Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → PHYSIK

FORSCHUNG/819: Die Nanowelt kommt ins Rollen (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2011

Die Nanowelt kommt ins Rollen

Von Alexander Stirn


Vehikel, die nur wenige Nanometer groß sind und Oberflächen reinigen oder wie winzige Baustellenfahrzeuge molekulare Strukturen aufbauen: Um diese Vorstellung oder die einer molekularen Elektronik zu realisieren, erforschen Physiker um Leonhard Grill am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin die Physik der Nanowelt - und drehen dabei gerne am Rad.


Nicht viele Physiker können von sich behaupten, dass sie das Rad neu erfunden haben. Leonhard Grill kann das ohne zu zögern. Zugegeben: Sein Rad ist nicht besonders groß, es rollt nur äußerst widerwillig, es hat keinen Reifen, es ist nicht einmal rund. Dafür kann es mit einer ganz anderen Qualität aufwarten: Grills Entdeckung ist das kleinste rollende Rad der Welt.

Leonhard Grill, Forscher in der Abteilung für Physikalische Chemie des Berliner Fritz-Haber-Instituts, beschäftigt sich mit Nanostrukturen - mit Gebilden, die im Bereich von Millionstelmillimetern liegen. Das Rad, das Grill zusammen mit Chemikern des französischen Centre National de la Recherche Scientifique in Toulouse entwickelte, hat zum Beispiel lediglich einen Durchmesser von 0,7 Nanometern. Es besteht aus einer starren Achse, an deren Enden die Forscher zwei Triptycen-Moleküle montiert haben. Die unförmigen Kohlenwasserstoffe sehen ein bisschen aus wie dreiblättrige Flugzeugpropeller. Entsprechend holprig rollt das Nano-Rad. Aber es rollt.

"Wir träumen davon, eines Tages aus solch molekularen Bausteinen komplexe Strukturen mit genau festgelegten Funktionen zu basteln", sagt Grill. Aus winzigen Rädern, Achsen und einem Chassis könnte ein Nano-Auto entstehen. Drähte, Schalter und Transistoren - jeweils nur wenige Atome groß - könnten sich zu einem molekularen Schaltkreis zusammenfinden.

Noch sind solche Nanomaschinen Science-Fiction. Niemand kann sagen, ob sie funktionieren oder ob sie jemals gebaut werden können. Und Leonhard Grill, ein Österreicher mit ruhiger sonorer Stimme, wäre der Letzte, der ungerechtfertigte Erwartungen schüren würde. Grill, ganz Grundlagenforscher, findet aber allein die Suche nach solchen Systemen extrem spannend. Und so arbeiten die Berliner Physiker daran, die unterschiedlichsten Molekülkandidaten zu charakterisieren. Sie lernen einzelne Bausteine zu bewegen, zu manipulieren, zu immer komplexeren Strukturen zusammenzufügen.


Wie sich Moleküle anschauen und manipulieren lassen

Es ist ein bisschen wie Lego mit Molekülen - nur mit dem Unterschied, dass Grill und sein Team die Bausteine nicht sehen, geschweige denn anfassen können. Sie sind auf technische Unterstützung angewiesen.

Sein wichtigstes Hilfsmittel hat Leonhard Grill dabei stets im Blick: Über seinem Schreibtisch hängt ein großes Poster, das die Funktionsweise des Rastertunnelmikroskops erklärt. Gerd Binnig und Heinrich Rohrer, die die Technologie entwickelten und dafür den Nobelpreis bekamen, haben das Poster persönlich signiert.

Die echten Mikroskope stehen zwei Stockwerke tiefer, im Keller des altehrwürdigen "Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie". Pumpen lärmen, Kabel ziehen sich durch den Raum, manche Leitungen sind dick mit Alufolie eingepackt. Dazwischen glänzen zwei Edelstahlmaschinen. Sie scheinen aus willkürlich aneinandergeschraubten Zylindern zu bestehen - überzogen mit vielen Flanschen und runden Gucklöchern.

Alex Saywell, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Grills Arbeitsgruppe, setzt eine Spindel am Ende des langen Zylinders in Bewegung. Mit metallischem Brummen schiebt sie langsam eine Probe ins Rastertunnelmikroskop. Saywell hat das fingernagelgroße Metallstück zuvor gereinigt, er hat es mit Ionen beschossen und erhitzt. Jetzt glänzt es nicht nur, es ist auch absolut rein. Später sollen sich auf seiner Oberfläche maßgeschneiderte Moleküle abscheiden - Bausteine, die die Physiker analysieren und mit denen sie ihr Lego-Spiel beginnen wollen.

"Durch das Rastertunnelmikroskop haben wir die Chance, einzelne Atome anzuschauen oder zu untersuchen", sagt Leonhard Grill. Möglich macht das die feine Metallspitze des Mikroskops, an deren Ende im Idealfall nur ein einziges Atom sitzt. Im Abstand von etwa einem Nanometer fährt sie Reihe für Reihe über die zu untersuchende Oberfläche. Sie steht dabei unter Spannung, sodass die Physiker messen können, welcher Strom zwischen Mikroskop und Untergrund fließt. "Der geniale Trick der Rastertunnelmikroskopie besteht darin, dass dieser Strom extrem stark vom Abstand der Spitze abhängt", sagt Grill. Liegt beim Überfahren zum Beispiel ein Molekül auf der Oberfläche, steigt der Strom immens an.

Wenige Minuten dauert ein vollautomatischer Standard-Scan. Bis ein sehr gutes Bild fertig ist, vergehen auch mal 20 Minuten. Währenddessen baut sich auf dem angeschlossenen Monitor Zeile für Zeile ein buntes Bild auf. Die unterschiedlichen Farben stehen für die gemessene Stromstärke - und damit für die Konturen der Oberfläche. Selbst das ungeübte Auge kann die einzelnen Atome der Metallschicht und die darauf liegenden Moleküle erkennen.

Mit dem Rastertunnelmikroskop lassen sich Moleküle aber nicht nur anschauen, sie lassen sich auch manipulieren. Die feine Spitze wird dabei zu einem Mini-Finger, der die Teilchen hin und her schiebt. Erstmals haben das Physiker des kalifornischen IBM-Forschungslabors Almaden im Jahr 1990 gemacht, als sie den Namen ihres Arbeitgebers aus Xenon-Atomen formten. Fünf Jahre später gelang es Forschern der Freien Universität Berlin, die Silhouette des Brandenburger Tors aus einzelnen Kohlenmonoxidmolekülen nachzubilden. "Heute ist so etwas Standard", sagt Leonhard Grill. "Aber es ist ein gutes Training für Studenten, die dabei lernen, wie Manipulationen funktionieren und wo die Grenzen dieser Spielereien liegen."

Der kleine Schubs mit der Spitze hat die Moleküle bislang allerdings immer in ihre neue Position springen lassen. Ein Rollen haben die Forscher erst beobachtet, nachdem Grill das Rad neu erfunden hatte.

Doch wie erkennen Physiker eigentlich, ob ein Molekül springt oder rollt? Und wie können sie verhindern, dass es dabei von der glänzenden Oberfläche kullert? Leonhard Grill schmunzelt: "Mit den physikalischen Gesetzen, die wir aus dem Alltag kennen, kommen wir im Nanobereich nicht weiter. Dort spielen ganz andere Faktoren eine Rolle."

Beispiel Rad: Einmal angestoßen, rollt ein alltäglicher Reifen - sofern er nicht im Schlamm versinkt - erst einmal weiter. Seine Masse und die damit verbundene Trägheit halten ihn in Bewegung. In der Nanowelt sind die Massen dagegen so gering, dass Gravitation und Trägheit keine Chance mehr haben. Stattdessen treten elektrostatische und chemische Kräfte in den Vordergrund.

Grills Triptycen-Rad zum Beispiel wird von der leicht gewellten Kupferoberfläche derart stark angezogen, dass es mit der Spitze des Rastertunnelmikroskops fortwährend vorangeschoben werden muss - ähnlich einem sechseckigen Bleistift, der mit dem Finger über den Schreibtisch gerollt werden soll. Genauso wie der Finger befindet sich auch die Spitze des Mikroskops zunächst hinter dem Molekülrad. Beim Schieben wandert sie unweigerlich über das Rad hinweg nach vorne - wo die erzwungene Rollbewegung schließlich ein abruptes Ende nimmt.


100 Jahre alte Mauern schützen die Messung

Solche Vorgänge spiegeln sich in der gemessenen Stromstärke des Rastertunnelmikroskops wider: Bei Molekülen, die springend vor der Spitze flüchten, steigt der Strom zunächst stark an, um dann wie ein Sägezahn plötzlich abzufallen. Beim Rollen ist dagegen eine Wellenbewegung zu erkennen, die sehr gut mit der Propellerform des Rades zusammenpasst. "Das war ziemlich aufregend, als wir so etwas zum ersten Mal gesehen haben", erinnert sich Grill. "Und es zeigt auch, dass man trotz aller spielerischen Elemente beim genauen Hinschauen sehr viel über die Physik hinter den molekularen Bausteinen erfahren kann."

Möglich werden solche Einblicke allerdings nur, wenn sich die Spitze extrem genau positionieren lässt. Jede Störung muss vermieden werden. Bei einer geforderten Präzision von einem hundertstel Nanometer - ein Zehntel des Durchmessers eines Wasserstoffatoms - wird aber allein die thermische Bewegung zu einem schier unüberwindbaren Hindernis.

Die Mikroskope müssen daher stark gekühlt werden. Minus 247 Grad Celsius zeigt das Thermometer der Probe, die Alex Saywell kurz zuvor erhitzt und dann in den eiskalten Edelstahlzylinder geschoben hat. Noch ein paar Minuten wird es dauern, dann hat auch sie die Temperatur von flüssigem Helium angenommen - knapp fünf Grad über dem absoluten Nullpunkt.

Hinzu kommt ein verschwindend geringer Druck: Das Barometer zeigt 8,7 x 10-12 Millibar, etwa zehn Billiardstel des normalen Umgebungsdrucks. "Das ist besser als das Vakuum in den Umlaufbahnen der Satelliten", sagt Grill. Die Atmosphäre im Mikroskop ist so dünn, dass die Forscher wochenlang messen können, ohne dass sich Luftmoleküle auf der Oberfläche niederschlagen und die Aufnahmen stören.

Auch bei den Stromstärken ist äußerste Präzision gefragt. Das Rastertunnelmikroskop misst Ströme, die teilweise im Bereich von billionstel Ampere liegen. Schon leichte Netzstörungen - zum Beispiel, wenn im Nebenraum plötzlich eine stromfressende Pumpe eingeschaltet würde - hätten verheerende Folgen. Der Strom für das Mikroskop kommt daher aus einem Akku, der auch für die unterbrechungsfreie Stromversorgung von Servern verwendet wird. Ein kleines Diagramm, das Grill auf dem Monitor des Mikroskops anklickt, zeigt keinerlei störende Frequenzen.

Umgehend unbrauchbar werden die Messungen auch, wenn das Gerät zu wackeln beginnt. Hier haben die Berliner Physiker allerdings Glück: Das Fritz-Haber-Institut steht in einer ausgesprochen ruhigen Villengegend in Dahlem. Die U-Bahn ist weit genug entfernt, das Fundament des 100 Jahre alten Gebäudes ist massiv, die Wände im Keller sind gut einen Meter dick.


Rollende Moleküle als Nanoschubkarren

Trotzdem überlassen Grill und sein Team nichts dem Zufall: Bei Messungen werden das Licht und die brummenden Vakuumpumpen ausgeschaltet. Eine Klimaanlage hat der Raum erst gar nicht, ihr Luftzug könnte die delikaten Edelstahlapparaturen in Schwingungen versetzen. "Die besten Messungen gelingen meist am Abend, wenn sowohl das Gebäude als auch die Kollegen etwas ruhiger geworden sind", sagt Leonhard Grill. Dann klappt's auch mit der Neuerfindung des Rads.

Aber warum müssen Nanomaschinen überhaupt rollen? Der größte Vorteil makroskopischer Räder, der deutlich reduzierte Reibungswiderstand, verliert in der Nanowelt schließlich an Bedeutung. "Ein Molekül mit Rädern kann sich nur in zwei Richtungen bewegen - vor und zurück. Verglichen mit einer ungerichteten Diffusion wäre das ein großer Fortschritt", sagt Grill. Rollende Moleküle hätten zudem das Potenzial, kleine Stufen auf einer atomaren Oberfläche zu überwinden - bislang ein großes Hindernis bei der Ausbreitung der winzigen Teilchen.

Außerdem soll es nicht bei einzelnen Rädern bleiben. Im Keller des Kaiser-Wilhelm-Instituts haben Grill und sein Team auch schon molekulare Schubkarren untersucht - speziell entworfene Moleküle, die rollen und eines Tages Atome transportieren sollen. Sogar ein Nanozug mit mehreren Waggons war bereits am Start. Bei beiden Fahrzeugen konnten die Physiker allerdings keine Rollbewegung erkennen. Wahrscheinlich waren die Moleküle schlichtweg zu stark an die Oberfläche gebunden. "Für uns bedeutet das, dass wir gemeinsam mit den Chemikern weiter am molekularen Design herumschrauben müssen", sagt Leonhard Grill. Doch nicht nur mechanische Probleme interessieren die Berliner Forscher. In Grills Büro, von dessen Fenster der Blick auf Fritz Habers einstige Villa fällt, hängen zwei Titelseiten der Zeitschrift NATURE NANOTECHNOLOGY. Das erste Cover zeigt die molekularen Räder, das andere ein paar unscheinbare orangefarbene Flecken vor schwarzem Hintergrund. Es sind Nanobausteine, die einmal die Computerwelt verändern könnten.

"Bei der sogenannten molekularen Elektronik dreht sich alles darum, Schaltkreise auf die Ebene von Atomen zu miniaturisieren", erklärt Grill. Aus einzelnen Molekülen sollen Schalter, Drähte, Transistoren und alle anderen notwendigen Komponenten entstehen, und zwar selbstorganisiert, also ohne eine dirigierende Kraft von außen. Von einem Bottom-up-Prozess sprechen Forscher in einem solchen Fall. Die winzigen Abmessungen würden kleine Wege und damit extrem kurze Rechenzeiten bedeuten. Die Bauteile wären billig herzustellen, und sie würden äußerst wenig Strom verbrauchen - schließlich reichen bereits einzelne Elektronen, um die gewünschten Funktionen auszulösen.

Bislang geht die Halbleiterindustrie allerdings genau den umgekehrten Weg: Sie versucht ihre Chips top-down immer weiter zu schrumpfen, indem sie immer kleinere Strukturen in die Halbleiter ätzt. Das Moore'sche Gesetz - ursprünglich eine empirische Formel, nach der sich die Zahl der Transistoren auf einem Computerchip alle 18 Monate verdoppelt - ist längst zur Zielvorgabe der gesamten Industrie geworden. Die Miniaturisierung stößt langsam aber an ihre Grenzen: Transistoren, die nur einige Atomlagen dick sind, lassen sich mit lithografischen Prozessen kaum noch zuverlässig herstellen.

Dann, so die Hoffnung der Nanophysiker, schlägt die Stunde der molekularen Elektronik. Erste Drähte haben Grill und sein Team jedenfalls schon gebaut. Dabei halfen ihnen Moleküle, die Chemiker der Berliner Humboldt-Universität extra für diesen Zweck maßgeschneidert hatten: Die Moleküldesigner verwendeten Kohlenstoffverbindungen und blockierten deren reaktive Arme mit schwach gebundenen Halogenatomen.


Die Nanodrähte leiten noch zu schlecht

Beim Erhitzen im Rastertunnelmikroskop brachen die Halogenbindungen wie gewünscht auf. Die Molekülbausteine suchten sich - ganz von allein - neue Partner. Sie erkannten reaktive Gruppen, formten stabile Kohlenstoffketten und folgten dabei der von den Forschern vorgegebenen Architektur. "Bei dieser Form der Selbstorganisation imitieren wir im Prinzip das, was die Natur seit Millionen Jahren sehr erfolgreich macht: Sie baut Moleküle mit einer ungeheuren Präzision und Fehlerlosigkeit", sagt Leonhard Grill.

Ergebnis des autonomen Molekül-Legos sind Drähte, die über 100 Nanometer lang und äußerst stabil sein können. Wie stabil, haben die Physiker gemerkt, als sie mit den Drähten etwas herumspielten und sie über die Oberfläche zogen. "Das hat unheimlich leicht funktioniert, fast wie bei einem Seil", erinnert sich Grill. "Also haben wir versucht, die Drähte auch hochzuziehen." Und in der Tat: Mit der Spitze des Rastertunnelmikroskops konnten die Forscher ihre Drähte fast 20 Nanometer weit hochheben - ohne dass diese dabei rissen. Das gab ihnen sogar die Möglichkeit, erstmals den Stromfluss in den molekularen Drähten zu messen.

Dabei zeigte sich allerdings, dass der Widerstand - anders als bei klassischen Drähten - exponentiell mit der Länge ansteigt. Nicht unbedingt ein gutes Zeichen für die molekulare Elektronik: "Noch ist das kein Draht im konventionellen Sinne", sagt Leonhard Grill, "dafür leitet er viel zu schlecht. Aber wir konnten immerhin zeigen, dass Elektronen über solche Konstrukte transportiert werden können."

Auch für Nanoschalter gibt es bereits erste Ideen. Vorbild ist einmal mehr die Natur: Das Retinalmolekül im Auge existiert beispielsweise in zwei Varianten, Isomere genannt. Fällt Licht auf die Netzhaut, wandelt sich die eine Form in die andere um, die Nervenzellen erhalten einen Impuls, das Gehirn wird informiert.

Genau das Gleiche realisieren die Berliner Physiker auf Oberflächen: Mit Licht oder Wärme starten sie die Isomerisierung. Sie öffnen einen molekularen Schalter und schließen ihn dann wieder auf dem gleichen Weg. Ein reversibler Prozess.

Alternativ kann das Rastertunnelmikroskop selbst als Auslöser genutzt werden: Zwischen Spitze und untersuchtem Molekül fließt zwar nur ein geringer Strom, auf der Nanoskala reichen aber wenige Elektronen, um eine hohe Stromdichte zu erzeugen. Diese ist groß genug, um die Isomerisierung auszulösen und so den molekularen Schalter zu betätigen.

"Nächstes großes Ziel ist nun, die verschiedenen Systeme zu verknüpfen - zum Beispiel einen Schalter mit einem Draht", sagt Leonhard Grill. Und dann? Werden sich die Moleküle in Zukunft automatisch zu enorm leistungsfähigen und gleichzeitig sparsamen Superrechnern zusammenbauen?


Forschen nach Lego-Prinzip: Man lernt beim Aufbau

Leonhard Grill, der Realist, schüttelt den Kopf. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir einen kompletten Chip mit seinen Millionen von Molekülen in einer hochkomplexen Architektur selbstständig wachsen lassen können." Sollte sich die molekulare Elektronik eines Tages tatsächlich bewähren, dann höchstwahrscheinlich in Kombination mit den derzeitigen Chip-Technologien. Dann aber könnten neue, vielleicht sogar revolutionäre Anwendungen möglich sein - zum Beispiel in der Sensorik.

Und die Nano-Autos, die schon seit Langem durch jeden zweitklassigen Science-Fiction-Film fahren? Grill lacht. "Es ist unheimlich schwer, Anwendungen vorherzusehen, speziell in einem Bereich wie der Nanowissenschaft, in dem vollkommen neue Effekte auftreten." Vor vielen tausend Jahren, als das Rad zum ersten Mal erfunden wurde, hatte schließlich auch niemand an die Unruh von Armbanduhren oder den Antrieb von Elektroautos gedacht.

Gut möglich also, dass Nanomaschinen eines Tages Oberflächen reinigen, Moleküle transportieren oder einfache Strukturen aufbauen. Für Grill und sein Team stehen aber andere Dinge im Vordergrund. Für die Forscher gilt das Lego-Prinzip: Was am Ende, wenn alle Bausteine verbaut sind, herauskommt, kann niemand genau sagen. Hauptsache, der Aufbau bringt neue Erkenntnisse.

"Wir machen das jedenfalls nicht, weil wir gerne in 30 Jahren einen molekularen Chip oder ein Nano-Auto hätten", sagt der 40-Jährige und schaut aus dem Fenster. "Wir machen das, weil wir es spannend finden, weil wir verstehen wollen, was passiert. Vor allem aber machen wir es, weil wir neugierig sind."


GLOSSAR

Rastertunnelmikroskop
Eine sehr feine, elektrisch leitende Spitze rastert eine ebenfalls elektrisch leitende Probenoberfläche ab. Da die Spitze die Probe nicht berührt, tunneln Elektronen von der Probe in die Spitze. Der dabei fließende Tunnelstrom hängt stark vom Abstand zwischen Probe und Spitze ab und bietet daher eine Möglichkeit, die Oberflächenstruktur zu bestimmen.

Bottom-up
Ein Begriff, den Materialwissenschaftler aus der Software-Entwicklung entlehnt haben. Sie bezeichnen damit einen Prozess, in dem sich kleine Baueinheiten aufgrund natürlicher physikalischer oder chemischer Triebkräfte zu größeren Strukturen zusammensetzen.

Top-down
Bezeichnet den umgekehrten Ansatz zum Bottom-up-Prinzip: Aus einem größeren System, etwa einer Silicium-Wafer werden kleinere Strukturen herausgearbeitet.

Retinal
Bildet gemeinsam mit dem Protein Opsin das Rhodopsin der Netzhaut. Licht verändert die Struktur von Retinal, sodass Opsin wieder abgespalten wird und eine Signalkaskade anstößt, die in einem Nervenimpuls ans Gehirn resultiert.

Isomerisierung
Ein Molekül ändert seine Struktur, wobei sich seine Atome umlagern, ohne dass Atome aufgenommen oder abgegeben werden.


*


Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2011, Seite 72-77
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München
Tel. 089/2108-1562, Fax 089/2108-1405
E-Mail: mpf@gv.mpg.de
Das Heft als PDF: www.magazin-dt.mpg.de

Das Heft erscheint in deutscher und englischer Sprache
(MaxPlanckResearch) jeweils mit vier Ausgaben pro Jahr.
Der Bezug des Wissenschaftsmagazins ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2011