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WERKSTOFFE/901: Das Fließverhalten im Nanometerbereich - was Tropfen stoppt und Nanobläschen am Leben erhält (idw)


Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme - 12.04.2016

Das Fließverhalten im Nanometerbereich: was Tropfen stoppt und Nanobläschen am Leben erhält


Dieses Bild kennt jeder: ein Regentropfen fließt über die Fensterscheibe. An einer bestimmten Stelle stoppt er seinen Lauf, ein zweiter Regentropfen rinnt hinzu und gemeinsam vereint fließen beide die Scheibe weiter hinab. Kleinste Unebenheiten oder Verschmutzungen auf der Fensterscheibe scheinen den Lauf der Regentropfen aufzuhalten. Wäre die Oberfläche vollkommen eben und chemisch rein, dann würden Regentropfen ungehindert fließen können. Oberflächendefekte, wie kleine Erhebungen, Vertiefungen oder auch chemische Verunreinigungen halten den Flüssigkeitstropfen auf. Dies sind Phänomene aus dem Alltag, die jeder kennt und mit bloßem Auge beobachten kann.


© Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Stuttgart

Das theoretische Modell in bildlicher Darstellung: eine Flüssigkeitsfront schiebt sich über eine Verunreinigung (oben) oder eine Erhebung (unten).
© Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Stuttgart


Der Trend in Wissenschaft und Technik geht jedoch seit Jahren zu immer feiner strukturierten Festkörperoberflächen, die für vielfältige Anwendungen genutzt werden können. Typische Strukturabmessungen liegen hierbei im Mikro- oder sogar im Nanometerbereich (ein Nanometer ist ein millionstel Millimeter).

Wie wird nun aber das Fließverhalten eines Tropfens durch derart feine Oberflächenstrukturen beeinflusst, oder wie wird der Transport von winzigen Flüssigkeitsmengen auf extrem schmalen Bahnen durch darauf befindliche winzige Oberflächendefekte behindert? Die fraglichen Oberflächendefekte sind dann nicht mehr viel größer als die Moleküle oder Atome, welche die Flüssigkeit oder die Festkörperoberfläche aufbauen. Mit dem Auge lässt sich der Einfluss derart kleiner Oberflächendefekte auf den Flüssigkeitstransport nicht mehr studieren. Selbst mit modernsten experimentellen Methoden ist es derzeit nicht möglich, den Flüssigkeitstransport über derart kleine Oberflächendefekte zu beobachten und zu untersuchen. Theoretische Methoden und Modellrechnungen überwinden diese Herausforderungen.

Die Forschungsabteilung "Theorie inhomogener kondensierter Materie", unter Leitung von Prof. Dr. Siegfried Dietrich am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart, hat ein Modell entwickelt und numerisch analysiert, welches die auf der Nanometerskala relevante molekulare Struktur einbezieht. Mit diesem theoretischen Modell kann der Widerstand, den wenige Nanometer kleine Unebenheiten oder Verunreinigungen dem Flüssigkeitstransport entgegensetzen, berechnet werden.

Die Ergebnisse veröffentlichten Dr. Alberto Giacomello und Dr. Lothar Schimmele gemeinsam mit Professor Dr. Siegfried Dietrich kürzlich in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).

In dieser international angesehenen, multidisziplinären Zeitschrift werden nur Arbeiten von außerordentlicher wissenschaftlicher Bedeutung publiziert. Außerdem müssen diese von übergreifendem Interesse auch für weitere Fachgruppen sein, wie in diesem Fall z.B. für Wissenschaftler aus den Bereichen Mikrofluidik, Nanostrukturphysik oder Oberflächenchemie.

Das Computerprogramm hierfür hat Lothar Schimmele über mehrere Jahre hinweg entwickelt. Alberto Giacomello hat es anlässlich dieser Arbeit zusätzlich mit einem neuartigen Algorithmus kombiniert. Das Programm ermöglicht zu berechnen, wie sich Flüssigkeiten unter dem Einfluss äußerer Kräfte, die z.B. durch begrenzende Wände entstehen, verhalten. Für die nun vorgestellten Untersuchungen haben Alberto Giacomello und Lothar Schimmele ein einfaches Modell gewählt: zwei ebene Wände, die parallel zueinander stehen und einen Kanal von wenigen Nanometern Durchmesser bilden. Auf der unteren Wand dieses engen Kanals trifft die Flüssigkeit auf ein Hindernis, wie z.B. eine Verschmutzung oder eine Unebenheit. Die an diesem einfachen System gewonnenen Ergebnisse lassen sich dann mit Hilfe theoretischer Überlegungen auf andere Geometrien übertragen.

"Bisher ist die Fachwelt davon ausgegangen, dass ein Hindernis, das kleiner als ein Nanometer ist, zu schwach sei, um eine Flüssigkeit aufzuhalten. Dies konnten wir mit unseren Berechnungen widerlegen", erklärt Dr. Lothar Schimmele.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können auch zur Erklärung eines weiteren Phänomens herangezogen werden. Winzige Gasbläschen, die sich z.B. bei der Katalyse oder Elektrolyse an Oberflächen bilden, haben oft eine unerwartet lange Lebensdauer. Diese Gasbläschen verringern jedoch die Effektivität von Elektrolyseprozessen und stören diese.

Die Verankerung eines Gasbläschen an der Oberfläche verhindert das beständige Anwachsen des Drucks im Bläschen, wodurch es stabilisiert wird. Die Ergebnisse der Forschungsgruppe Dietrich können die Verankerung erklären: Unebenheiten auf der Oberfläche, die nur wenige Nanometer klein sind, sind hierfür verantwortlich.

Auch für weitere praktische Anwendungen können die in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse von Bedeutung sein. Hier ist zum Beispiel die Nutzung von Flüssigkeitsbrücken für den künstlichen Zusammenbau von Nanostrukturen zu erwähnen. Mit Hilfe dieser Brücken werden Nanoteilchen positioniert und orientiert. Auch hier spielt die Verankerung an Unebenheiten eine wichtige Rolle.

Die Wissenschaftler haben sich bereits weitere Ziele gesteckt: sie wollen unterschiedliche Unebenheiten auf Oberflächen untersuchen, um herauszufinden welchen Einfluss die jeweilige Materialzusammensetzung oder geometrische Form einer Nanometer kleinen Unebenheit auf das Aufhalten eines Flüssigkeitstropfens hat.

Die Forscher interessieren sich auch für kollektive Phänomene. "Als nächstes wollen wir untersuchen, welchen Einfluss mehrere Defekte haben, die als Gruppe nahe beieinander liegen. Außerdem interessiert uns, wie sich das Fließverhalten von Flüssigkeiten bei Hindernissen verhält, die durch Vertiefungen auf Oberflächen entstehen, anstelle von den bisher untersuchten Erhebungen", erklärt Dr. Lothar Schimmele.


Weitere Informationen unter:
http://www.is.mpg.de/de/dietrich

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1801

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Annette Stumpf, 12.04.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2016

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