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WERKSTOFFE/709: Eine Rutschbahn für jeden Tropfen (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2013

Eine Rutschbahn für jeden Tropfen

von Roland Wengenmayr



Nicht nur der lästigen Schmiere auf Fensterscheiben könnte die Forschung von Doris Vollmer und Hans-Jürgen Butt ein Ende setzen, sie ermöglicht auch selbstreinigende Solarzellen, die Licht besonders effizient sammeln, oder leistungsfähigere Herz-Lungen-Maschinen. Denn die Wissenschaftler entwickeln am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz Oberflächen, die extrem wasser- und blutabweisend sind.

Diese Lotusblätter habe ich extra frisch aus dem botanischen Garten besorgt", betont Doris Vollmer. Die Gruppenleiterin in der Abteilung von Hans-Jürgen Butt, Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, präsentiert stolz einen Strauß frischer, großer Blätter an langen Stängeln. Deren Oberflächen schimmern geheimnisvoll, und tatsächlich hat die Evolution sie besonders raffiniert gestaltet.

Periklis Papadopoulos, ein junger Postdoktorand aus Vollmers Team, nimmt ein Lotusblatt und lässt Wasser darauftropfen. Der Tropfen verharrt kurz in der kleinen Vertiefung in der Blattmitte, als sei er etwas unschlüssig. Dann gleitet er wie ein kugeliges Miniluftkissenboot vom Blatt herunter, ohne darauf eine nasse Spur zu hinterlassen. Schließlich landet er auf der Hose des griechischen Physikers. Der nasse Fleck auf dem Jeansstoff steht in einem eindrucksvollen Kontrast zum Lotusblatt. Das sieht so perfekt trocken aus, als wäre darauf nie ein Wassertropfen gelandet.

Mit dem Lotuseffekt hält die Pflanze aber ihre im Wasser schwimmenden Blätter nicht nur trocken - vor allem bleiben diese sauber. Das abperlende Wasser spült nämlich Schmutz mit sich fort, weshalb der Lotus in einigen Kulturen als Symbol für Reinheit gilt. So kann die Pflanze ein Maximum an Sonnenlicht einfangen. Und genau die Fähigkeit zur Selbstreinigung fasziniert Wissenschaftler, seit der deutsche Botaniker Wilhelm Barthlott in den 1970er-Jahren erstmals Lotusblätter mit einem Elektronenmikroskop untersuchte.


Ein Mikrowald macht Oberflächen superhydrophob

Inzwischen gibt es sogar erste Anwendungen des Lotuseffekts auf dem Markt. Doch so richtig durchsetzen konnten sie sich bislang nicht, weil sie noch zu viele Nachteile haben. Mit neuen Ideen hat Doris Vollmers Team nun dem lästigen Schmierfilm den Kampf angesagt. Zuverlässig selbstreinigende Autoscheiben, Fassadenglas und Solarzellen wären in der Tat ein großer Fortschritt.

Genau wie Lotusblätter würden Solarzellen so nicht mehr unter Lichtverlust durch Verschmutzung leiden.

Superhydrophob heißen extrem wasserabstoßende Flächen wissenschaftlich präzise. Eine noch größere Herausforderung aber sind superamphiphobe Oberflächen, lernt man bei Hans-Jürgen Butt, denn an ihnen können auch ölige Substanzen spurenlos abperlen. Erst diese zweite Eigenschaft macht sie auch zur perfekten Antischmierschicht. Für Anwendungen wie die Beschichtung von Solarzellen müssen sie allerdings auch durchsichtig sein, und die Transparenz ist eine echte Herausforderung.

Superhydrophobe oder superamphiphobe Oberflächen sind nicht etwa perfekt glatt, wie man vermuten könnte. Ganz im Gegenteil: Mikroskopaufnahmen von Lotusblättern offenbaren einen komplexen Mikrowald aus baumartigen Erhebungen, die grob zehn Mikrometer (tausendstel Millimeter) breit und hoch sind. Bei noch stärkerer Vergrößerung sieht man, dass sie von feinen Stäbchen bedeckt sind, die einen Durchmesser von wenigen Dutzend Nanometern (millionstel Millimeter) haben und einige Hundert Nanometer lang sind. Vollmer deutet auf sie und sagt: "Die sind wichtig, damit die Oberfläche der Lotusblätter wirklich superhydrophob wird."


Kerzenruss als Vorform der superamphiphoben Schicht

Die Lotuspflanze hat das Abperlen von Wasser seit vielen Jahrtausenden perfektioniert. Seit Mitte der 1990er-Jahre gelingt es der Forschung, den Lotuseffekt mit künstlichen Mikro- und Nanostrukturen immer besser zu imitieren. Doris Vollmer führt auf dem Rechner eine ganze Sammlung an winzigen Säulen, himbeerartigen Mikrokugeln mit Nanonoppen und anderen Strukturen aus dem Mainzer Labor vor, die alle sehr gut Wasser abperlen lassen können.

Schwierig wird es, wenn diese Oberflächen zusätzlich Öl, Blut oder Seifenlösungen abweisen sollen, denn diese Flüssigkeiten können viele Materialien benetzen. "Bis vor wenigen Jahren war unklar, ob superamphiphobe Oberflächen überhaupt möglich sind", erklärt Vollmer. Erst 2007 gelang amerikanischen Forschern ein Durchbruch mit pilzartigen Mikrostrukturen. Inzwischen hat die Mainzer Physikerin, die im Laufe ihrer wissenschaftlichen Karriere eine habilitierte Chemikerin wurde, mit ihrem Team die Entwicklung superamphiphober Materialien vorangetrieben.

Oberflächen, die sogar besonders dünnflüssige Öle nicht benetzen können, sind wissenschaftlich ziemlich anspruchsvoll. Umso verblüffender ist das einfache Herstellungsverfahren, das die Mainzer dafür gefunden haben. Und gerade diese Einfachheit könnte völlig neue technische Anwendungen hervorbringen. Hans-Jürgen Butt arbeitet zum Beispiel an einer selbstreinigenden Membran, die in Herz-Lungen-Maschinen das Blut von Patienten viel effizienter mit Sauerstoff anreichern könnte als heutige Geräte. Doch davon später, zuerst geht es ins Labor.

Dort führt Periklis Papadopoulos vor, wie erstaunlich simpel das Mainzer Rezept für superamphiphobe Beschichtungen funktioniert. Das gilt zumindest für den ersten Schritt, den man zu Hause problemlos nachmachen kann. Der Physiker nimmt ein dünnes Glasscheibchen und eine Kerze. Nachdem er diese entzündet hat, hält er das Glas darüber. Schnell schwärzt es sich mit Kerzenruß. Und diese Rußschicht hat es in sich.

Unter dem Mikroskop zeigt sie sich als ein Konglomerat winziger, erstaunlich gleichmäßig großer Rußkügelchen, die ziemlich ungeordnet aufeinander abgelagert sind. Allerdings ist diese Schicht noch pechschwarz und lässt sich leicht abwischen. Bis zur transparenten und abriebfesteren Beschichtung sind weitere Schritte nötig. Diese funktionieren allerdings nur in einem gut ausgestatteten Labor und erfordern experimentelles Geschick.

Die schwammartige Struktur aus Rußkügelchen liefert nur die Vorform - das ist der Trick. Auf den Ruß dampfen die Mainzer jetzt eine flüchtige, organische Siliciumverbindung auf, außerdem erfordert das Rezept eine Prise Ammoniak. Beide Substanzen reagieren auf der Oberfläche der Rußteilchen chemisch zu Siliciumdioxid, also schlicht Glas. Nach und nach werden die Rußkügelchen so von einer dünnen, porösen Glasschicht ummantelt. Die fertig verglaste Struktur erhitzen die Forscher auf 500 Grad Celsius und brennen so den Ruß, der ja im Wesentlichen aus Kohlenstoff besteht, mit Sauerstoff heraus.

Am Schluss bleiben hohle Glaskügelchen übrig - sozusagen farblose, zusammengeklebte Nanochristbaumkugeln. Mit einem Durchmesser von etwa sechzig Nanometern sind sie etwa so klein wie viele Viren. Nun ist die schwammartige Glasschicht durchsichtig. Wie der Blick durch ein Mikroskop zeigt, finden sich in dem Schwamm aus Glaskügelchen Überhänge. Diese sind notwendig, damit eine Oberfläche Wasser und Öl abweist. Damit Öltröpfchen sie garantiert nicht benetzen können, dampfen die Max-Planck-Wissenschaftler am Schluss noch eine fluorhaltige Siliciumverbindung auf. "Die Oberfläche stößt Öl dann besser ab als eine Teflonpfanne", erklärt Periklis Papadopoulos.


Der Ritt der Tröpfchen über Nanostoppelfelder

Der Postdoktorand zeigt Glasplättchen mit der fertigen superamphiphoben Glasbeschichtung. Etwas milchig sehen sie noch aus. "Die Transparenz verbessern wir gerade", sagt der Physiker. Er lässt etwas Wasser darauftropfen, das schon bei geringer Neigung des Plättchens wie auf einer perfekten Rutschbahn abperlt. Das ist der Lotuseffekt. Doch noch viel beeindruckender, zumindest für Kenner, ist die Demonstration mit Hexadecan. Dieses dünnflüssige Öl ist zum Beispiel Bestandteil von Heiz- und Schmierölen. Sogar das Hexadecan rollt spurlos ab. Vor wenigen Jahren hätten viele Experten das kaum für möglich gehalten.

Der zarte Glaskugelschwamm ist noch recht empfindlich. Immerhin funktioniert er sogar noch, nachdem eine Weile Sand aus dreißig Zentimetern Höhe daraufgerieselt ist. "Dann sind zwar die oberen Partikel weg, aber wegen der Dicke der Schicht sitzen noch genug auf der Oberfläche", erklärt Papadopoulos. Die Mainzer Gruppe arbeitet gerade an einem verbesserten Verfahren, das die Glaskügelchen miteinander verbäckt und die Beschichtung abriebfester macht.

Aber warum weisen solche Mikrolandschaften Wasser- oder Öltropfen so perfekt ab? Am Computer führen Vollmer und Papadopoulos in starker Vergrößerung vor, was mit den Flüssigkeitstropfen passiert. Die Mainzer setzen dazu ein besonders hochauflösendes Mikroskop ein, das mit einem sehr feinen Laserstrahl die Tröpfchen auf den Oberflächen abrastert. So ein Gerät heißt Konfokalmikroskop, es liefert den Forschern eine komplette dreidimensionale Information über den Ritt der winzigen Tröpfchen über Mikrowälder und Nanostoppelfelder.

Entscheidend ist dabei, dass die Tröpfchen oben auf den mikroskopischen Säulen, Noppen oder Kugeln aufliegen. Solange sie keinen Kontakt mit der eigentlichen Oberfläche am Boden dieser Strukturen bekommen und diese benetzen können, perlen sie leicht ab. Der Eindruck, dass sich der Tropfen auf dem Lotusblatt wie ein kleines Luftkissenboot bewegt, war nicht falsch. Auf den Mikroskopaufnahmen erinnern die Tropfen auf den superhydrophoben Mikrostrukturen an kleine, kugelige Fakire, die auf Nagelbrettern kauern. Tatsächlich heißt dieses Aufsitzen auf den äußersten Spitzen Fakir- oder auch Cassie-Zustand, weil der Brite A. B. D. Cassie ihn 1944 erstmals wissenschaftlich beschrieben hat. Unter dem Tropfen befindet sich hauptsächlich Luft, und so perlt er leicht von der Oberfläche ab.

Eines wünscht man keinem Fakir: dass er in sein Nagelbrett hineinsackt. Ihre winzigen Wassertropfen bringen die Mainzer jedoch dazu, durch den Mikrowald hindurchzurutschen - und beobachten sie dabei. Dann bricht die Superhydrophobizität zusammen. Was dabei auf mikroskopischer Ebene genau geschieht, war bislang unbekannt. Um dahinterzukommen, setzten die Max-Planck-Forscher Tröpfchen von wenigen Hundert Mikrometer Durchmesser auf ein Raster feiner Kunststoffsäulen, das sie eigens zu diesem Zweck hergestellt haben: Die Säulen waren zum Beispiel zehn Mikrometer dick und 23 Mikrometer hoch - also etwas untersetzt gestaltet. Solange der Tropfen nur auf ihren oberen Kreisflächen auflag, verhielt sich die dachfreie Mikrosäulenhalle superhydrophob.

Nun ließen die Forscher das Tröpfchen und damit seine Auflagefläche auf dem Säulenraster schrumpfen. Dazu trockneten sie es einfach langsam aus. Im Video - von unten durch den transparenten Boden der Mikrosäulenhalle aufgenommen - sieht man, wie die Kontaktfläche des Tropfens schrumpft. Am zurückgehenden Rand versucht das Wasser, die Säulen oben möglichst lange zu benetzen. Mit immer länger gezogenen Ausstülpungen klammert sich der Tropfen an die Säulen, bevor er sie freigeben muss. Schließlich reißen diese Wasserfäden ab, und ganz plötzlich wird der Tropfen zu einem dunklen Fleck. In diesem Moment reicht die Fläche der Säulenspitzen nicht mehr aus, um ihn oben zu halten. Er sackt auf den Boden durch.


Eine Anwendung ist in der Blutwäsche möglich

Wie der seitliche Blick zeigt, hängt die Unterseite eines Wassertropfens zwischen der sinkenden Zahl von Säulen, die den schrumpfenden Tropfen oben halten, vorher immer stärker durch. "Das ist so, als würde jemand in einer Hängematte liegen und immer schwerer werden", kommentiert Doris Vollmer die Bilder. Ihre Gruppe hat anhand dieser hochauflösenden Aufnahmen aufgedeckt, dass Cassies ursprüngliches Modell in einigen Details korrigiert werden muss.

"Anders als bei der Hängematte ist es aber nicht die Schwerkraft, die den Tropfen einsinken lässt, sondern der sogenannte innere Kapillardruck", sagt Hans-Jürgen Butt. Der Kapillardruck führt dazu, dass sich der Tropfen auch auf der Unterseite abrundet. Das kann er nur, wenn er zwischen den Säulen eindringt. "Der Kapillardruck wächst, wenn der Tropfen schrumpft, dabei steigt die Krümmung seiner Oberfläche, und der Effekt der Oberflächenspannung wird immer größer", erläutert der Max-Planck-Direktor. Diese Beobachtung bestätigen auch Computersimulationen der Gruppe von Stephan Herminghaus, Direktor am Max-Planck-Institut für komplexe Systeme in Göttingen.

Sobald sich der Tropfen auf dem Boden der Mikrosäulenhalle ausbreitet und der superwasserabweisende Zustand zusammengebrochen ist, befindet er sich in einem Zustand, der nach Norbert Wenzel benannt ist. Der deutsche Wissenschaftler hat 1936 erstmal beschrieben, wie ein Tropfen grundsätzlich eine raue Oberfläche benetzt.

Die Experimente der Mainzer Forscher zeigen mithin, unter welchen Bedingungen ein Tropfen durch eine poröse Oberflächenstruktur hindurchsackt. Demnach hängt dies zum einen davon ab, in welchem Verhältnis die Tropfengröße zur Feinheit der Oberflächenstruktur und zur Größe der Poren steht. Zum anderen entscheidet darüber, wie sich Flüssigkeit und Oberfläche gegenseitig chemisch anziehen oder abstoßen. Deshalb sorgt die fluoridierte Beschichtung bei der superamphiphoben Struktur für eine zusätzliche Abstoßung der Öltröpfchen. Diesen vergeht dadurch sozusagen die Lust, sich so richtig auf der ihnen unsympathischen Oberfläche niederzulassen.

Nach diesem Ausflug in die Theorie des Kontakts zwischen Tropfen und Oberflächen geht es im Gespräch mit Hans-Jürgen Butt um mögliche Anwendungen. Der Physiker kam im Lauf seiner akademischen Karriere von der Biophysik zur Physik und Chemie von Oberflächen. Entsprechend unkonventionell denkt er über Einsatzmöglichkeiten der neuen superamphiphoben Oberflächenstruktur nach. "Meine erste Idee waren künstliche Kiemen", sagt er, "und da lag dann die Blutwäsche nahe." In beiden Fällen hat eine Flüssigkeit, das Blut, über eine Membran Kontakt mit einer anderen Flüssigkeit. Bei Kiemen ist es das sauerstoffhaltige Wasser, bei der Dialyse von Nierenpatienten ist es die Dialyselösung.

Von dort war der gedankliche Sprung nur kurz bis zum Gasaustausch zwischen Blut und Luft, wie er in Lungen geschieht. Oberflächentechnisch gesehen, stellt ein intensiver Kontakt zwischen einer Flüssigkeit und einem Gas eine gewisse Herausforderung dar, wenn die Flüssigkeit in einem Behältnis eingesperrt bleiben soll. Das ist beim Blut, das mit Lungenbläschen in Kontakt kommt, der Fall. Künstliche Lungen sind tatsächlich schon länger in Herz-Lungen-Maschinen etabliert, wie sie im Operationssaal eingesetzt werden. In modernen Geräten sorgen Kunststoffmembranen mit winzigen Poren dafür, dass Sauerstoff ins Blut gelangt und Kohlendioxid aus ihm entfernt wird.

Die herkömmlichen Membranen haben allerdings Nachteile. Einer besteht darin, dass die Flüssigkeit in die Membranporen eindringen kann, folglich die Membran benetzt. So schrumpft die Grenzfläche zwischen Flüssigkeit und Luft, weshalb an ihr weniger Gas ausgetauscht wird. Deshalb sind künstliche Lungen auch erheblich weniger leistungsfähig als unsere echten Lungen. Hinzu kommt, dass Blut ein ganz besonderer Saft ist, wie Johann Wolfgang von Goethe seinen Mephisto bemerken ließ. Die für die Gerinnung zuständigen Blutplättchen zum Beispiel drohen die Poren zu verschließen. Es können sich Verklumpungen bilden, die sich lösen und Adern des Patienten verstopfen.


Die völlig neuartige Membran war eine Idee des Teams

Die Mainzer Forscher überlegten, wie sich die Membranen mithilfe ihrer superamphiphoben Strukturen verbessern lassen könnten. "Mir ist es sehr wichtig, eine kreative Diskussionsatmosphäre zu schaffen", betont Hans-Jürgen Butt. So entstand im Team die Idee, eine völlig neuartige Membran zu entwickeln. Als Grundgerüst dient ein extrem feines Gittergewebe aus rostfreiem Stahldraht. Etwa dreißig Mikrometer dünn sind diese Drähte - ein menschliches Kopfhaar ist grob dreimal so dick.


Herz-Lungen-Maschinen für Frühgeborene

Ähnlich winzig sind die Öffnungen in dem Stahlnetz, das die Mainzer nun von beiden Seiten mit der superamphiphoben Glaskügelchenschicht versehen. Das sorgt für die entscheidende Eigenschaft der neuen Membran: Das Blut kann sie nicht mehr benetzen. Es bleibt auf seiner Seite, und die Luft kommt durch die Membranporen nahezu ungehindert an es heran. Umgekehrt kann das Blut das Kohlendioxid sehr effizient abgeben.

Die Mainzer stießen allerdings auf eine Schwierigkeit: Wie lässt man sich selbst zur Ader, wenn man keine medizinische Ausbildung hat? "Zum Glück ist der Mann meiner Kollegin Katharina Landfester Transplantationsmediziner, und er hat uns immer wieder eigenes Blut gespendet", sagt Butt, "uns genügen ja einige Milliliter." Im Labor funktioniert die Membran schon sehr gut. "Sie ist effizient", sagt Butt, "noch wichtiger ist es, dass vom Blut nichts daran hängen bleibt."

Die im Labor hergestellten Membranstücke sind noch klein, aber im Prinzip lassen sie sich leicht viel größer herstellen. Noch ist der Weg von der reinen Grundlagenforschung der Mainzer zur medizinischen Anwendung weit. "Dazu sind dann auch umfangreiche klinische Tests notwendig", sagt der Max-Planck-Direktor. Butt ist aber skeptisch, dass die neue Membrantechnik die etablierten Herz-Lungen-Maschinen für erwachsene Patienten verdrängen kann. Dank ihrer viel besseren Eigenschaften könnte sie aber sehr kleine Patienten retten, die nur wenig Blut haben. "Für Frühgeborene wären solche Herz-Lungen-Maschinen viel besser", sagt der Wissenschaftler.

Hans-Jürgen Butt denkt auch über ganz andere Anwendungsfelder nach. Im Prinzip könnten ähnliche Membranen in Zukunft auch effizient Kohlendioxid aus Kraftwerkabgasen abtrennen und so zum Klimaschutz beitragen. "Der Gasaustausch ist sicher das potenziell größte Anwendungsgebiet", sagt Butt. Doch auch die Idee künstlicher Kiemen findet er nach wie vor "lustig". Vielleicht hat die Mainzer Forschung eines Tages zur Folge, dass uns auch unter Wasser nicht mehr die Luft ausgeht.

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Auf den Punkt gebracht

• Superhydrophobe Oberflächen wie etwa Lotusblätter werden von Wasser nicht benetzt; superamphiphobe Oberflächen weisen Wasser, Öl, Blut und Seifenlösungen ab.

• Eine poröse Struktur aus miteinander verbundenen Glaskügelchen, die mithilfe von Kerzenruß erzeugt wird, besitzt superamphiphobe Eigenschaften, weil sie mikroskopische Überhänge aufweist. Diese halten den Tropfen in einem metastabilen Zustand und verhindern, dass er in die Struktur eindringt.

• Ob ein Tropfen eine Oberfläche benetzt, hängt einerseits davon ab, ob sich die Flüssigkeit und das Material der Oberfläche chemisch anziehen oder abstoßen. Andererseits ist dafür das Verhältnis von der Feinheit der Oberflächenstruktur und der Poren zur Tropfengröße entscheidend. Wenn die Struktur zu grob oder der Tropfen zu klein wird, bewirkt der Kapillardruck im Tropfen, dass dieser durch die Struktur hindurchsackt.

• Superamphiphobe Schichten könnten als Membran in Herz-Lungen-Maschinen oder für die Reinigung von Abgasen Verwendung finden.


GLOSSAR

Kapillardruck: Innerhalb eines Tropfens herrscht durch die Oberflächenspannung ein erhöhter Druck, ähnlich wie bei einem Luftballon. Diesen Druck nennt man Kapillardruck. Er ist notwendig, um die Krümmung der Oberfläche aufrechtzuerhalten.

Oberflächenspannung: Die Kräfte zwischen den Teilchen einer Flüssigkeit bewirken, dass eine Flüssigkeit versucht, ihre Oberfläche zu minimieren. Deshalb bildet Wasser Tropfen, und zwar auch auf wasserabweisenden Oberflächen, nicht aber auf wasseranziehenden.


Der Artikel mit Abbildungen ist im PDF-Format zu finden unter:
http://www.mpg.de/7540945/W004_Material-Technik_064-071.pdf

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2013, Seite 64-70
Herausgeber: Wissenschafts- und Unternehmenskommunikation der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2013