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WERKSTOFFE/1063: Reibungsverluste ab der ersten Begegnung - Das Material verzeiht nichts (idw)


Karlsruher Institut für Technologie - 08.08.2018

Reibungsverluste ab der ersten Begegnung: Das Material verzeiht nichts


Verschleiß führt zu erheblichen wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Folgen. Alle beweglichen Teile sind davon betroffen, ob es sich um ein Lager in einer Windkraftanlage oder ein künstliches Hüftgelenk handelt. Bis heute ist jedoch weitgehend unklar, wie genau Verschleiß entsteht. Wissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) konnten nun belegen, dass der Effekt bereits bei der ersten Berührung auftritt und sich immer an einer ganz bestimmten Stelle im Material abspielt. Die Erkenntnisse sollen langfristig dazu dienen, Materialien zu verbessern, um Energie und Rohstoffe einzusparen. Ihre Ergebnisse stellen die Forscher jetzt im Magazin Scripta Materialia vor.

Wo Objekte aneinander haften, übereinander gleiten oder rollen, tritt Reibung auf. Die Reibungskräfte verursachen Verschleiß, und der kostet immense Summen. So werden etwa rund 30 Prozent der Energie im Transportsektor aufgewendet, um Reibung zu überwinden. In Deutschland kosten Reibung und Verschleiß rund 1,2 bis 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, im Jahr 2017 also zwischen 42,5 bis 55,5 Milliarden Euro. Während die Konsequenzen jedoch beim Reiben der Hände noch einfach zu verstehen sind - sie werden warm - reagieren Materialien deutlich komplizierter. "Hier verändert sich gleichzeitig vieles. Aber wie diese Veränderung genau beginnt, wo Verschleißpartikel wirklich entstehen und wie sich die Reibungsenergie auswirkt, ist bis heute weitgehend unverstanden, da wir bisher kaum direkt unter die Oberfläche der Reibpartner schauen konnten", so Professor Peter Gumbsch, Lehrstuhlinhaber für Werkstoffmechanik am KIT und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik. "Mit unseren neuen mikroskopischen Methoden gelingt uns das heute. Dann sieht man im Material eine scharfe Grenzfläche, und an dieser Grenze werden die Verschleißpartikel abgelöst. Die Frage ist, wo diese Schwächung im Material herkommt?" Tatsächlich fanden die Wissenschaftler bei ihren Experimenten immer eine scharfe Linie in 150 bis 200 Nanometer Materialtiefe. Sie entsteht schon nach dem ersten Kontakt und ist nicht umkehrbar. Damit ist bereits der Grundstein für die zukünftige Schwachstelle im Material gelegt. Die Wissenschaftler experimentierten mit verschiedenen Materialien, etwa Kupfer, verschiedenen Messinglegierungen, Nickel, Eisen oder Wolfram, immer mit dem gleichen Resultat. "Diese Ergebnisse sind völlig neu. Wir haben mit so etwas überhaupt nicht gerechnet", sagt Gumbsch. Die Erkenntnisse tragen dazu bei, Vorgänge, die sich bei der Reibung abspielen, auf einer molekularen Ebene grundlegend nachzuvollziehen. "Wenn wir die auftretenden Effekte verstehen, können wir gezielt eingreifen. Mein Ziel ist es, Richtlinien zu entwickeln, mit deren Hilfe man zukünftig Legierungen oder Materialien mit besseren Reibungseigenschaften herstellen kann", so Gumbsch.

Das Material macht eine Welle

Bei dem aufgetretenen Defekt im Material handelt es sich um sogenannte Versetzungen. Diese sind für plastische, also unumkehrbare Verformungen verantwortlich. Der Effekt entsteht, wenn sich Atome gegeneinander verschieben. Im Material entsteht dabei gewissermaßen eine atomare Welle ähnlich der Bewegung einer Schlange. "Wir haben festgestellt, dass sich diese Versetzungen während des Reibvorgangs selbst organisiert zu der beobachteten linienartigen Struktur zusammenfügen. Dieser Effekt ist bei jedem Versuch in gleicher Weise aufgetreten", erläutert Dr. Christian Greiner vom Institut für Angewandte Materialien - Computational Materials Science (IAM-CMS) des KIT.

Die Wissenschaftler verglichen den beobachteten Effekt mit der mechanischen Spannungsverteilung im Material, die sich analytisch berechnen lässt. Die Berechnungen bestätigten, dass sich bestimmte Versetzungstypen in einem Spannungsfeld mit einer Materialtiefe zwischen 100 und 200 Nanometer selbst organisieren.

Schnellere Oxidation durch Reibung

Zusätzlich zum erwähnten Effekt untersuchten die Wissenschaftler an Kupferproben, wie sich Reibung auf die Oxidation von Oberflächen auswirkt. Nach wenigen Reibungszyklen bildeten sich auf der Oberfläche Kupferoxidflecken, die mit der Zeit zu halbkreisförmigen nanokristallinen Kupferoxidclustern anwuchsen. Die etwa drei bis fünf Nanometer großen Kupfer-2-Oxid-Nanokristalle waren von einer amorphen Struktur umgeben und wuchsen immer mehr in das Material hinein, bis sie überlappten und eine geschlossene Oxidschicht bildeten. Dieses Phänomen, so Greiner, sei schon lange bekannt, aber auch hier sei noch nicht erforscht, wie es zu dem Effekt käme. "Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie durch Reibung verursachte Oxidation vonstattengeht. In materialwissenschaftlichen Untersuchungen ist Kupfer ein sehr häufiges Material. Aber auch als Ausgangsmaterial für bewegliche Teile spielt es eine wichtige Rolle", so Greiner. Viele Lager bestehen aus Kupferlegierungen wie Bronze oder Messing. Daher stoßen die Untersuchungsergebnisse in der kupferverarbeitenden Industrie auf großes Interesse.

Harte Kugel trifft auf weiches Kupfer

Der Versuchsansatz für beide Untersuchungen ist denkbar einfach: Eine Kugel aus Saphir wird dazu sehr sanft, langsam und kontrolliert in gerader Linie über ein Plättchen aus hochreinem Kupfer gezogen. Die Saphirkugel wurde gewählt, da sie einen immer gleichen, reproduzierbaren Kontaktpunkt garantiert und außerdem der Reibungseffekt auf die Kugel selbst wegen der Härte von Saphir vernachlässigbar ist. Nach jeder Überfahrung maßen die Forscher die entstandenen Verformungen und die dadurch hervorgerufenen strukturellen Veränderungen im Inneren der Metalle. In einem einzigartigen Ansatz koppelten sie dazu Reibexperimente mit Methoden der zerstörungsfreien Prüfung sowie mit Data-Science-Algorithmen und hochauflösender Elektronenmikroskopie.

Video zur Werkstoffforschung

In dem zehnminütigen Videoporträt "Werkstofftechnologie als Innovationstreiber" der Hector Fellow Academy zeigt Hector Fellow Peter Gumbsch und seine Forschungsteams, wie sie neue Materialen entwerfen und innovative Messmethoden erforschen, um zu verhindern, dass Werkstoffe versagen:
https://youtu.be/QuBHYwesVSQ

Originalpublikationen:
Christian Greiner, Zhilong Liu, Reinhard Schneider, Lars Pastewka, Peter Gumbsch:
The origin of surface microstructure evolution in sliding friction,
Scripta Materialia, 153 (2018), 63-67

Zhilong Liu, Christian Patzig, Susanne Selle, Thomas Höche, Peter Gumbsch, Christian Greiner:
Stages in the tribologically-induced oxidation of high-purity copper,
Scripta Materialia 153 (2018) 114-117

Abstracts:
www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1359646218302756
www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1359646218302902

Weitere Materialien:
Video "Werkstofftechnologie als Innovationstreiber - Neues aus der Materialforschung" der Hector Fellow Academy:
https://youtu.be/QuBHYwesVSQ


Als "Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft" schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 9 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 25 500 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Diese Presseinformation ist im Internet abrufbar unter:
http://www.sek.kit.edu/presse.php

Originalpublikation:
https://www.kit.edu/kit/pi_2018_096_reibungsverluste-ab-der-ersten-begegnung-das-material-verzeiht-nichts.php

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1173

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Karlsruher Institut für Technologie, 08.08.2018
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2018

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