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FORSCHUNG/838: Leben in der Quantenwelt (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 9/11 - September 2011

Quantenphysik
Leben in der Quantenwelt

Von Vlatko Vedral


Die Gesetze der Quantenmechanik beherrschen nicht nur den Mikrokosmos, sondern liegen in größerem Maßstab auch der Natur zu Grunde. Vielleicht machen sich sogar Pflanzen bei der Fotosynthese oder Zugvögel bei der Orientierung typische Quanteneffekte zu Nutze.


AUF EINEN BLICK

Makroskopische Quanteneffekte

1. Die Quantenmechanik gilt allgemein als Theorie für mikroskopisch kleine Gegenstände - Moleküle, Atome, subatomare Teilchen. Doch viele Physiker glauben heute, diese Theorie treffe auf alles zu, ob groß oder klein.

2. In den letzten Jahren haben mehrere Experimente Quantenphänomene auch in makroskopischen Systemen beobachtet, beispielsweise in Salzkristallen.

3. Vor allem die Verschränkung, ein typischer Quanteneffekt, kann auch in großen Systemen auftreten - vielleicht sogar in lebenden Organismen. Kandidaten für makroskopische Verschränkungen sind die Fotosynthese der Pflanzen und die Magnetfeldwahrnehmung von Vögeln.


Für die Physiklehrbücher ist die Sache klar: Die Quantenmechanik beschreibt die Gesetze des Mikrokosmos. Sie liefert die Theorie für Teilchen, Atome und Moleküle - während für Billardkugeln, Menschen und Planeten die klassische Physik gelten soll. Irgendwo zwischen Molekülen und Billardkugeln liegt damit eine Grenze, an der das seltsame Verhalten der Quantenobjekte in die vertraute Alltagsphysik übergeht. Doch wo liegt diese Grenze? Der Physiker Brian Greene von der Columbia University in New York etwa schreibt auf der ersten Seite seines Buchs »Das elegante Universum«, die Quantenmechanik liefere die theoretische Grundlage zum Verständnis des Universums im kleinsten Maßstab. Die gesamte übrige »klassische« Physik inklusive der einsteinschen Relativitätstheorien behandle die Makrowelt - die Natur, wie wir sie erleben.

Doch diese Aufteilung der Welt ist allzu simpel. Heute glauben nur wenige Physiker, dass die klassische Physik den gleichen Rang wie die Quantenmechanik beanspruchen darf; sie ist nur eine nützliche Näherung für eine Welt, die in allen Größenordnungen Quanteneigenschaften aufweist. Dass Quanteneffekte in der Makrowelt schwieriger zu erkennen sind, hat nichts mit Größe zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie Quantensysteme wechselwirken. In den letzten Jahren haben Physiker mehrfach experimentell belegt, dass auch in makroskopischen Größenordnungen Quantenverhalten auftreten kann.

Dieser Gedanke ist selbst für Forscher, die solche Effekte systematisch studieren, nicht leicht zu akzeptieren. Die Quantenmechanik widerspricht der Alltagserfahrung und zwingt uns, unser Weltbild zu revidieren.


Auf die Größe kommt es nicht an

Für Quantenphysiker gleicht die klassische Physik dem Schwarzweißbild einer bunten Welt. Unsere Alltagsbegriffe vermögen diese Welt nicht in all ihrem Reichtum zu erfassen. Den Lehrbüchern zufolge verblassen mit zunehmender Größe der Objekte die vielfältigen Farbtöne - einzelne Partikel verhalten sich quantengemäß, große Mengen klassisch. Doch erste Indizien dafür, dass die Größe nicht entscheidet, lieferte schon 1935 ein berühmtes Gedankenexperiment: Schrödingers Katze. Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887-1961) wollte damit zeigen, dass Mikro- und Makrowelt eng zusammenhängen und dass es nicht möglich ist, sie zu trennen. Gemäß der Quantenmechanik kann ein radioaktives Atom zugleich einen zerfallenen und einen nicht zerfallenen Zustand einnehmen. Setzt der Atomzerfall über einen Mechanismus Gift frei und tötet eine Katze, gerät das Tier in denselben quantenmechanisch bedingten Zwischenzustand wie das Atom. Dabei spielt die Größe keine Rolle. Das Gedankenexperiment wirft die Frage auf, warum wirkliche Katzen stets entweder lebendig oder tot sind, nie beides zugleich.

Nach moderner Ansicht verbergen die komplexen Wechselwirkungen zwischen einem Objekt und seiner Umgebung die Quanteneffekte in der Makrowelt vor uns. Die Information über den Gesundheitszustand der Katze verteilt sich in Form von Photonen und Wärmeaustausch blitzartig in die Umgebung. Quantenphänomene sind Überlagerungen mehrerer möglicher Zustände - zum Beispiel zugleich lebend und tot -, und diese so genannten Superpositionen haben die Tendenz, sich aufzulösen. Ein solcher Informationsverlust wird als Dekohärenz bezeichnet (siehe »100 Jahre Quantentheorie« von Max Tegmark und John Archibald Wheeler, Spektrum der Wissenschaft 4/2001, S. 68).

Große Objekte neigen eher zu Dekohärenz als kleine. Das erklärt, warum die Quantenmechanik gemeinhin als Theorie der Mikrowelt gilt. Doch in vielen Fällen lässt sich der Informationsverlust verlangsamen oder anhalten - und dann offenbart die Quantenwelt all ihre Pracht durch die so genannte Verschränkung. Diesen Begriff prägte Schrödinger 1935 in demselben Artikel, in dem er seine paradoxe Katze vorstellte. Die Verschränkung verknüpft einzelne Teilchen zu einem untrennbaren Ganzen. Ein klassisches System ist immer teilbar, zumindest im Prinzip: Seine kollektiven Eigenschaften entstehen aus den Eigenschaften der Bestandteile.

Doch ein verschränktes System lässt sich nicht in dieser Weise aufspalten. Das hat seltsame Konsequenzen. Selbst wenn die verschränkten Teilchen beliebig weit voneinander entfernt sind, verhalten sie sich dennoch als eine einzige Gesamtheit. Einstein nannte dieses Phänomen abschätzig »spukhafte Fernwirkung«.

Veranschaulichen lässt sich das etwa an zwei Elektronen. Man kann sich diese Teilchen grob als kleine Kreisel vorstellen, die entweder im Uhrzeigersinn (vorwärts) oder entgegen gesetzt (rückwärts) rotieren, wobei die Drehachse beliebige Orientierungen haben kann: horizontal, vertikal, um 45 Grad geneigt und so fort. Um den Drehsinn - den so genannten Spin - eines Teilchens zu messen, muss man erst eine Richtung wählen und dann nachsehen, ob der Spin in diese Richtung weist oder entgegengesetzt.

Nehmen wir einmal an, die Elektronen würden sich klassisch verhalten. Man könnte einem Elektron in horizontaler Richtung Vorwärtsspin verleihen und dem anderen einen horizontalen Rückwärtsspin; ihr Gesamtspin ist dann null. Ihre Achsen stehen räumlich fest - und wenn man eine Messung durchführt, hängt das Ergebnis davon ab, ob die gewählte Messrichtung mit den Partikelachsen übereinstimmt. Misst man beide Teilchen horizontal, ergeben sich entgegengesetzte Spins; bei vertikaler Messung wird gar kein Spin angezeigt.

Doch quantenmechanische Elektronen verhalten sich ganz anders. Man kann den Teilchen selbst dann den Gesamtspin null verleihen, wenn man ihre individuellen Spins nicht festgelegt hat. Misst man eines der beiden, ergibt sich zufällig Spin vorwärts oder rückwärts, als würde das Teilchen selbst darüber entscheiden. Dennoch beobachtet man für beliebig gewählte Messrichtungen - vorausgesetzt, sie sind für beide Teilchen gleich - entgegengesetzte Spins: Wenn das eine Elektron Vorwärtsspin hat, zeigt das andere Spin rückwärts. Woher die beiden das wissen, bleibt ein Rätsel. Es kommt noch schlimmer: Wenn man ein Teilchen horizontal misst und das andere vertikal, entdeckt man für jedes einen gewissen Spin; anscheinend haben die Teilchen keine festen Drehachsen. Darum sind die Ergebnisse in einem Ausmaß auf einander abgestimmt, das die klassische Physik nicht zu erklären vermag.


KASTEN 1

Ein Quantenparadox: Der beobachtete Beobachter

Die Idee, die Quantenmechanik gelte für alles im Universum, sogar für uns Menschen, hat seltsame Konsequenzen. Das zeigt eine Variante von Schrödingers Katze, erdacht 1961 vom ungarisch-amerikanischen Nobelpreisträger Eugene P. Wigner (1902-1995) und 1986 aufgegriffen von dem britischen Theoertiker David Deutsch von der University of Oxford.

Angenommen, die Experimentalphysikerin Alice sperrt ihren Freund Bob in einen Raum, der eine Katze, ein radioaktives Atom und ein bei dessen Zerfall freigesetztes Tiergift enthält. Aus Alices Sicht gerät das Atom in einen zugleich zerfallenen und nicht zerfallenen Zustand, und darum ist die Katze zugleich tot und lebendig. Doch Bob beobachtet die Katze direkt. Alice schiebt nun unter der Tür einen Zettel durch mit der Frage, ob die Katze in einem eindeutigen Zustand ist. Bob antwortet Ja.

Wohlgemerkt, Alice fragt nicht, ob die Katze lebt oder tot ist, denn das würde für sie das Ergebnis erzwingen - in der Sprache der Physiker den »Kollaps der Wellenfunktion« herbeiführen. Da Alice das vermeidet, kann sie ihre Frage rückgängig machen und die von Bob erhaltene Information wieder aus ihren Notizen streichen. Damit wäre der vorige Zustand wieder erreicht: Die Katze wäre sowohl tot als auch lebendig.

Doch eine Spur bleibt zurück: der Zettel. Alice kann die Beobachtung aus ihren Unterlagen streichen, ohne die Notiz auf dem Zettel zu löschen. Es bleibt also ein Beweis dafür, dass Bob die Katze als eindeutig tot oder lebend beobachtet hat.

Das führt zu einem verblüffenden Schluss. Alice konnte die Beobachtung umkehren, weil sie, soweit es sie betraf, den Zustandskollaps vermied; für sie war Bob in einem genauso unbestimmten Zustand wie die Katze. Doch in der Sichtweise ihres Freunds im Zimmer war der Zustand kollabiert. Er sah ein eindeutiges Ergebnis; der Zettel beweist das. Somit demonstriert das Experiment zwei scheinbar unvereinbare Prinzipien. Für Alice gehorchen makroskopische Objekte der Quantenmechanik: Nicht nur Katzen, sondern auch Menschen können unbestimmte Quantenzustände bilden. Bob hingegen ist der Meinung, dass Katzen nur entweder tot oder lebendig sind.

Mit einem ausgewachsenen Menschen lässt sich dieses Experiment schlecht durchführen, aber mit einfacheren Systemen gelingt es durchaus. Anton Zeilingers Team an der Universität Wien schießt ein einzelnes Photon auf einen kleinen halbdurchlässigen Spiegel. Wenn es reflektiert wird, erleidet der Spiegel einen Rückstoß; wird es durchgelassen, bleibt der Spiegel ruhig. Das Photon spielt die Rolle des radioaktiven Atoms; es kann gleichzeitig mehr als einen Zustand einnehmen. Der aus Mil liarden Atomen bestehende Spiegel entspricht der Katze und Bob. Die Entscheidung, ob er einen Rückstoß erfährt oder nicht, gleicht dem Leben oder dem Tod der Katze beziehungsweise Bobs entsprechender Beobachtung. Der Vorgang lässt sich nun rückgängig machen, indem das Photon von einem weiteren Spiegel zum ersten Spiegel zurück reflektiert wird. In kleinerem Maßstab haben Rainer Blatt von der Universität Innsbruck und David J. Wineland vom National Institute of Standard and Technology in Boulder (Colorado) die Messung vibrierender Ionen in einer Ionenfalle rückgängig gemacht.

Bei der Entwicklung dieses vertrackten Gedankenexperiments sind Wigner und Deutsch der Überzeugung Erwin Schrödingers, Albert Einsteins und anderer Theoretiker gefolgt, die Quantenmechanik sei noch nicht wirklich verstanden. Jahrzehntelang haben sich die meisten Physiker kaum darum gekümmert, denn die grundlegenden Fragen hatten keinen Einfluss auf die praktischen Anwendungen der Theorie. Doch seit wir solche Experimente im Labor zu realisieren vermögen, gibt es keinen Grund mehr, die Suche nach einer Antwort aufzuschieben.


Verschränkung vieler Teilchen

Bei den meisten Verschränkungsexperimenten sind nur wenige Teilchen im Spiel. Größere Systeme lassen sich nicht so einfach von der Umgebung isolieren, denn ihre Einzelteilchen verschränken sich unkontrolliert und äußerst bereitwillig mit vagabundieren Partikeln. In der Sprache der Dekohärenz: Zu viel Information geht an die Umgebung verloren, und das System benimmt sich klassisch. Diese Anfälligkeit der Verschränkung macht es so schwierig, sie praktisch zu nutzen - etwa für künftige Quantencomputer.

Doch 2003 zeigte ein Experiment, dass auch recht große Systeme für längere Zeit verschränkt bleiben können. Ein Team um Gabriel Aeppli vom University College London setzte ein Stück Lithiumfluorid einem Magnetfeld aus. Dieses Salz ist magnetisierbar. Man kann sich die Atome im Salz als kleine Magnete vorstellen, die bestrebt sind, sich längs des äußeren Felds auszurichten. Die Kräfte, welche die Atome aufeinander ausüben, wirken wie eine Art Gruppendruck, sich schneller zu ordnen. Die Forscher variierten die Stärke des Magnetfelds und maßen, wie schnell die Atome sich ausrichteten. Wie sich zeigte, reagierten die Atome viel schneller, als die Stärke ihrer Wechselwirkung erwarten ließ. Offenbar half ihnen ein zusätzlicher Effekt, sich gleichsinnig zu verhalten. Die Forscher sind überzeugt, Verschränkung sei die Ursache dafür. Wenn das zutrifft, bildeten die rund 1020 Atome des Salzstücks einen riesigen verschränkten Zustand.


KASTEN 2

Der quantenverschränkte Salzkristall

Die meisten Physiker meinten, typische Quantenphänomene würden nur auf der Ebene einzelner Teilchen wirksam; große Teilchencluster benähmen sich klassisch. Doch neue Experimente besagen etwas anderes. Zum Beispiel zeigen die magnetischen Momente der Atome in einem Salzkristall normalerweise in beliebige Richtungen (unten links). In einem äußeren Magnetfeld richten sie sich parallel aus - und zwar schneller als von der klassischen Physik vorhergesagt (Mitte). Anscheinend werden die Spins durch das Phänomen der Verschränkung - die »spukhafte Fernwirkung« zwischen Quantenteilchen - besonders wirksam geordnet (rechts). Eine Messung der magnetischen Eigenschaften des Kristalls offenbart in Abhängigkeit von der Temperatur die Rolle der Verschränkung (Diagramm).
(Grafiken der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Um Störungen durch wärmebedingte Zufallsbewegungen zu vermeiden, führte Aeppli die Versuche bei extrem tiefen Temperaturen durch - bei einigen Millikelvin (tausendstel Grad über dem absoluten Nullpunkt). Doch seither hat Alexandre Martins de Souza vom Brasilianischen Zentrum für Physikalische Forschung in Rio de Janeiro makroskopische Verschränkung in Kupferkarboxylat sogar bei Raumtemperatur entdeckt. In solchen Systemen ist die Wechselwirkung zwischen den Teilchenspins stark genug, dem thermischen Chaos zu widerstehen. In anderen Fällen wehrt eine äußere Kraft die thermischen Effekte ab. Physiker haben inzwischen Verschränkung in immer größeren und wärmeren Systemen gefunden - von Ionen in elektromagnetischen Fallen über ultrakalte Atome in Kristallgittern bis zu supraleitenden Quantenbits (siehe Kasten unten).


KASTEN 3

Immer größer, immer wärmer

Quanteneffekte treten nicht nur bei subatomaren Teilchen nahe dem absoluten Nullpunkt auf. Sie werden nun auch in Experimenten mit größeren und wärmeren Systemen beobachtet.

Was
Wann
 Wie warm
Wer
Doppelspaltversuche mit Fullerenen demon-
strierten erstmals, dass auch große
Moleküle sich wie Wellen verhalten
1999


 900-1000
 Kelvin

Markus Arndt, Anton
Zeilinger et al.
(Universität Wien)
Die magnetische Suszeptibilität von
Metallcarboxylaten lässt Verschränkung
von Billionen Atomen vermuten
2009


 630 Kelvin


Alexandre Martins de Souza et al.
(Brasilianisches Zentrum für
Physikalische Forschung)
Quanteneffekte erhöhen den Wirkungsgrad
der Fotosynthese bei zwei Arten von
Meeresalgen.
2010


 294 Kelvin


Elisabetta Collini et al. (University
of Toronto, University of New South
Wales und Universität Padua)
Beobachtung von Quanteneffekten in
Riesenmolekülen aus 430 Atomen
2011

 240-280
 Kelvin
Stefan Gerlich, Sandra Eibenberger
et al. (Universität Wien)
Verschränkung von drei Quantenbits in einem
supraleitenden Stromkreis. Das Verfahren
kann beliebig große Quantensysteme erzeugen
2010


 0,1 Kelvin


Leonardo DiCarlo, Robert Schoelkopf
et al. (Yale University und
University of Waterloo)
Eine 0,04 Millimeter lange Metallfeder
vibrierte mit zwei Frequenzen gleichzeitig
2010

 25 Millikelvin
 (tausendstel K)
Aaron O'Connell, Max Hofheinz et al.
(Uni. of California in Santa Barbara)
Verschränkung von acht Kalziumionen in
einer Ionenfalle. Heute gelingt das
mit 14 Ionen
2005


 0,1 Millikelvin


Hartmut Häffner, Rainer Blatt et al.
(Universität Innsbruck)

Verschränkte Schwingung von Beryllium- und
Magnesiumionen

2009


 0,1 Millikelvin


John D. Jost, David J. Wineland et al.
(National Institut of Standards and
Technology)

Diese Systeme gleichen Schrödingers Katze. Die Elektronen eines Atoms oder Ions können sich nahe dem Kern oder weiter weg aufhalten - oder beides zugleich. Ein solches Elektron verhält sich wie das zerfallene und nicht zerfallene radioaktive Atom in Schrödingers Gedankenexperiment. Unabhängig vom Verhalten des Elektrons kann das gesamte Atom beispielsweise nach links oder rechts wandern. Diese Bewegung spielt die Rolle der lebendigen oder toten Katze. Mittels Lasern können Physiker das Atom manipulieren und die beiden Eigenschaften koppeln: beispielsweise das Atom veranlassen, sich nach links zu bewegen, wenn das Elektron sich nahe dem Kern aufhält, und nach rechts, wenn das Elektron weiter entfernt ist. Der Zustand des Elektrons ist mit der Bewegung des Atoms genauso verschränkt wie der radioaktive Zerfall mit dem Zustand der Katze. Ihr Schweben zwischen Leben und Tod entspricht einem Atom, das zugleich nach links und nach rechts wandert.

Andere Experimente realisieren diese Grundidee in größerem Maßstab: Zahlreiche Atome werden verschränkt und bilden Zustände, die in der klassischen Physik als unmöglich gelten. Und wenn sogar große und warme Festkörper verschränkt werden können, darf man den Gedanken wagen, ob das Gleiche vielleicht auch für ein sehr spezielles großes, warmes System gelten könnte - einen lebenden Organismus.


Schrödingers Vögel

Rotkehlchen sind pfiffige kleine Vögel. Im Herbst übersiedeln sie vom frostigen Skandinavien ins warme Afrika und kehren im Frühling wieder zurück. Die gut 10.000 Kilometer lange Rundreise bewältigen sie, ohne sich zu verirren.

Die Menschen haben sich lange gefragt, ob Vögel und andere Tiere einen eingebauten Kompass besitzen. In den 1970er Jahren fing das Forscherehepaar Roswitha und Wolfgang Wiltschko von der Universität Frankfurt Rotkehlchen ein und setzte sie künstlichen Magnetfeldern aus. Seltsamerweise nahmen die Tiere eine Umkehr der Feldrichtung nicht wahr, konnten also Nord nicht von Süd unterscheiden. Hingegen reagierten sie auf die Inklination des Erdmagnetfelds, das heißt auf den Winkel der Feldlinien zur Erdoberfläche. Das genügt ihnen zur Navigation. Wurden ihre Augen zugeklebt, reagierten die Rotkehlchen jedoch überhaupt nicht auf ein Magnetfeld; somit nehmen die Vögel das Feld irgendwie mit diesen wahr.

Im Jahr 2000 behauptete der Physiker Thorsten Ritz, damals an der University of Florida, diesem Phänomen liege quantenphysikalische Verschränkung zu Grunde. Nach seinem Modell, das auf früheren Arbeiten des Biophysikers Klaus Schulten an der University of Illinois aufbaut, enthält das Vogelauge einen Molekültyp, in dem zwei Elektronen ein verschränktes Paar mit Gesamtspin null bilden. Wenn dieses Molekül sichtbares Licht absorbiert, gewinnen die Elektronen genügend Energie, sich zu trennen und für externe Einflüsse wie das Erdmagnetfeld empfänglich zu werden. Bei Inklination beeinflusst das Magnetfeld die beiden Elektronen unterschiedlich und erzeugt ein Ungleichgewicht, das die chemische Reaktion des Moleküls verändert. Im Auge wird dieser chemische Unterschied in neuronale Impulse übersetzt; so entsteht schließlich im Vogelgehirn eine Repräsentation des Magnetfelds.

Der von Ritz vorgeschlagene Mechanismus ist zunächst nur eine Hypothese, doch Christopher T. Rogers und Kiminori Maeda von der University of Oxford haben ähnliche Moleküle im Labor untersucht und gezeigt, dass sie tatsächlich auf Grund von Elektronenverschränkung für Magnetfelder empfindlich sind.

Nach Berechnungen, die meine Kollegen und ich durchgeführt haben, bleiben Quanteneffekte im Vogelauge für rund 100 Mikrosekunden (millionstel Sekunden) bestehen. Das ist in diesem Zusammenhang sehr lange; der Rekord für künstlich verschränkte Elektronspins liegt bei rund 50 Mikrosekunden.

Wir wissen noch nicht, wie ein natürliches System Quanteneffekte so lange aufrechtzuerhalten vermag, doch die Antwort könnte uns helfen, künftige Quantencomputer besser vor Dekohärenz zu schützen.

Ein weiterer biologischer Vorgang, an dem möglicher weise Verschränkung mitwirkt, ist die Fotosynthese, mit der Pflanzen Sonnenlicht in chemische Energie umwandeln. Das einfallende Licht setzt in den Pflanzenzellen Elektronen frei, die daraufhin alle zu ein und demselben Ort gelangen - zum chemischen Reaktionszentrum, wo sie ihre Energie abgeben und die Reaktionen in Gang setzen, welche die Pflanzenzellen mit Energie versorgen. Die klassische Physik kann die nahezu perfekte Effizienz dieses Vorgangs nicht erklären.

Experimente mehrerer Forschergruppen, darunter jener von Graham R. Fleming und Mohan Sarovar an der Univer sity of California in Berkeley sowie Gregory D. Scholes von der University of Toronto (Kanada), legen nahe, dass dieser hohe Wirkungsgrad quantenmechanische Gründe hat. In der Quantenwelt ist ein Teilchen nicht darauf festgelegt, zu einer bestimmten Zeit genau einen Weg einzuschlagen; es vermag alle möglichen Wege auf einmal zu nehmen. Die in den Pflanzenzellen herrschenden elektromagnetischen Felder könnten dafür sorgen, dass einige dieser Pfade einander auslöschen, während sich andere gegenseitig verstärken - und zwar so, dass für das Elektron die Wahrscheinlichkeit eines verlustreichen Umwegs sinkt, während die Chance steigt, dass es schnurstracks zum Reaktionszentrum geführt wird.

Die hypothetische Verschränkung würde nur einen Sekundenbruchteil andauern und Moleküle betreffen, die rund 100.000 Atome umfassen. Gibt es in der Natur Beispiele für noch größere und dauerhaftere Verschränkung? Das wissen wir nicht, aber allein schon die Frage hat den Anstoß zu einem neuen Forschungsfeld namens Quantenbiologie gegeben.


Über Raum und Zeit hinaus

Schrödinger fand die Idee absurd, Katzen könnten zugleich am Leben und tot sein; eine Theorie, die solche Aussagen macht, war für ihn unvollständig. Generationen von Physikern haben dieses Unbehagen geteilt und angenommen, die Quantenmechanik würde nur in gewissen Grenzen gelten. In den 1980er Jahren spekulierte der englische Mathematiker und Physiker Roger Penrose von der University of Oxford, die Gravitation verursache bei Massen oberhalb 20 Mikrogramm (millionstel Gramm), dass die Quantenmechanik in die klassische Physik übergeht.

Drei italienische Physiker - Gian Carlo Ghirardi und Tomaso Weber von der Universität Triest sowie Alberto Rimini von der Universität Pavia - postulierten schon früher, große Teilchengruppen würden sich stets spontan klassisch verhalten. Doch neuere Experimente widersprechen diesen Annahmen. Offenbar gibt es keine fundamentale Kluft zwischen Quantenwelt und Alltagsphysik. Je raffinierter die Experimente werden, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass die klassische Physik in keiner Größenordnung ein echtes Comeback erleben wird. Eher herrscht die Meinung vor, dass eine umfassendere Theorie, die vielleicht eines Tages die Quantenphysik ablösen könnte, noch weiter von der Alltagserfahrung entfernt sein müsste.

Falls die Quantenmechanik in allen Größenordnungen gilt, hat dies weit reichende Konsequenzen. Zum Beispiel gehören Raum und Zeit zu den fundamentalsten klassischen Begriffen, aber gemäß der Quantenmechanik sind sie sekundär. Primär sind die Verschränkungen; sie verknüpfen Quantensysteme ohne Bezug auf Raum und Zeit. Gäbe es eine Trennlinie zwischen beiden Welten, könnten wir den klassischen Rahmen von Raum und Zeit zur Beschreibung von Quantenprozessen nutzen. Doch ohne eine solche Trennlinie - und ohne eine wirklich klassische Welt - geht uns dieser Rahmen verloren. Wir müssen Raum und Zeit als etwas erklären, das irgendwie aus raum- und zeitloser Physik hervorgeht.

Diese Erkenntnis wiederum hilft uns vielleicht, die Quantenphysik mit Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie zu versöhnen, welche die Gravitation als Geometrie der Raumzeit beschreibt. Die allgemeine Relativitätstheorie unterstellt, dass Objekte stets eindeutig definierte Orte einnehmen und sich niemals an zwei Stellen gleichzeitig aufhalten - in direktem Widerspruch zur Quantenphysik. Stephen Hawking von der University of Cambridge und viele andere Physiker glauben, dass die Relativitätstheorie einer fundamentalen Theorie weichen muss, in der es weder Raum noch Zeit gibt. Die klassische Raumzeit geht demnach durch den Vorgang der Dekohärenz aus quantenmechanischen Verschränkungen hervor.

Noch interessanter ist die Möglichkeit, dass die Gravita tion gar keine eigenständige Kraft ist, sondern durch Quantenfluktuationen der übrigen Naturkräfte entsteht. Diese Idee der »induzierten Gravitation« geht auf den sowjetischen Physiker und Dissidenten Andrei Sacharow (1921-1989) zurück. Sie würde nicht nur die Gravitation ihres fundamentalen Rangs berauben, sondern auch allen Versuchen, die Schwerkraft zu »quantisieren«, den Boden entziehen.

Vielleicht existiert die Gravitation - die typische »klassische« Kraft - auf der Quantenebene überhaupt nicht. Dann wäre die Welt komplett von den typisch quantenphysikalischen Mechanismen Verschränkung und Dekohärenz beherrscht. Es gäbe im Kleinen wie im Großen nur die eine Quantenwelt.


DER AUTOR
Vlatko Vedral studierte Physik am Imperial College London und ist seit Juni 2009 Professor an der University of Oxford sowie an der National University of Singapore. Er entwickelte eine neuartige Methode, den Grad der Quantenverschränkung in makroskopischen Vielteilchensystemen zu messen.

QUELLEN
Amico, L. et al.: Entanglement in Many-Body Systems. In: Reviews of Modern Physics 80, S. 517-576, 2008
Gosh, S. et al.: Entangled Quantum State of Magnetic Dipoles. In: Nature 425, S. 48-51 2003
Vedral, V.: Quantifying Entanglement in Macroscopic Systems. In: Nature 453, S. 1004-1007, 2008
Vedral, V.: Decoding Reality: The Universe as Quantum Information. Oxford University Press, 2010

WEBLINKS
www.ScientificAmerican.com/jun2011/quantum
Liste von Links zum Thema Quantenverschränkung (auf Englisch)

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1116464


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 33:
Ohne Quantenregeln gäbe es keine Atome, die von stabilen Elektronenhüllen umgeben sind. Doch die Überlegungen des Autors gehen viel weiter: Sind sogar in lebenden Organismen Quantenphänomene am Werk?

Abb. S. 37:
Der erstaunlich wirksame Orientierungssinn von Zugvögeln beruht offenbar auf ihrer Sensibilität für das Erdmagnetfeld. Anscheinend verfügt das Vogelauge über einen Magnetsensor, der nicht auf die Nordsüdrichtung anspricht, sondern auf die Inklination, das heißt den Winkel der Feldlinien zur Erdoberfläche. Nach einer Hypothese lässt sich diese Fertigkeit durch einen quantenphysikalischen Mechanismus erklären.


© 2011 Vlatko Vedral, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 9/11 - September 2011, Seite 32 - 38
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2011