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SCHAMANE/001: Galsan Tschinag - Dichter, Häuptling und Schamane (SB)



Wer etwas über Schamanen erfahren will, ist bei Galsan Tschinag an einer denkbar schlechten Adresse. Dieses harsche Urteil mag erstaunen, wirbt der bekannte mongolische Autor doch bei seinen Fernsehauftritten und auf seinen Vortragsreisen damit, daß er als "Dichter, Häuptling und Schamane", so seine Ankündigung auf dem Titel der Septemberausgabe des Hamburger Veranstaltungsmagazins Körper, Geist & Seele, auch auf dem Feuer mystischer Ermächtigung koche. Dies kann er mit um so größerer Überzeugungskraft tun, als daß er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dem im Altai-Gebirge lebenden Volk der Tuwa durchaus die Verbindung zu einer genuinen Tradition des Schamanismus halten könnte, die die Praxis, die diesem als zugkräftiges Etikett durch Heiler in aller Welt seinem ursprünglichen, keineswegs nur therapeutischen Kontext entlehnten Begriff zugrunde liegen soll, in ihrer Urtümlichkeit bewahrte.

Galsan Tschinag wirkt bei aller bekundeten Verwurzelung in seiner tuwinischen Herkunft und der Hinwendung zu den animistischen Praktiken seines Volkes wie ein postmoderner Wanderer zwischen den Welten, der den bunten Reigen sozialer Kostümierungen nicht nur als performatives Mittel einsetzt, sondern zur versierten Überlebenskunst entwickelt hat. Das jedenfalls war der bleibende Eindruck, den Tschinag bei einem Vortrag, den er am 22. September 2006 im Hamburger Völkerkundemuseum zum Thema "Heilen durch Worte" hielt, bei den dort anwesenden Mitarbeitern des Schattenblicks hinterließ.

In einem mit rund 200 überwiegend weiblichen Zuhörern gut gefüllten Saal nahm sich Galsan Tschinag vor Beginn des Abends Zeit, Bücher zu signieren und mit einigen Personen kurze, aber offensichtlich intensive Gespräche zu führen. Der mit roter Samtdecke drapierte und einer großen Klangschale dekorierte Tisch hinderte ihn nicht daran, mit den Händen körperlichen Kontakt zu den Menschen aufzunehmen, die, wie sich später herausstellen sollte, auch um Rat in schwierigen Lebenslagen nachsuchten. Das Publikum schien zum einen aus Lesern seiner Bücher und zum andern aus Menschen, die sich Heilung erhofften, kurzum aus Personen, denen der kleine, in eine chinesische Seidenjacke gewandete Herr bereits bekannt war, zu bestehen.

Die offizielle Ankündigung Galsan Tschinags wurde von Jürgen Lipp, Chef des im Hamburger Univiertel gelegenen esoterischen Buchladens Wrage, der sich in langjähriger Arbeit zum logistischen Zentrum der spirituellen Szene der Hansestadt entwickelt hat, mit professioneller Herzlichkeit gemeistert. Es sei ja bekannt, daß Galsan Tschinag bei seinem Stamm im Altai- Gebirge lebe, in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator arbeite und im Westen Geld verdiene, so Lipp mit scherzhaftem Unterton. Dennoch sei er sich sicher, daß Tschinag auch durch die Liebe zu seinen Zuhörern motiviert werde, hier heute abend anwesend zu sein, so Lipp, der damit beim laut lachenden und applaudierenden Publikum ins Schwarze getroffen hatte.

Weitergehende Ausführungen zum problematischen Verhältnis von kommerzieller Praxis und idealistischem Anspruch des Heilens wären sicherlich kontraindiziert gewesen, säte man bei einer vom Wert einer Dienstleistung erst durch ihren hohen Preis überzeugten Kundschaft doch nur Mißtrauen, wenn man aus reiner Menschenliebe für den andern da wäre. Nichts könnte auf dem Markt spiritueller Sinnsuche, esoterischer Verheißungen und therapeutischer Angebote mehr irritieren als das Auftreten eines Lehrers, Heilers oder eben Schamanen, dem es um so mehr um die Sache ginge, als er sie unter keinen Umständen zur Ware machte, sondern den Warencharakter des Versprechens auf Heilung und Liebe als unvereinbar mit menschlichem Kontakt verwürfe.

Galsan Tschinag jedenfalls weiß, was er seinem Publikum für 18 Euro Abendkasse schuldig ist, und er macht seine Arbeit gut. Dabei kommt ihm entgegen, daß sich sein Aufgabenfeld nicht auf animistische Heilpraktiken oder zauberische Interventionen beschränkt, sondern er zugleich Häuptling eines Stammes der Tuwa und vor allem renommierter Erzähler und Dichter ist. Seine Werke umfassen Romane, die meist in seiner Heimat im Altai-Gebirge spielen, Gedichte und autobiografische Erzählungen. Als Träger des Bundesverdienstkreuzes und Adelbert-von-Chamisso-Preises mangelt es dem Autoren Tschinag nicht an künstlerischer Anerkennung, und so war auch der größte Teil seines Vortrags den Voraussetzungen und Ergebnissen seiner schriftstellerischen Arbeit gewidmet.

Da die Verwurzelung in einer archaischen zentralasiatischen Tradition und Stammeskultur tragendes Element seiner literarischen Produktion ist, liegt es nahe, stets das eine mit dem andern zu kombinieren, das heißt niemals nur Dichter, Häuptling oder Schamane zu sein. Tschinags Kunstgriff besteht darin, alles mit allem so zu verweben, daß das biografische Element, die literarische Ausgestaltung und die heilerische Profession ein fazettenreiches Ensemble persönlicher Vervollkommnung entstehen lassen, mit dem sich hervorragend der jeweiligen Erfordernis gemäß mal ausweichend, mal direkt, mal selbstironisch kokett, mal tief berührt manövrieren läßt. Wie schon bei seinen diversen Fernsehauftritten zu beobachten, bei denen er als exotischer Paradiesvogel aus den entlegenen Weiten Zentralasiens Talkshowmoderatorinnen entzückt, im Habit des seriösen Autoren mit Literaturredakteuren fachsimpelt oder als schamanischer Heiler selbst so routinierte Experten für aufs Publikum übergreifende Empathie wie Jürgen Fliege zu Tränen rührt, beherrscht Tschinag das Metier des fliegenden Wechsels der Identitäten nicht nur, er hat es zur Basis seines Erfolgs erhoben.

Dabei wird nie so tief geschöpft, daß man an Fragen gelangte, die über den Horizont unterhaltsamer Geschichten und emotionaler Agitation hinausführten. So sprach Tschinag bei seinem Vortrag zwar über die materiellen Nöte seines Volkes, das "jeden Tag neu ums Überleben" kämpfe und aufgrund der harten Lebensbedingungen "jeden Tag als Geschenk Gottes" betrachte, doch mehr als einen flüchtigen Eindruck davon, daß es in der fernen Mongolei um existenzielle Probleme ginge, erhielt das Publikum nicht. Wie seine Verantwortung als Häuptling von 4000 Stammesmitgliedern beschaffen und in welchem Ausmaß seine Arbeit im Westen dem Erhalt dieser Lebensform gewidmet ist, wurde nicht ersichtlich. Seine Ausführungen zu diesem Thema hatten eher den Charakter einer atmosphärischen Einstimmung in seine Lebensgeschichte als des Versuchs, ernsthaft über die Probleme seines Stammes zu reden.

Die Schilderung seiner Jugend im Altai-Gebirge, seiner schamanischen Ausbildung und seines Studiums in Leipzig war von Anekdoten durchwirkt, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden. Dabei wurde man allerdings den Eindruck nicht los, zum besseren Verständnis des Gesagten zuvor einige der Bücher lesen zu müssen, die am Verkaufsstand im Eingangsbereich feilgeboten wurden. Deutlich wurde auf jeden Fall, daß Tschinags Selbstcharakterisierung als "preußischer Schamane", wie er sich einmal in Anspielung auf sein im Leipzig der sechziger Jahre absolviertes Germanistikstudium nannte, nicht nur scherzhaft gemeint ist.

Seine Hinwendung zur deutschen Kultur und Literatur wird durch bislang 22 auf deutsch veröffentlichte und meist auch in deutsch verfaßte Bücher dokumentiert. Galsan Tschinag wendet sich mit einer Ehrerbietung der Sprache des Landes zu, das ihm den Aufstieg zu einem belesenen und wortmächtigen Homme de lettres ermöglicht hat, die angesichts der Mißachtung, die viele Bundesbürger gegenüber der eigenen Landessprache an den Tag legen, auf sympathische Weise antiquiert wirkt. Die Kriterien der Bewertung deutscher Dichter von Rilke über Heine bis zu Goethe unter dem Gesichtspunkt eines schamanistischen Verständnisses von Poesie blieben allerdings so nebulös, daß man weder über das eine noch das andere Aufschluß erlangte. Interessant wäre es gewesen, wenn das angekündigte Thema "Heilen durch Sprache" Fragen zum Antagonismus von Geist und Körper freigesetzt hätte, die Tschinag in Aussagen über "die Sprache des menschlichen Körpers" und darüber, daß die Sprache "an der nackten Haut" anfange, andeutete. Die an ihn gerichtete Frage, ob für den Schamanismus nicht die Praxis des Sprechens relevanter wäre als die Sprache in ihrer kanonisierten Form, blieb leider unbeantwortet.

So produzierte das nichtgeführte Gespräch über das Thema des Schamanismus lose Fäden, die im Nirgendwo verliefen und, nachdem man sie aus den Augen verloren hatte, in einen Fatalismus mündeten, der in dem mehrfach gezogenen Resümee "so ist das Leben halt" den spirituellen Ratschluß alles akzeptierender Genügsamkeit auch noch mit einer resignativen Note beschwerte. Wo Tschinag bereits im Fernsehen mit der Allerweltsweisheit, laut der "alles ein Spiel" sei, oder der geheimnisvoll anmutenden Bemerkung "Ich bin ein Traum, den irgend jemand träumt", schamanistischen Mehrwert annoncierte, lief bei seinem Vortrag alles auf das an den nächsten zwei Tagen stattfindende Seminar "Heilen durch Worte. Sprechen - Lauschen - Schauen - Spüren" hinaus.

Daß sich das Versprechen, man werde dort für 200 Euro Gesamtpreis mehr erfahren als beim Vortrag im Völkerkundemuseum, erfüllt hat, ist der Klientel Tschinags allemal zu wünschen. Wenn allerdings die Suche eines krebskranken Mannes, der in der Pause an den Schamanen herantrat, um seinen Rat zu der Frage einzuholen, ob er sich einer für sein Überleben bedeutsamen Operation unterziehen sollte, dazu führt, daß dieser 10.000 Geister plus 250 Zuhörer aufruft, eine Entscheidung herbeizuführen, kann man sich des Eindruck eines allein dem eigenen Ansehen gewidmeten Spektakels nicht entziehen. So wurde beim besten Willen aus dem in wilhelminischer Strenge zu nüchterner Gelehrsamkeit anhaltenden Vorlesungssaal keine Jurte, in der die Geister so sehr vom Publikum Besitz ergriffen hätten, daß es anschließend keines mehr gewesen wäre.

Tschinag hielt mit vielem hinterm Berg, um nicht zu sagen hinter dem Altai-Gebirge, und ließ sich auch bei Fragen nicht auf den Zahn fühlen. Die angesichts der von ihm vorgelesenen Jagdgeschichte durchaus angemessene Frage nach der Bedeutung der Jagd für den Schamanismus bürstete er mit der schroffen Entgegnung ab, daß es keine gebe. Später erklärte er, daß das Thema so umfassend sei, daß er es im Rahmen eines Vortrags lieber unbehandelt lasse, und verwies auf das Seminar, wo man zufriedenstellenden Aufschluß erlangen könne. Eine Antwort, die angesichts dessen, daß der Begriff des Jagdzaubers zum Standardrepertoire ethnologischer Annäherung an das Thema gehört, kaum zufriedenstellen kann. Nimmt man einmal an, daß mit dem Begriff des Schamanismus archaische Bewältigungstechnologien am Rande der Zivilisation gemeint sind, deren Spur in folkloristischer und mythischer Verzerrung bunte Blüten treibt, die zu decodieren die Aufgabe jeder seriösen Erforschung des Gegenstands wären, dann kann die kommerzielle Verwertung des Schamanismus auf dem Markt esoterischer und therapeutischer Versprechen das Mißverständnis nur vergrößern.

Als Dichter hinterläßt Galsan Tschinag einen durchaus positiven Eindruck, bedient er sich bei der Schilderung der heimatlichen Natur und den Geschichten über menschliche Schicksale zwischen nomadischer Tradition und technokratischer Moderne doch einer kraftvollen und bildhaften Sprache. Als Häuptling zehrt er immer noch vom Kampf gegen den Sozialismus, der seinem Stamm durchaus geschadet haben kann und dennoch nicht verdient hat, mit dem ideologischen Besen des Antikommunismus in Bausch und Bogen verdammt zu werden. So hat die sozialistische Mongolei in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Ernährung Vorbildliches geleistet, indem sie Versorgungsstrukturen von westeuropäischer Qualität schuf. Seit sich das Land der kapitalistischen Globalisierung geöffnet hat, haben auch dort in Zentralasien vorherrschende Armuts- und Elendsbedingungen Einzug gehalten. Nicht zuletzt die Zerschlagung kollektivistischer Strukturen in Viehzucht und Landwirtschaft hat die ökonomische Lage großer Teile der Bevölkerung verschlechtert. Den Problemen eines sogenannten Transformationsstaates wird man mit einer vermeintlichen Stammesidylle jedenfalls nicht gerecht, das gilt um so mehr, wenn diese Vermarktungszwängen unterliegt, unter denen ein ethnizistisch larvierter Kolonialismus Urständ feiert.

Als Exponent einer animistischen Tradition macht Galsan Tschinag schon aufgrund seiner Herkunft eine bessere Figur als viele seiner unter der Berufsbezeichnung "Schamane" firmierenden Kollegen. Ob hinter der evasiven Technik, sich vornehmlich in Andeutungen zu ergehen und beim Tanz der Masken die Rolle des Zeremonienmeisters zu übernehmen, mehr steckt als das bloße Versprechen auf geheimnisvolle Schätze, die zu anderer Zeit und an anderem Ort zu heben wären, bleibt der Überprüfung durch den jeweiligen Klienten überlassen. Dabei böte das Thema einer nomadisierenden Lebensform, die den Herausforderungen widriger sozialer und gesellschaftlicher Umstände auf eine Weise entgegentritt, die gerade für die Haus- und Heimatlosigkeit des flexibilisierten Subjekts global entgrenzter Produktivität von Interesse wäre, viel Stoff für fruchtbare Überlegungen.

14. November 2006