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GESCHICHTE/025: Die Formeln des Sprunghaften (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2008

Wissenschaftsgeschichte Quantenmechanik
Die Formeln des Sprunghaften

Von Roland Wengenmayr


Max Planck begründete 1900 die Quantenphysik - ohne es zu ahnen. In den Jahren nach 1920 entwickelten viele Physiker die moderne Quantenmechanik - auf verschlungenen Wegen und unter heftigen Auseinandersetzungen. Diese komplexe Entstehungsgeschichte untersuchen Historiker um Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, und seinen Mitarbeiter Christoph Lehner zusammen mit Physikern um Matthias Scheffler, Direktor am Fritz-Haber-Institut.

Bis Anfang der 1920er-Jahre entwickelte sich das junge Forschungsgebiet stürmisch. Heute wird es gerne als ältere Quantentheorie bezeichnet. Zu den wichtigen Meilensteinen nach Plancks Initialzündung zählen Einsteins Pionierarbeiten von 1905 und 1907. In ihnen zeigte der junge Physiker, dass das Planck'sche Wirkungsquantum eine wirklich fundamentale Bedeutung hat. Ein weiterer Meilenstein war das Bohr'sche Atommodell von 1913. Der dänische Physiker Niels Bohr (1885-1962) löste damit ein drückendes Problem früherer Atommodelle. Nach diesen sollten die Elektronen um einen positiv geladenen Atomkern kreisen wie Planeten um die Sonne. Doch nach den Gesetzen der Elektrodynamik hätten sie dabei ihre Bewegungsenergie wie kleine Antennen abstrahlen und in den Kern stürzen müssen. Würde die Welt so funktionieren, dann hätten Atome keine Überlebenschance. Bohr rettete die uns vertraute Materie, indem er quantisierte Bahnen einführte, auf denen sich die Elektronen ohne Energieverlust bewegen können.

Bohrs Atommodell passte gut zu den experimentellen Befunden. Warum aber die Elektronenbahnen quantisiert sind, konnte es nicht erklären. Das ist typisch für die entscheidende Schwäche der älteren Quantentheorie. Sie hantierte rein phänomenologisch mit Quanteneigenschaften, ohne deren Ursachen erklären zu können. "Diese Quantenbedingungen wurden postuliert", erklärt Christoph Lehner, Historiker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte: "Aber warum bestimmte physikalische Größen wie zum Beispiel die Energie quantisiert sind, blieb unklar."

Mit dieser Situation waren die hellsten Köpfe der Physik immer unzufriedener. Anfang der 1920er-Jahre verschrieben sie sich dem Ziel, eine neue, grundlegendere Quantentheorie zu schaffen. Ihre kollektive Anstrengung führte nach vielen Irrwegen zum Erfolg. Gegen Ende der Zwanzigerjahre hatte die moderne Quantenmechanik schon fast ihre Form, in der sie bis heute gilt und die auch die Erklärung für die Quantelung der Energie liefert. Inzwischen sind einige ihrer Resultate experimentell so präzise belegt wie bei keiner anderen grundlegenden Theorie der Physik. Doch um ihre Interpretation, also um die Aussagen, die sich aus ihr über die Natur unserer Welt ableiten lassen, tobte damals unter den Physikern eine heftige Debatte, die bis heute anhält.

Erstaunlicherweise ist die Entstehungsgeschichte der modernen Quantenmechanik weitaus weniger gut erforscht, als das ihre Bedeutung für unsere Kultur vermuten ließe. Schließlich haben wir uns längst zu "Quantenmanipulatoren" entwickelt, die per Knopfdruck Halbleiterelektroniken und Laser für sich arbeiten lassen. Allerdings haben es die Historiker auch nicht leicht mit diesem Forschungsobjekt. Allein das Beziehungsgeflecht der vielen Akteure von damals ist sehr unübersichtlich. "Es gibt unheimlich viele Quellen", sagt Lehner, "und diese Quellen sind nicht besonders gut ausgewertet." Außerdem ist der Forschungsgegenstand selbst, die Quantenphysik mit allen ihren philosophischen Konsequenzen, ein schwer verdaulicher Stoff. So verwundert es nicht, dass der Wissenschaftshistoriker Lehner wie viele seiner Kollegen Physik studiert hat.

Vor zwei Jahren starteten Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, und Matthias Scheffler, Direktor am Berliner Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, eine Initiative, die der Innovationsfonds des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft finanziert. Das Projekt will die Entstehung der modernen Quantenmechanik aus der heutigen Perspektive gründlich erforschen.

Planck-Verteilung (1900)

Abb.: Planck-Verteilung (1900)


Mittlerweile arbeiten allein am Berliner Institut zehn Historikerinnen und Historiker mit, erzählt Lehner, der das Projekt koordiniert: "Das ist für unsere Zunft riesig." Hinzu kommen weltweite Kooperationen mit anderen Historikern - und, als Besonderheit, auch mit Physikern, die aktiv forschen. Unter diesen Max-Planck-Wissenschaftlern ist vor allem Scheffler mit einigen seiner Mitarbeiter engagiert. Mit im Boot sind auch Forscher vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam. Diese Physikerinnen und Physiker bringen in die Diskussion vor allem die Perspektive der heutigen Anwender der Quantenmechanik ein.

Die Italienerin Daniela Monaldi zum Beispiel untersucht die Frühgeschichte der Bose-Einstein-Kondensation, die heute ein wichtiges Werkzeug der experimentellen Quantenphysik geworden ist und deren Entwicklung bislang noch kaum erforscht ist. Aus historischer Sicht weitgehend im Dunkeln liegt zudem die Entstehung der modernen Quantentheorie fester Körper - obwohl gerade diese mit ihrer Anwendung in der Halbleitertechnologie unsere Kultur revolutionierte. Darauf konzentriert sich der promovierte Physiker Christian Joas: Er untersucht, wie die Festkörperphysik in den Fünfzigerjahren erfolgreich Methoden aus der sogenannten Quantenfeldtheorie übernahm.

Zum verschachtelten Weg, der in der modernen Quantenmechanik endete, gibt es zwar eine Reihe von wissenschaftshistorischen Werken, aber "im Endeffekt seit etwa dreißig Jahren nicht sehr viel Neues dazu", stellt Lehner fest. Die ersten wichtigen Arbeiten und Bücher entstanden in 1960er- und 1970er-Jahren. "Die stammen von der Augenzeugengeneration, also von Physikern, die diese Entwicklung selbst erlebt haben", erklärt Lehner.

"Augenzeugenberichte sind aber nicht immer zuverlässig", sagt der Historiker: "Das merkt man gerade bei so chaotischen Geschichten wie der Quantenmechanik sehr stark." Das Problem: Die damals noch lebenden Physiker dieser Generation erzählten die Geschichte im Rückblick über eine Distanz von Jahrzehnten. "Sie sahen also das, was sie in den Zwanzigerjahren gemacht hatten, nun durch die Brille ihres viel moderneren Wissens über die Quantenmechanik", betont der Historiker. Deshalb stellten sie - meist ungewollt - die lange zurückliegenden Ereignisse verändert dar. "So funktioniert nun mal das menschliche Gedächtnis", sagt Lehner. Erschwerend kommt hinzu, dass Physiker naturgemäß zu einer didaktisch idealisierten Darstellung neigen, die verwirrende Irrwege beiseite lässt. Andere Quellen wie Briefe oder Notizbücher von damals sind also für die Historiker viel zuverlässiger als die Berichte der Zeitgenossen.

Lehner selbst und seine engeren Mitarbeiter konzentrieren sich derzeit auf die kritische Phase Mitte der Zwanzigerjahre. Im Mittelpunkt stehen die Notizbücher eines Mannes, der entscheidende Impulse aus "einer Außenseiterposition heraus", so Lehner, setzte: Erwin Schrödinger (1887-1961), damals schon über vierzig, war über Umwege zur Quantenphysik gekommen. Allerdings darf man sich unter dem Wiener Bohemien alles andere als einen Außenseitertyp vorstellen. Als Physiker wurde er durchaus ernst genommen, wie seine Korrespondenz etwa mit Einstein und Planck belegt. Ohne großes Charisma hätte er wohl auch kaum so viele außereheliche Affären haben können, wie Lehner schmunzelnd einflicht.

Erwin Schrödinger verfolgte mit seiner Wellenmechanik eine Alternative zur Matrizenmechanik, ein Forschungsfeld, das vor allem die Gruppe um den bedeutenden Theoretiker Max Born (1882-1970) an der Universität Göttingen dominierte. Zu Borns hoch begabten Schülern gehörte Werner Heisenberg (1901-1976), der die ursprüngliche Idee der Matrizenmechanik formulierte. "Die Matrizenmechanik war die eher induktive Physik, die versuchte, den Formalismus einer neuen Quantentheorie aus dem Bekannten heraus zu entwickeln", charakterisiert Lehner diese Hauptströmung. Ihre Basis waren vor allem das Bohr'sche Atommodell und die vorherigen Versuche, dieses den Messdaten anzupassen.

Matrizen geben Zahlen in Tabellenform wieder. In solchen Zahlentabellen führte Heisenberg messbare Größen auf - grob gesagt, die Lichtfrequenzen, die das Atom abstrahlt. Damit ließen sich nicht messbare Größen wie der Aufenthaltsort des Elektrons ausdrücken. Erstaunlicherweise lassen sich aus solchen Matrizen dann auch alle anderen physikalischen Eigenschaften eines Atoms bestimmen. Man kann die klassische Mechanik zur Matrizenmechanik umdeuten, indem man alle physikalischen Größen durch solche Matrizen ausdrückt.

Schrödinger dagegen gelangt zur Quantenphysik, indem er Elektronen als stehende Wellen beschreibt. Dieser Ansatz ist einerseits eher deduktiv, er beginnt mit einem fundamentalen Prinzip und entwickelt die Folgerungen daraus. Andererseits ist diese Wellenmechanik ein viel anschaulicherer Ansatz als der der Matrizenmechanik, und war daher für die meisten Physiker einleuchtender und leichter auf physikalische Probleme anwendbar. Bald stellte sich heraus, dass beide Ansätze zu den gleichen Resultaten führten. Schrödingers Hoffnung, dass damit die "Quantenspringerei" wieder durch eine kontinuierliche Physik von klassischen Wellen und Feldern ersetzt werden könne, sollte sich jedoch nicht erfüllen.

Schrödinger kam durch Max Plancks Versuche, eine Quantentheorie der Gase zu entwickeln, und Einsteins Arbeiten Anfang der Zwanzigerjahre auf seine Idee. Planck hatte noch vor dem Ersten Weltkrieg auf die neuen Erkenntnisse aus der gerade aufgekommenen Tieftemperaturphysik reagiert. Danach verhalten sich sehr kalte Gase ganz anders, als das die klassische Gastheorie vorhersagt. "Die Experimente zeigten, dass die Entropie, also die Wärmeaufnahmefähigkeit der Gase, mit sinkender Temperatur gegen null ging", erklärt Lehner.

Dieses Verhalten widersprach der klassischen Theorie. Planck mutmaßte, dass ein Quanteneffekt im Spiel war, und versuchte mit einem Trick zu einer neuen statistischen Theorie der Gase zu gelangen. Er berücksichtigte erstmals, dass in der Quantenwelt einzelne Teilchen - wie die Gasmoleküle - keine individuellen Eigenschaften besitzen. Folglich sind Teilchen derselben Sorte im gleichen physikalischen Zustand ununterscheidbar: Vertauscht man sie untereinander wie Hütchen beim Hütchenspiel, dann verändert sich das physikalische Gesamtsystem überhaupt nicht. Das muss eine statistische Theorie berücksichtigen.

de Broglie-Beziehung (1924)

Abb.: de Broglie-Beziehung (1924)


Planck versuchte das mit einem Ansatz, der allerdings zu simpel war. Der Quantenpionier hatte zwar den richtigen Riecher, doch die Lösung kam von einem jungen indischen Physiker. Satyendranath Bose (1894-1974) entwickelte eine Statistik, die ununterscheidbare Quantenteilchen im gleichen Quantenzustand konsequent als einen einzigen Zustand zählte. Bose konnte mit seiner Theorie das Verhalten von Photonen, also Lichtquanten, richtig beschreiben. Der Inder publizierte diese Arbeit 1921 und weckte Einsteins Aufmerksamkeit. Einstein erkannte, dass Boses statistischer Ansatz sich erfolgreich auf andere Materieteilchen anwenden lässt, die sich zum Beispiel im gasförmigen Zustand befinden.

Mit dieser neuen Bose-Einstein-Statistik beschäftigte sich Erwin Schrödinger. Er spielte durch, welche statistische Gastheorie sich ergibt, wenn er die Gasmoleküle nicht als Teilchen, sondern als Wellen beschreibt. "Er zählte die Wellenzustände und bekam dabei ganz elegant die Bose-Einstein'sche Gastheorie", erläutert Lehner. Von diesem Erfolg beflügelt kam Schrödinger 1926 auf seine Wellengleichung. Diese Schrödinger-Gleichung gehört heute zu den berühmtesten Formeln der Physik. Schrödingers Blick war auch für Wellenphänomene geschärft, weil er die Arbeiten eines anderen Außenseiters kannte. Der französische Theoretiker Louis de Broglie (1882-1987) hatte den Welle-Teilchen-Dualismus, der seit Einsteins Arbeiten von 1905 für Lichtquanten bekannt war, kühn auf alle Materieteilchen ausgedehnt. In seiner Dissertation von 1924 leitete de Broglie erstmals eine Wellenformel für Elektronen her. Offensichtlich waren die Photonen kein Sonderfall: In der Quantenwelt schienen sämtliche Teilchen auch Welleneigenschaften zu besitzen. Das griff Schrödinger auf.

Schrödinger-Gleichung (1926)

Abb.: Schrödinger-Gleichung (1926)


Wie Erwin Schrödinger seine Wellenmechanik erarbeitete, vollziehen Christoph Lehner und einige seiner Kollegen anhand der Notizbücher des Physikers aus den Jahren 1925 und 1926 nach. Schrödinger beschrieb mit seinem Formalismus, wie Elektronen sich als Wellen um einen Atomkern bewegen. Ganz elegant ergab seine Wellengleichung die quantisierten Bahnen als Lösungen, die Niels Bohr in seinem Atommodell noch postulieren musste: Schrödinger und de Broglie zeigten, dass die erlaubten Elektronenbahnen im Atom sich wie eingespannte Saiten verhalten, die nur in bestimmten Tönen schwingen können. Schrödinger konnte mit seiner Gleichung elegant und sehr anschaulich die Quantenzustände des Wasserstoffatoms berechnen.

Allerdings gilt für Schrödingers Wellengleichung ein Tempolimit. Sobald die Elektronen so schnell werden, dass sie in den Bereich relativistischer Effekte geraten, wird sie ungenau. Das passiert in Atomen durchaus. "Für Schrödinger war diese Gleichung deshalb nur eine Notlösung", erzählt Lehner. Wie er im Studium der Notizbücher festgestellt hat, suchte der Wiener Physiker verzweifelt nach einer allgemein gültigen, relativistischen Formulierung und betrachtete seine inzwischen berühmt gewordene Gleichung als ungeliebtes Nebenprodukt.

Diese harte Nuss sollte jedoch ein anderer knacken. 1928 gelang das dem englischen Physiker Paul Dirac (1902-1984) mit seiner Dirac-Gleichung. Das junge Genie von der englischen Cambridge University war eine der Hauptfiguren im Drama der entstehenden Quantenmechanik. Zwei Jahre zuvor hatte Dirac bereits einen entscheidenden Durchbruch geschafft, der zur heute gültigen mathematischen Formulierung der modernen Quantenmechanik führte. "Mit der Wellenmechanik und der Matrizenmechanik hatte man zuvor sozusagen zwei halbe Theorien", sagt Lehner. Dirac fügte 1926 beide in seiner Transformationstheorie zu einem Ganzen zusammen.

1927 wurde zum vielleicht aufregendsten Jahr in der Entwicklungsgeschichte der Quantenmechanik. Werner Heisenberg formulierte in Göttingen seine Unschärferelation, und im Oktober folgte der fünfte Solvay-Kongress. "Gerade dieser Kongress war fantastisch", schwärmt Lehner, "da waren alle, die damals Rang und Namen hatten, da sind die Meinungen wirklich aufeinandergeprallt". Auf diesem legendären Physiker-Kongress, den der belgische Industrielle Ernest Solvay 1911 ins Leben gerufen hatte, sollten die Weichen für die heute dominierende Interpretation der Quantenmechanik gestellt werden. Niels Bohr und Werner Heisenberg rauften sich nach dem Kongress zu dieser Deutung zusammmen, die Bohr mit Beharrlichkeit durchsetzte. Deshalb bürgerte sich Jahrzehnte später der Name "Kopenhagener Interpretation" für sie ein.

Heisenberg'sche Unschärferelation (1927)

Abb.: Heisenberg'sche Unschärferelation (1927)


Bohrs Gegenspieler war Albert Einstein, der den Geistern immer weniger traute, die er selbst gerufen hatte. Vor allem Heisenbergs neue Unschärferelation wurde zum Streitpunkt zwischen Bohr und Einstein. Sie besagt, dass der Ort und der Impuls - also die Geschwindigkeit - eines Teilchens nicht gleichzeitig scharf bestimmt werden können. Heisenberg, Bohr und andere Physiker akzeptierten diese Unschärfe als naturgegebene, prinzipielle Grenze einer Messgenauigkeit.

Einstein wollte das nicht akzeptieren. Er sah die Unschärfe als ein Anzeichen dafür, dass die Quantenmechanik keine grundlegende Theorie, sondern nur eine statistische Näherung ist. Um das zu beweisen, entwarf Einstein immer neue Gedankenexperimente, die Bohr im Gegenzug entkräftete. Augenzeuge Paul Ehrenfest (1880-1933) notierte damals über den Kampf der beiden Titanen: "[...] Schachspielartig. Einstein immer neue Beispiele [...], um die Ungenauigkeitsrelation zu durchbrechen. Bohr stets aus einer dunklen Wolke von philosophischen Rauchgewölkes die Werkzeuge heraussuchend, um Beispiel nach Beispiel zu zerbrechen. Einstein wie die Teuferln in der Box: jeden Morgen wieder frisch herausspringend. Oh war das köstlich. Aber ich bin fast rückhaltslos pro Bohr contra Einstein."

Trotz einiger Widersprüche und Gegenentwürfe wurde und wird die Kopenhagener Interpretation von den meisten Physikern als bislang bestmögliche Arbeitshypothese akzeptiert. Die Kopenhagener Deutung umfasst zum Beispiel Max Borns Erkenntnis, dass Gott - entgegen Einsteins berühmten Bonmot - wohl doch würfelt: Physikalische Ereignisse treten nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein, und allein diese Wahrscheinlichkeit kann die Quantenmechanik präzise beschreiben. Eine weitere Zutat ist Niels Bohrs Komplementaritätsprinzip. Danach kann ein Experiment entweder die Teilcheneigenschaften des untersuchten Objekts aufzeigen oder seine Welleneigenschaften, nie beide zugleich. Jüngste Experimente sprechen allerdings gegen Bohrs strenges Verdikt.

Einstein sollte seine Kritik, dass die Quantenmechanik unvollständig sei, nie aufgeben. 1935 publizierte er zusammen mit Boris Podolsky (1896-1966) und Nathan Rosen (1909-1995) ein Gedankenexperiment, das dieses Problem der Unvollständigkeit auf den Punkt bringen sollte. Es ist heute als Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon berühmt. Befinden sich zwei oder mehr Teilchen in einem gemeinsamen Quantenzustand, dann muss jedes beteiligte Teilchen es sofort spüren, sobald an einem der Teilchen eine Messung vorgenommen wird. Das gilt nach der Quantenmechanik uneingeschränkt, selbst wenn die miteinander "verschränkten" Teilchen beliebig weit von einander entfernt sind. Einstein bezeichnete diesen Effekt als "spukhafte Fernwirkung", die für ihn auf einen grundsätzlichen Webfehler der Quantenmechanik hinwies.

Doch die Natur besitzt tatsächlich diese befremdliche Eigenschaft, wie inzwischen klar ist. Dem Wiener Physiker Anton Zeilinger, der ebenfalls am Forschungsprojekt der Berliner mitwirkt, gelang mit seiner Gruppe kürzlich ein besonders spektakuläres Experiment: Dabei blieben 144 Kilometer voneinander getrennte Photonen noch miteinander verschränkt. Dieses Phänomen machen sich auch bereits technische Entwicklungen wie die Quantenkryptografie zunutze. Ein Lauschangriff auf eine Botschaft von Photonen, die mit anderen verschränkt sind, macht sich beim Vergleich der Eigenschaften beider Lichtteilchen eines Paares immer bemerkbar. Daher ist ein Spion relativ leicht zu entlarven.

Von alledem ahnte Erwin Schrödinger noch nichts, als er zum ersten Mal die Wellengleichung in sein Notizbuch schrieb. Christoph Lehner zeigt strahlend auf eine Kopie dieser Buchseite. Um den Besitz der Originale tobt derzeit ein juristischer Streit zwischen der Universität Wien, die sie lagert, und Schrödingers Tochter und Alleinerbin. Die Handschriften der Pioniere der Quantenmechanik sind längst zum begehrten Besitz geworden.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2008, S. 68-73
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2008