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FORSCHUNG/535: Tiefer Blick in die Quantenwelt (idw)


Universität Stuttgart - 08.09.2008

Tiefer Blick in die Quantenwelt

Neues Konzept zur Herstellung von Quantenzuständen in Vielteilchensystemen


Einen ganz neuen Weg zur Präparation von Quantenzuständen in Vielteilchensystemen präsentieren Theoretische Physiker um Sebastian Diehl und Peter Zoller heute in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Physics.*) Zu der österreichischen Forschergruppe gehört auch Prof. Hans Peter Büchler vom Institut für Theoretische Physik III der Universität Stuttgart. Dank des neuen Ansatzes könnten sich erstmals auch angeregte Vielteilchenzustände gezielt herstellen lassen, was wiederum große Bedeutung für die Untersuchung von Festkörpern hätte. Die quantenphysikalische Analyse von Vielteilchensystemen ist von besonderem Interesse, weil an ihnen die Innenwelt von Festkörpern modellhaft erforscht werden kann. Dieser tiefe, quantenphysikalische Blick in die feste Materie war bisher durch die extrem hohe Komplexität verwehrt. Sebastian Diehl, Andrea Micheli, Barbara Kraus und Peter Zoller vom Institut für Theoretische Physik der Universität Innsbruck und dem Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sowie Hans Peter Büchler vom Institut für Theoretische Physik III der Universität Stuttgart haben nun einen neuen theoretischen Vorschlag für die Präparation von Quantenzuständen in Vielteilchensystemen entwickelt. Sie bedienen sich dazu eines Tricks: der Dissipation. Diese beschreibt in der klassischen Physik beispielsweise den Übergang von Bewegungsenergie in Wärmeenergie durch Reibung. "Während Dissipation den Grad der Unordnung in einem System normalerweise dramatisch erhöht, drehen wir den Spieß um", erzählt Sebastian Diehl. "Wir nutzen die Dissipation, um einen perfekt reinen Vielteilchenzustand mit langreichweitiger Ordnung herzustellen." Das System, an dem die Wissenschaftler ihr Verfahren theoretisch erproben, besteht aus einer großen Zahl von Atomen, die in einem optischen Gitter aus Laserstrahlen gefangen sind. Ordnung schaffen die Forscher, indem sie das Teilchenensemble mit einem weiteren Laser anregen und gleichzeitig die spontane Emission in ein ultrakaltes Gas in der Umgebung (Dissipation) ermöglichen. "Überraschend und den Gesetzen der Quantenphysik geschuldet ist, dass die Atome zwar nur lokal manipuliert werden, die Ordnung aber dennoch im gesamten System hergestellt wird", erläutert Diehl die Idee hinter dem neuen Verfahren.

Hans Peter Büchler, der als einer der jüngsten Professoren der Uni Stuttgart im August 2007 den Lehrstuhl "Computational Photonics" am Institut für Theoretische Physik III übernahm, ergänzt: "Das Faszinierende an dieser Präparation von Quantenzuständen ist, dass die Temperatur des dissipativen Bades keine Rolle spielt. Somit ist es möglich, durch die Wechselwirkung mit einem relativ heißen System fast reine Quantenzustände zu generieren, die einer extrem tiefen Temperatur entsprechen. Dieses Phänomen ist eine Analogie des Laserkühlens, das die Präparation von kalten Gasen überhaupt erst möglich macht." Der Forschungsschwerpunkt Büchlers ergänzt den transregionalen Sonderforschungsbereichs SFB/TRR21 "Control of quantum correlations in tailored matter" (Co.Co.Mat), in dem Unter Federführung der Uni Stuttgart die Universitäten Stuttgart, Ulm und Tübingen beteiligt sind.

Auch angeregte Quantenzustände sind möglich

"Wir kombinieren in diesem Modellsystem Methoden aus der Quantenoptik und der Atomphysik mit Techniken der Festkörperphysik", erläutert der Leiter der Forschungsgruppe, Prof. Peter Zoller. Der interdisziplinäre Ansatz könnte auch für Anwendungen in der Quanteninformationsverarbeitung interessant sein. In Innsbruck wie in Stuttgart wollen die Theoretiker ihre Idee nun auf noch komplexere Systeme anwenden und zum Beispiel auch experimentelle Verfahren für die Untersuchung eines sehr prominenten Problems der Festkörperphysik, der Hochtemperatursupraleitung, vorschlagen. Hier kommt ein Vorteil ihres neuen Verfahrens zum Tragen, den bisherige Ansätze nicht boten: Mit der Methode wird es möglich, Zustände zu präparieren, die angeregten Vielteilchenzuständen entsprechen. Durch das konventionell angewendete Kühlen eines Teilchensystems wäre dies niemals in reiner Form möglich.

*) Quantum states and phases in driven open quantum systems with cold atoms. Diehl Sebastian, Micheli Andrea, Kantian Adrian, Kraus Barbara, Büchler Hans Peter, Zoller Peter. Nature Physics, Advanced Online Publication am 7. September 2008 (doi: 10.1038/nphys1073)

Weitere Informationen unter:
http://www.uibk.ac.at/th-physik/qo/

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution80


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Stuttgart, Ursula Zitzler, 08.09.2008
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2008