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FORSCHUNG/928: Forschen auf der schnellsten Rennstrecke der Welt (wissen leben - WWU Münster)


wissen leben - Nr. 6, 10. Oktober 2012

Die Zeitung der WWU Münster

Forschen auf der schnellsten Rennstrecke der Welt
Münstersche Kernphysiker testen ihre Entwicklungen am Forschungszentrum CERN, um den Bau einer Beschleunigeranlage zu unterstützen

von Janine Hillmer



Wer mit einer russischen Matrjoschka-Puppe spielt, öffnet Schale um Schale und entdeckt jeweils eine neue, kleinere Figur. Mit ähnlich verschachtelten, aber wesentlich kleineren Phänomenen beschäftigt sich die Teilchenphysik.

Während im frühen 19. Jahrhundert Atome als kleinste Einheit der Materie galten, konnte der Physiker Ernest Rutherford 100 Jahre später zwischen den einzelnen Bestandteilen eines Atoms unterscheiden. In seinem Modell umgaben negativ geladene Elektronen einen positiv geladenen Kern, bestehend aus Protonen und Neutronen. Doch ähnlich wie bei einer Matrjoschka-Puppe kam auch hier noch ein kleinerer Baustein ans Licht - die "Quarks" genannten Elementarteilchen, aus denen sich sowohl Protonen als auch Neutronen zusammensetzen. Frei beobachten kann man Quarks nicht. Sie sind mit Hilfe von Trägerteilchen, den Gluonen, in Form von Protonen oder Neutronen zusammengehalten. Anders war das nur bei der Entstehung des Universums. Für einige Sekundenbruchteile nach dem Urknall existierten Quarks und Gluonen frei im Raum als sogenanntes Quark-Gluon-Plasma.

Und genau dieses urzeitliche Plasma ist es, was den münsterschen Kernphysiker Professor Johannes Wessels fasziniert. Um den Eigenschaften des Plasmas auf die Spur zu kommen, sind Johannes Wessels und sein Team an einem Großversuch mit einem hochkomplexen Teilchenbeschleuniger am Forschungszentrum CERN in der Schweiz beteiligt.

Zur Zeit hinaus arbeiten die Physiker darüber hinaus an den Prototypen eines Übergangsstrahlungs-Detektors für die neue Beschleuniger-Anlage FAIR (Facility for Antiproton and Ion Research), die 2018 in der Nähe von Darmstadt eröffnet wird. Auch hier sollen die Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas untersucht werden, allerdings unter veränderten Ausgangsbedingungen. Mit Spannung wird nun die nächste Reise zum CERN Ende Oktober erwartet. Dann sind die Detektor-Prototypen im Gepäck und müssen ihre Qualität bei einem Teststrahl unter Beweis stellen. David Emschermann, Mitarbeiter von Johannes Wessels, erklärt was es mit dem Quark-Gluon-Plasma auf sich hat: "Ein Quark-Gluon-Plasma kommt in der Natur allenfalls im Inneren von Neutronensternen vor. Aber wir erzeugen einfach unseren eigenen Urknall en miniature, um die Eigenschaften des Plasmas untersuchen zu können." Mit Teilchenbeschleunigern lässt sich das Quark-Gluon-Plasma künstlich erzeugen. Der weltgrößte Teilchenbeschleuniger ist der Large Hadron Collider (LHC) am CERN in der Schweiz. Er besteht aus einer von supraleitenden Magneten umgebenen ringförmigen Vakuumröhre, die etwa 100 Meter unter der Erde liegt. In dieser Vakuumröhre werden zwei gegenläufige Protonen- oder Bleiionenstrahlen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. "Das ist die schnellste Rennstrecke der Welt. Jedes Teilchen schafft mehr als 11.000 Runden pro Sekunde im 27 Kilometer großen Beschleunigerring", so Emschermann. An vier Punkten im Tunnel werden die Teilchen schließlich zur Kollision gebracht. Um diese vier Kollisionspunkte herum sind die vier großen LHC-Experimente gebaut, die sich jeweils unterschiedlichen Fragestellungen widmen.


"Das Ganze ist wie ein Ameisenhaufen. Von außen wirkt es chaotisch, aber jeder weiß genau, was er zu tun hat."

ALICE heißt das Experiment zur Erforschung des Quark-Gluon-Plasmas, an dem die Münsteraner Wissenschaftler beteiligt sind. Es ist auf die Kollision von Bleiionen spezialisiert. Wenn die Ionen mit Lichtgeschwindigkeit zusammenstoßen, entstehen winzige Feuerbälle mit Temperaturen 100.000 mal heißer als im Zentrum der Sonne sind. Bei diesen extremen Bedingungen schmelzen die Atomkerne. Quarks und Gluonen befinden sich dann im Plasmazustand, ganz ähnlich wie nach dem Urknall. "Leider können wir die Teilchen in diesem Plasma nicht direkt messen. Dazu geht alles viel zu schnell. Denn dieser Zustand dauert nur 10 bis 23 Sekunden an. Das ist viel zu kurz, als dass die Teilchen einen Detektor erreichen könnten. Wir analysieren daher die Teilchen, die sich beim Abkühlen aus den freien Quarks und Gluonen bilden", betont Emschermann. Beim "Ausfrieren" des Quark-Gluon-Plasmas entstehen einige zigtausend Teilchen. Das sind unter anderem auch Elektronen, die mit dem ALICE-Detektor gemessen werden können und Rückschlüsse auf die Eigenschaften des Plasmas erlauben.

Ganz im Gegensatz zur Winzigkeit der Teilchen, die gemessen werden, ist der ALICE-Detektor mit seinen 25 mal 16 Metern riesig. Er umgibt den Kollisionspunkt und ist ähnlich einer Zwiebel aus verschiedenen Schichten aufgebaut. In jeder Schicht befinden sich unterschiedliche Detektorkomponenten von denen jede eine ganz bestimmte Aufgabe hat. Emschermann erklärt den Beitrag der münsterschen Forscher: "Wir sind für den Übergangsstrahlungs-Detektor TRD (Transition Radiation Detector) zuständig. Er analysiert die Elektronen, die bei den Kollisionen entstehen. Nur Elektronen erzeugen im TRD ein Signal, mit dem sie von den übrigen Spurteilchen unterschieden werden können." Die bei den Messungen entstehenden Datenmengen sind enorm. Allein von der insgesamt 700 Quadratmeter großen Fläche des TRD-Detektors werden rund 1,2 Millionen einzelne Elektronikkanäle ausgelesen und verarbeitet.

Derart gigantische Physik-Experimente sind längst nicht mehr die Arbeit Einzelner. Mehr als 1200 Wissenschaftler aus 132 Instituten und 36 Ländern sind am ALICE-Experiment beteiligt. Das schafft zwar oft komplizierte Abhängigkeiten, funktioniert im Prinzip aber gut. "Das Ganze ist wie ein Ameisenhaufen. Von außen wirkt es chaotisch, aber jeder weiß genau, was er zu tun hat", erläutert Emschermann.

Während die Messungen am LHC in der Schweiz im vollen Gange sind, entwickeln die Münsteraner bereits die nächste Generation Übergangsstrahlungs-Detektor für die Beschleuniger-Anlage FAIR bei Darmstadt. Neue Anforderungen müssen dabei gemeistert werden. Doktorand Cyrano Bergmann ist maßgeblich an der Detektor-Entwicklung beteiligt. "Wir bauen einen Detektor für eine ganz enorme Teilchenrate. Pro Sekunde soll er 100.000 Teilchen auf einer Fläche so groß wie ein Daumennagel messen können", erklärt er. Inspiration für den Detektorbau holen sich die Wissenschaftler auch gerne aus dem Alltag. Während im ALICE-Detektor am CERN das Material von Dunstabzugshaubenfiltern zum Einsatz kommt, wird jetzt über den Nutzen von strukturierten Folien nachgedacht, die ähnlich erzeugt werden, wie die "Dellen" in den Böden von Joghurtbechern.

Wenn in sechs Jahren die ersten Versuche am FAIR starten, werden die Wissenschaftler der Universität Münster auch dort den Anfängen des Universums auf die Spur gehen.

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Quelle:
wissen leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 6, 10. Oktober 2012, S. 5
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2012