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INTERVIEW/009: Die DPG stellt vor - unzureichend treibt voran ...    Prof. Dr. Claus Lämmerzahl im Gespräch (SB)


Die Grenzen der Physik ausloten

Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos (SMuK) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 13. - 17. März 2017 an der Universität Bremen

Prof. Dr. Lämmerzahl über die Suche nach einer widerspruchsfreien physikalischen Theorie, den Parabelwurf und warum es günstig ist, bei der Erforschung von Atomen "mitzufallen"


Als man vor rund 120 Jahren in Fachkreisen bereits vom Ende der Physik sprach, da das Newtonsche Weltbild scheinbar keine Geheimnisse mehr barg, betraten Theoretiker wie Planck, Einstein und Heisenberg die Bühne, und der Berufsstand des Physikers war gerettet. Licht, Atome und deren Struktur waren Objekte, deren Ausdeutung sich die Quantenmechanik vorgenommen hatte. Ebenfalls in den ersten Jahrzehnten des vorherigen Jahrhunderts entwarf Einstein die Relativitätstheorien zur Beschreibung von Licht und Masse in Raum und Zeit. Eine neue Ära der Physik brach an, und es wurden Theorien aufgestellt, die bis heute gültig sind - auch wenn zwei von ihnen nicht kompatibel sind, die Quantenfeldtheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie. An deren Vereinheitlichung wird noch immer intensiv gearbeitet, wie der Schattenblick auf der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) in Bremen (13. - 17. März 2017) erfuhr.

Fünf Tage lang mehrere hundert Vorträge, Postersitzungen und Tutorien zu organisieren, auf öffentlichen Veranstaltungen präsent zu sein und dann auch noch der Presse Rede und Antwort stehen, um nur einige der anstehenden Aufgaben zu nennen, ist sicherlich kein Job, um den der Physikprofessor Claus Lämmerzahl zu beneiden gewesen wäre. Er ist im Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen für die Fallturmexperimente verantwortlich und hatte die örtliche Organisationsleitung der Bremer Frühjahrstagung übernommen. Am zweiten Tag der Veranstaltung nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, Prof. Lämmerzahl einige Fragen zu stellen.


Hinter einem Rednerpult auf einem Podest stehend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Lämmerzahl beim abendlichen Treffen von Industrie und Instituten mit den Tagungsteilnehmenden
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): In der Grundlagenphysik wird angestrebt, die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie zu einer einheitlichen Quantengravitationstheorie zusammenzuführen, ist auf der Website Ihres Forschungsinstituts zu lesen. [1] Könnten Sie unserer Leserschaft erklären, warum die Wissenschaft das anstrebt?

Prof. Claus Lämmerzahl (CL): Aus folgendem Grund: Die Gravitation koppelt an alle Arten von Materie, es gibt nichts, was davon ausgenommen wäre. Das bedeutet, daß die Gravitation eine allumfassende Theorie ist. Die gesamte Materie ist aber letztendlich auch durch die Quantentheorie zu beschreiben; alle Objekte setzen sich aus Atomen und Quantenteilchen zusammen. Somit ist auch die Quantenmechnik eine allumfassende Theorie. Also: Nichts kann sich der Gravitation entziehen und nichts kann sich der quantentheoretischen Beschreibung entziehen. Trotzdem sind diese beiden Theorien, so wie wir sie bisher aufgestellt haben, nicht miteinander verträglich, zumindest nicht in einem gewissen Bereich. Und das verlangt nach einer neuen Theorie, die diese Nichtverträglichkeit ausmerzt und beide Theorien umfaßt. Das ist dann eine Quantengravitationstheorie.

SB: Tragen die Experimente am Bremer Fallturm zu dieser Forschung bei?

CL: Sie sind daran beteiligt, aber noch nicht an vorderster Front. Wir untersuchen Quantenteilchen, die mit der Gravitation wechselwirken. Wir sprechen da über die Atominterferometrie [2] oder Interferometrie mit Bose-Einstein-Kondensaten [3] im Gravitationsfeld. Insofern testen wir genau diesen Bereich aus. Allerdings ist das noch nicht der Bereich, in dem große Abweichungen zu erwarten sind. Wir wollen dazu weitere Experimente vorbereiten.

SB: Wenn die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie jeweils vollständig verstanden wären, müßte dann nicht das Problem, ob die Vereinheitlichung geht oder ob sie nicht geht, ganz schnell zu klären sein?

CL: Eine Theorie kann schon verstanden sein, ohne daß sie sozusagen letztendlich richtig ist. Die Newtonsche Theorie ist auch vollkommen verstanden, sie ist sogar besser verstanden als die Allgemeine Relativitätstheorie. Trotzdem wissen wir, daß sie nicht ausreicht, um alle Phänomene in der Welt zu beschreiben. Das Verständnis einer Theorie sagt noch nichts über ihren Anwendungsbereich und ihre Gültigkeit aus. Insofern ist es nicht der Punkt, ob wir die Allgemeine Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik vollständig verstanden haben, was dann zu der Lösung führen würde.

Natürlich ist es wichtig, bestimmte Aspekte der Allgemeinen Relativitätstheorie zu beleuchten, wo dann eventuell quantentheoretische Einflüsse eine Zusatzinformation liefern. Wir hatten gestern ein Symposium zur kosmischen Zensur [4]. Die ist auch eine der ungelösten Probleme und vielleicht kann die Quantengravitation zu seiner Lösung beitragen. Das wissen wir natürlich nicht. Es ist schon wichtig, die Struktur einer Theorie zu durchleuchten und nach gewissen, ich würde nicht von Mängeln sprechen, aber nach gewissen unverstandenen Aspekten zu durchforsten. In der Tat könnten sich darin Hinweise verbergen, an welchen Stellen man dann genauer nachschauen sollte, wie die vollständige Theorie auszusehen hat. Aber es sind verschiedene Dinge, ob man eine Theorie versteht oder ob man fragt, was sie für das Gesamtkonzept der Welt zu bedeuten hat.

SB: Im Bremer Fallturm, bei Parabelflügen und im Weltraum werden Experimentbedingungen der Schwerelosigkeit oder Mikrogravitation geschaffen bzw. genutzt, wie es sie natürlicherseits auf der Erde nicht gibt. Worin liegt der Vorteil einer solchen Entfernung von den allgemein erfahrbaren irdischen Verhältnissen?

CL: Viele Phänomen sehen anders aus, wenn keine Schwerkraft auf sie einwirkt. Sie wissen ja, wenn Sie sich ein Glas Wasser anschauen, dann wird der Wasserrand durch die Adhäsionskraft ein bißchen hochgezogen, und wenn sie es fallen lassen, dann spritzt das Wasser richtig hoch. Oder wenn Sie etwas durchmischen wollen, dann sackt normalerweise der schwerere Anteil ab. In der Schwerelosigkeit dagegen durchmischt sich das perfekt. So gibt es viele Phänomene, die unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit anders aussehen.

Es gibt auch praktische Aspekte bei der Atominterferometrie, über die ich vorhin sprach. Bei der Atominterferometrie skaliert die Phasenverschiebung mit dem Quadrat der Freifallzeit der Atome im Interferometer, und die Größe der Phasenverschiebung sagt auch etwas über die Präzision der Messung aus. Je größer die Phasenverschiebung ist, desto genauer kann ich sie ausmessen. Das heißt, man erhält um so präzisere Ergebnisse, je länger die Atome im freien Fall im Interferometer sind. Wenn ein Interferometer auf dem Tisch steht, dann ist das Atom nach einer Zehntel Sekunde auf den Tisch gefallen und damit nicht mehr interferenzfähig. Um die Fallzeit zu verlängern, muß man mit dem Atom mitfallen, und das geht eben nur im Fallturm, auf dem Parabelflieger oder im Weltraum. Nur dann kann man die vollen Möglichkeiten dieses Instruments ausschöpfen.

SB: Um im Fallturm die Experimentierzeit zu verlängern, wird eine Kapsel mit dem Experiment zunächst mit einem Katapult von unten nach oben geschossen. Spricht man auch dabei vom freien Fall?

CL: Ja.

SB: Obwohl das System nach oben beschleunigt?

CL: Das ist wie bei einem Stein, den ich hochwerfe. Während der Parabel befindet er sich im freien Fall. Das gilt auch für den Parabelflieger. Ab dem Zeitpunkt, an dem die Düsen aufhören zu schieben, befindet sich der Flieger im freien Fall, bis die Düsen wieder anfangen, Gas zu geben. Auch wenn ein Teilchen nach oben geht, befindet es sich immer noch im freien Fall. Das bedeutet nur, daß neben der Gravitationskraft keine andere Kraft auf das Teilchen wirkt.

SB: Bei den Experimenten im Bremer Fallturm wird von Schwerelosigkeit gesprochen, die simuliert wird. Aber wenn die Objekte fallen, wieso sollten sie dann keine Schwere haben?

CL: Das ist Umgangssprache. Sie haben natürlich eine schwere Masse und eine träge Masse, aber sie haben kein Gewicht. In dem Sinne haben sie dann keine Schwere mehr.

SB: Warum spricht man in der Physik dann nicht vom Fall, wenn sich diese Experimente in einer Kapsel befinden, die mit ihnen fällt? Der Fall ist immer noch da, das ist ja eine bestimmende Größe.

CL: Man spricht von einem freien Fall. In der Allgemeinen Relativitätstheorie ist der freie Fall der ausgezeichnete Bewegungszustand. Wir befinden uns nicht im freien Fall, wir sind sozusagen im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie keine "guten" Teilchen. Nur die Objekte, die auf den Geodäten im freien Fall fliegen, wie die Satelliten um die Erde, sind "gute" Teilchen. Die kann man ganz genau beschreiben. Deren Bahnen sind rein durch die Gravitation bestimmt. Wir werden nicht durch die Gravitation bestimmt, sondern durch die Kraft, die vom Boden auf uns ausgeübt wird, so daß wir auf der Erde stehen.

Wenn der Fallturm nicht evakuiert werden würde, enthielte er Luft, so daß beim Fall Reibung auftritt. Auch das wäre immer noch ein Fall, aber kein freier Fall. Durch die Luftreibung treten Restkräfte auf. Wenn Sie bei 160 Stundenkilometer die Hand aus dem Autofenster halten, wissen Sie, wie stark diese Kräfte sein können. Von daher ist es schon wichtig, den freien Fall zu erzeugen, nicht nur irgendeinen Fall.

SB: Sie haben die Organisationsleitung der gestern begonnenen Frühjahrstagung übernommen. Heute ist der offizielle Begrüßungsabend. Haben Sie schon Rückmeldungen erhalten, wie es bisher gelaufen ist? Und was sind Ihre eigenen Eindrücke?

CL: Es hat keine wilden Beschwerden gegeben, alles läuft so weit gut. Ich war sehr überrascht, daß bei meinem Fachverband, der relativ klein ist, und obwohl es Montagmorgen halb neun war, 60, 70 oder 80 Leute gekommen waren. Wir hatten eher mit zehn Leuten gerechnet, die es um diese Zeit aus dem Bett schaffen. Da war ich richtig platt und sehr, sehr positiv überrascht. Dann kamen sogar immer mehr Leute hinzu.

Das Industriegespräch gestern abend war vielleicht etwas wenig besucht. Obwohl natürlich die Industrie da war, Airbus und OHB sind nicht irgend jemand. Und mit Fritz Merkle war auch ein Vorstandsmitglied von OHB gekommen. Vielleicht wird dennoch ein bißchen die Bremer Stimmung in die Welt hinausgetragen, und irgendwann erinnert sich jemand daran und fragt bei OHB oder Airbus an, ob er einen Job erhalten kann. Viele von uns am ZARM, rund 80 Prozent der Absolventen, gehen in die Raumfahrtindustrie, entweder zu Airbus oder OHB.

Obwohl OHB ein Wirtschaftsunternehmen ist, ist es relativ akademisch ausgerichtet. Es ist auch hier auf diesem Campus ansässig, also direkt nebenan, und pflegt den Kontakt zur Universität. Das merkt man sehr gut und da kann man sich als Physiker, der an der Uni studiert hat, wohlfühlen. Obwohl die wirtschaftlichen Randbedingungen klar sind, glaube ich, herrscht dort für eine Industrie eine ganz angenehme Arbeitsatmosphäre.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Blick von unten in die 3 Meter durchmessende Fallröhre - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die einfache Fallzeit von 4,74 Sekunden wird mit Hilfe des im Boden eingebauten Katapults auf 9,3 Sekunden verlängert.
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.zarm.uni-bremen.de/de/forschung/weltraumwissenschaften.html

[2] Bei der Atominterferometrie werden die Welleneigenschaften ganzer Atome nachgewiesen. Dies geschieht nicht nur mittels mechanischer Strahlteiler, sondern auch mit Hilfe von Laserstrahlen. Das bedeutet, daß eine Materiewelle an einem Laserstrahl abgelenkt werden kann. (Quelle: http://christian.j.borde.free.fr/101-BlatterBL.pdf)

[3] Das ZARM schreibt in einer Meldung zum Projekt QUANTUS (Quantengase unter Schwerelosigkeit) zum Bose-Einstein-Kondensat: "Bei einem Bose-Einstein-Kondensat handelt es sich (...) um eine nahezu auf den absoluten Nullpunkt (-273,15 °C) abgekühlte Wolke von Atomen, die nicht mehr den Gesetzen der klassischen Physik gehorcht, sondern nur noch als quantenmechanische 'Materiewelle' beschrieben werden kann." (Quelle: https://www.zarm.uni-bremen.de/en/press/single-view/article/gigantisches-quantenobjekt-im-bremer-fallturm-german.html

[4] Die Hypothese von der "Kosmischen Zensur" besagt, daß, wann immer ein Körper (beispielsweise ein Stern) kollabiert und sich eine Singularität bildet, ein Schwarzes Loch entsteht. Die Singularität wäre dann hinter dem Horizont des Loches verborgen. (Quelle: http://www.einstein-online.info/lexikon/kosmische-zensur)


22. März 2017


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