnt", dieser geheimnisvollen und starken Trichter mit enormer Anziehungskraft, die die gesamte umgebende Sternenmaterie aufsaugen. 1979 gehört Luminet zu den Ersten, die eine mathematische Formalisierung dieser geheimen Regionen des Weltraums zu schreiben versuchen. "Ich habe mithilfe des Computers das Aussehen eines 'anziehenden' Schwarzen Lochs berechnet. Es kann in Gemeinschaft mit einem Stern existieren und dessen gasförmige Materie anziehen und absorbieren, sodass diese dann ganz hell leuchtet."

Mithilfe eines Golfballs oder einer Billardkugel, die in einem Netzstrumpf versinkt, erklärt Jean-Pierre Luminet einem Laienpublikum sehr anschaulich den Mechanismus dieser Materieschlucker. Er erzählt wie kein anderer von den ursprünglichen Schwarzen Minilöchern des Urknalls, den stellaren Schwarzen Löchern, die durch das Kollabieren massereicher Sterne entstanden sind, den mittelschweren Schwarzen Löchern, den supermassereichen Schwarzen Löchern, die die millionenfache Sonnenmasse haben und sich im Zentrum jeder Galaxie - folglich auch unserer Milchstraße - befinden. "Man denkt darüber nach, wie ein Schwarzes Loch ganze Sterne zerbrechen kann, die sich ihm nähern, ohne jedoch hineinzufallen. Sie werden flach, prallen ab und explodieren. Ich nenne das 'flambierte Sterneneierkuchen', denn die Sterne sehen aus, als wären sie zerquetscht, bevor sie ganz stark leuchten. Seit einigen Jahren können Teleskope diese Phänomene sichtbar machen."


Das zerknitterte Universum

Eine weitere persönliche Hypothese von Jean-Pierre Luminet ist die Vorstellung des "zerknitterten Universums". Diese Metapher soll zeigen, dass das Universum, selbst wenn es nicht unendlich ist, weder Schranken noch Grenzen hat. Seine Form wäre derartig komplex, dass sich die Lichtstrahlen zwischen zwei Punkten auf verschiedene Weise bewegen können, wie etwa mehrere Spiegel in einem geschlossenen Raum unendlich viele verschiedene Bilder ein und desselben Gegenstands zurückwerfen können. Man kann sich darin also pausenlos reflektieren und dabei den Eindruck gewinnen, sich in einem Raum zu bewegen, der viel größer scheint, als er in Wirklichkeit ist. Wie das Innere einer Kugel, die von zwölf fünfeckigen, leicht gekrümmten und "zusammengeklebten" Flächen begrenzt ist, ist das sogenannte zerknitterte Universum nicht ohne Bezug zum dodekaedrischen Raum, der von Poincaré (1906) schon lange vor der Erfindung der Allgemeinen Relativitätstheorie bzw. der Entdeckung der Expansion des Universums erdacht wurde.

"Ich habe dieses Konzept in einer Atmosphäre großer Skepsis eingeführt." Anzeichen für dessen Gültigkeit brachten im Jahre 2003 die Beobachtungsergebnisse des Satelliten WMAF der NASA über das Nachglühen des Universums 400.000 Jahre nach dem Urknall. "Einigen Physikern liegt sehr viel an einer Bestätigung. Mathematikern ist diese Frage eher gleichgültig. Ich stehe irgendwo dazwischen. Was mich interessiert, ist die Erkundung neuer Wege, an die noch niemand zuvor gedacht hat. Wenn sich diese dann durch Experimente bestätigen lassen, ist das die Krönung..."


Übermittlung

Jean-Pierre Luminet wechselt mit unwahrscheinlicher Leichtigkeit von einem Gebiet ins andere. "Innerhalb weniger Stunden kann ich Gleichungen aufstellen, Gedichte schreiben, ein Essay oder einen Roman fortsetzen, einen Vortrag vorbereiten... Die Kunst und die Wissenschaft sind für mich jedoch klar abgegrenzte Bereiche. Ich hüte mich davor, Grenzen zu verwischen, selbst wenn mir bewusst ist, dass meine Arbeit auf dem Gebiet der Physik und Mathematik meine Poesie und im weiteren Sinne auch meine Schreibweise verändern."

Als moderner Nomade reist er gern von einem Land oder Kontinent zum anderen, um den Abenteurergeist der Astrophysiker zu teilen. Obwohl er sehr gefragt ist, ist es ihm wichtig, das Universum auch Kindern, Unternehmensdirektoren oder Angestellten zu erklären. "Es erscheint mir wichtig, Konzepte und Paradigmenwechsel der modernen Wissenschaft zu präsentieren und damit zur Berücksichtigung neuer Ideen in der Gesellschaft beizutragen."

Jenseits der Wissenschaft findet er auch Gefallen an fächerübergreifenden Ansätzen, wie z. B. den Beziehungen zwischen Forschung und Kreativität. "Ich versuche zu analysieren, wie die Fantasie des Wissenschaftlers und des Künstlers funktioniert, und hierfür Parallelen in der Geschichte zu finden. Wenn Sie einen Gegenstand der Wissenschaft, wie z. B. ein Schwarzes Loch, nehmen, werden Sie erkennen, dass hinter diesem Wort ein Urbild des Denkens steht - der Schlund, der alles verschlingt... Dieses Konzept lässt sich in andere Ausdrucksweisen übersetzen, wie die schwarze Sonne bei Arthur Rimbaud, Edgar Allan Poe oder Max Ernst."


Fantasien

Die künstlerische Kreativität ist ebenfalls ein Bestandteil des Lebens von Jean-Pierre Luminet. Seine Zeichnungen und Gravuren spiegeln insbesondere seine Fragestellungen zum Raum wider - einige seiner imaginären Architekturen erinnern an die des Niederländers M.C. Escher. Seine größte Passion ist jedoch die Musik - er komponiert, spielt Klavier und hat zusammen mit Gérard Grisey (Schüler von Messiaen und Dutilleux) Le noir de l'étoile geschaffen. Dieses Werk für sechs Schlagzeuger, Tonband und die Direktübertragung astronomischer Signale wurde von der Académie Charles Cros ausgezeichnet.

Luminet hat viele wissenschaftliche Essays, aber auch Romane geschrieben, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Im jüngsten, La discorde céleste, stehen sich die beiden Helden Tycho Brahe und Johannes Kepler gegenüber. An ihren sich kreuzenden Lebenswegen kann man erkennen, wie ihre Arbeiten es Newton ermöglichten, die Himmelsmechanik mithilfe des Gravitationsgesetzes zu erklären.
(2)

Luminet, ein Hans Dampf in allen Gassen? Auf jeden Fall ein "Mehrfachbegabter". Er hat unzählige Preise auf den verschiedensten Gebieten gewonnen. Aber vielleicht gefällt ihm das Geschenk, das ihm seine Kollegen gemacht haben, indem sie den 1991 entdeckten Asteroiden 5523 nach ihm benannt haben. Zwar trägt noch keine Straße seinen Namen, dafür aber schon ein Planet.


Anmerkungen

(1) cordis.eurupa.eu/science-society/descartes/home.html

(2) Eine Liste der verschiedenen Werke (wissenschaftliche und andere) von Jean-Pierre Luminet in verschiedenen Sprachen finden sie unter luth2.obspm.fr/~luminet/. Siehe ebenfalls die CD über Jean-Pierre Luminet in der Reihe CIRCO, La Recherche nous est contée, Mitherausgeher Gallimard und das CNRS - HYPERLINK "http://www.cnrs.fr/cnrs-images/circo" www.cnrs.fr/cnrs-images/circo.


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Quelle:
research*eu Nr. 57 - Juni 2008, Seite 36 - 37
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2009