Die Grenzen der Physik ausloten
Auftaktbericht zur Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos (SMuK) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 13. - 17. März 2017 an der Universität Bremen
Es gibt Menschen, die jahrelang Dinge fallen lassen. Sie sind damit sogar von Berufs wegen befaßt und werden dafür bezahlt, daß sie das tun. Mal steigen sie auf einen Turm und lassen von dort oben Objekte herunterfallen, mal verleihen sie diesen soviel Wucht, daß sie bis ins Weltall beschleunigt werden und so lange auf einer ballistischen Kurve um die Erde fallen, bis sie, von den wenigen dort vorhandenen Partikeln mehr und mehr abgebremst, an Geschwindigkeit verlieren und von der sogenannten Anziehungskraft der Erde wieder eingefangen werden. Sogar die über viele Jahre hinweg aus Modulen aufgebaute Internationale Raumstation ISS, die eine Masse von ca. 455 Tonnen hat, fliegt auf einer ballistischen Bahn in durchschnittlich 400 Kilometer Höhe um die Erde. Die riesige Konstruktion sinkt jeden Tag um 50 bis 150 Meter und muß immer wieder durch Triebswerkszündungen auf eine höhere Umlaufbahn gehoben werden.
Der 146 Meter hohe Fallturm - das Wahrzeichen des Campus der Universität Bremen
Foto: © 2017 by Schattenblick
Bei den genannten Menschen handelt es sich um Physikerinnen und Physiker, die sich schwerpunktmäßig mit Gravitation und Relativitätstheorie befassen. Sie nutzen das Phänomen aus, daß während des Falls Verhältnisse entstehen, in denen sich an jenen "Dingen" Eigenschaften zeigen, die unter den normalen Schwerkraftbedingungen nicht hervortreten.
Man erhofft sich von solchen Fallexperimenten neue Erkenntnisse beispielsweise zu den Eigenschaften von Werkstoffen für die Industrie, pharmazeutischen Wirkstoffen oder dem Strömungsverhalten von Flüssigkeiten. Außerdem werden fundamentale physikalische Theorien experimentell überprüft, die zu einer Zeit erstellt worden waren, als der Forschung noch nicht die heutigen technologischen Möglichkeiten zur Verfügung standen, etwas auf diese Weise - via Erdorbit - fallen zu lassen. Beispiele hierfür sind Albert Einsteins (1879-1955) Allgemeine Relativitätstheorie und das auf Galileo Galilei (1564-1642) zurückgehende Äquivalenzprinzip, nach dem schwere und träge Masse gleich sind. Das Fundament von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist die Gültigkeit des Äquivalenzprinzips. (Mit schwerer Masse ist das Gewicht gemeint, das auf einer Waage angezeigt wird, mit träger Masse der Widerstand, den etwas einer äußeren Kraft entgegenstellt.)
Die hier beispielhaft angesprochenen Experimente werden vorzugsweise von Mitgliedern des Fachverbands "Gravitation und Relativitätstheorie" in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) durchgeführt. Andere Fachverbände, die ebenfalls der Sektion Materie und Kosmos (SMuK), angeschlossen sind, wie Extraterrestrische Physik, Theoretische und Mathematische Grundlagen der Physik, Kurzzeitphysik, Plasmaphysik und Umweltphysik, bedienen sich anderer Mittel, Methoden und Modelle, um das physikalische Weltbild weiterzuentwickeln und dabei dessen Grenzen auszuloten. Die SMuK hat vom 13. - 17. März 2017 eine der diesjährigen vier Frühjahrstagungen der DPG ausgerichtet, zu der rund 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Bremen angereist waren. Weitere Standorte sind, bzw. waren Mainz (6. - 10. März), Dresden (19. - 24. März) und Münster (27. - 31. März).
Mit rund 62.000 Mitgliedern ist die DPG, die auf die 1845 gegründete Physikalische Gesellschaft zu Berlin (PGzB) zurückgeht, eigenen Angaben zufolge die älteste nationale und größte physikalische Fachgesellschaft weltweit. Zu den ehemaligen Vorsitzenden und Präsidenten zählen bekannte Persönlichkeiten wie Hermann von Helmholtz (1821-1894), Max Planck (1858-1947) und Albert Einstein, von denen jeder unauslöschbare Spuren in der Geschichte der Physik hinterlassen hat.
Die mehr als 400 Vorträge von 15 bis 45 Minuten Länge der Frühjahrstagung in Bremen teilten sich in die oben genannten Fachverbände, die Arbeitsgruppen Junge DPG (jDPG) und Philosophie der Physik sowie die Astronomischen Gesellschaft e. V. auf. In zwei öffentlichen Abendvorträgen referierten Prof. Dr. Domenico Giulini (ZARM, Universität Bremen und ITP, Leibniz Universität Hannover) im alten Bremer Rathaus über "Brüche im Weltbild der Physik: Quantenmechanik und Gravitation" und Prof. Dr. Justus Notholt (Institut für Umweltphysik, Universität Bremen) im Universum Bremen zu dem Thema "Was sagen uns Satelliten über Wetter und Klima? - Fernerkundung in der Umwelt- und Klimaforschung".
Gespannte Erwartung im Festsaal des alten Bremer Rathauses
Foto: © 2017 by Schattenblick
Außerdem lud am ersten Abend das Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) zu einem Treffen von Industrie und Instituten als potentielle Arbeitgeber von Physikerinnen und Physikern in die Räumlichkeiten des Zentrums ein. Dabei waren, dem Standort Bremen geschuldet, vor allem Raumfahrtunternehmen und -forschungseinrichtungen beteiligt.
Es wäre sicherlich naiv zu glauben, daß Objekte, die auf ballistische Bahnen geschossen werden und dabei den Weltraum erreichen, oder die vom Orbit aus die Erdoberfläche in verschiedenen Frequenzbereichen abtasten, niemals einen "dual use", einen zweifachen Nutzen erbringen sollen, nämlich einen zivilen und einen militärischen. Raumfahrt und Rüstung sind nicht nur historisch, sondern auch heute noch aufs engste miteinander verbunden.
Eben weil das physikalische Wissen nicht nur die Voraussetzungen für beispielsweise die Röntgendiagnostik, die Lasertechnologie und die 3D-Bildgebung in der Medizin geschaffen, sondern auch den Röntgenblitz bei der Kernwaffenexplosion, die Entwicklung von Hochenergie-Lasern und die Zielerfassungssensorik für das Militär hervorgebracht hat, scheint es angesichts des zunehmenden beruflichen Erfolgsdrucks in der Wissenschaft und der sich von Finanznöten getriebenen, von Projekt zu Projekt hangelnden Karrieren um so mehr geboten, in Erinnerung zu behalten, was DPG-Präsident Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer im Programmheft zur Frühjahrstagung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einleitend mit auf den Weg gegeben hat. Er schreibt, daß die DPG ihre Mitglieder ausdrücklich auffordere, "für Freiheit, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Würde in der Wissenschaft einzutreten und sich dessen bewusst zu sein, dass die in der Wissenschaft Tätigen für die Gestaltung des gesamten menschlichen Lebens in besonders hohem Maße verantwortlich sind". Wie einst das CERN nach dem Zweiten Weltkrieg das Ziel verfolgt habe, "eine Brücke für die Völkerverständigung über politische, kulturelle und religiöse Weltanschauungen aufzubauen", sehe sich auch die DPG diesem Geist und diesen Werten verpflichtet und sei aufgerufen, "unsere Verantwortung zur Stärkung einer demokratischen Gesellschaft zu übernehmen". [1]
Daß selbst die Wissenschaft sich nicht hinter dem Schutzschild vermeintlich wert-, das heißt interessensfreier Tätigkeiten verbergen muß und zu umstrittenen Forschungen und gesellschaftlichen Streitthemen Stellung beziehen kann, hat sie verschiedentlich bewiesen und wird beispielhaft an der "Göttinger Erklärung" [2] deutlich, die der Ausschuß "Kernphysik" der DPG am 12. April 1957 veröffentlicht hat. 18 Atomwissenschaftler hatten dieses Manifest unterzeichnet und sich darin deutlich gegen die Versuche der Bundesregierung positioniert, die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen auszustatten. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte diese als "Weiterentwicklung der Artillerie" verharmlost und gefordert, daß auch die Bundeswehr mit diesen "beinahe normalen Waffen" ausgerüstet werden müsse. [3]
Ohne Worte ...
Fotos: © 2017 by Schattenblick
Zu den Unterzeichnern der Göttinger Erklärung gehörte der Nobelpreisträger und ehemalige DPG-Präsident Max von Laue (1879-1960). Erwartungsgemäß verbat sich der damalige Bundeskanzler die politische Einmischung. Doch eine Physik, die nicht die politischen Konsequenzen ihres Wissenschaffens im Blick behält oder es vermeidet, potentiell folgenschwere wissenschaftliche Falschdarstellungen zu korrigieren, wäre sicherlich am treffendsten als Herrschaftswissenschaft zu bezeichnen. Das galt vor 60 Jahren und gilt auch noch heute.
Jene von Heuer reklamierte Toleranz zeigte sich übrigens auf der Bremer Tagung nicht allein an den entspannten, wenngleich konstruktiven Kurzdebatten im Anschluß an die Vorträge, sondern auch darin, daß unter der Rubrik "Alternative Ansätze" sprichwörtlich über Gott und die Welt philosophiert werden durfte ... ohne daß die Ausführungen in jedem Fall auf die breite Zustimmung des Publikums gestoßen wären.
Als eine treffliche Begegnungsfläche, um mit Expertinnen und Experten ins persönliche Gespräch zu kommen und bei inhaltlichen Fragen gründlicher nachzufassen, erwiesen sich einmal mehr die Postersitzungen, die generell auf Tagungen und Kongressen welcher Wissenschaftsdisziplin auch immer präsentiert werden. Dort werden zu bestimmten Zeiten die jeweiligen Forschungsergebnisse in Form eines Plakats dargestellt und allen Interessierten erläutert. Eine Gelegenheit, die auch der Schattenblick, der die Frühjahrstagung der DPG in Bremen begleitet hat und mit weiteren Berichten und Interviews für seine Leserschaft aufbereiten wird, gerne ergriffen hat.
Der Große Attraktor - Quelle nie versiegender dunkler Materie ...
Foto: © 2017 by Schattenblick
Fußnoten:
[1] http://bremen17.dpg-tagungen.de/programm/pix/kurzprogramm-bremen.pdf
[2] http://www.uni-goettingen.de/de/54320.html
[3] http://www.pro-physik.de/details/articlePdf/1105211/issue.html
21. März 2017
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