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PRESSEKONFERENZ/1063: Kanzlerin Merkel und der österreichische Bundeskanzler Faymann, 15.09.2015 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz im Bundeskanzleramt - Dienstag, 15. September 2015
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem österreichischen Bundeskanzler Faymann


BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, ich möchte ganz herzlich den österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann hier in Berlin begrüßen. Wir haben uns hier angesichts der Lage im Hinblick auf die Flüchtlinge kurzfristig getroffen. Ich freue mich sehr, dass Werner Faymann zusammen mit dem Vizekanzler, Herrn Mitterlehner, und mit der Innenministerin gekommen ist. Unsererseits haben auch Herr Gabriel und Herr de Maizière an der Besprechung teilgenommen.

Wir haben in den letzten Tagen, am vorvergangenen Freitag, in einer akuten Notsituation eine Entscheidung getroffen, die ja auch als eine humanitäre Ausnahme bezeichnet wurde, um Menschen zu helfen. Es war für uns als gute Nachbarn selbstverständlich, dass wir diese Lösung so getroffen haben. Ich halte sie auch für richtig, und sie hat vielen Menschen geholfen.

Wir sehen allerdings, dass wir insgesamt eine hohe Zahl von Flüchtlingen haben - über die Route Griechenland-Mazedonien-Serbien-Ungarn und dann nach Österreich und Deutschland. Wir haben heute natürlich darüber gesprochen, wie wir mit der aktuellen Situation umgehen können. Deutschland hat Grenzkontrollen eingeführt. Wir haben dies getan, um die Flüchtlinge einfach besser registrieren zu können. Wir hatten angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen die Situation, dass die Registrierung hier überhaupt nicht mehr möglich war. Ich glaube, auch aus Sicherheitsgründen ist es verständlich, dass wir wieder zu einem sozusagen geordneten Regime und Mechanismus zurückkehren müssen.

Nichtsdestotrotz will ich die Gelegenheit noch einmal nutzen, allen Menschen zu danken, die auch am vergangenen Wochenende geholfen haben, damit die Situation überhaupt beherrschbar ist. Ähnliches gilt, glaube ich, auch für Österreich. Auch dort möchte ich allen danken, die - heute zum Beispiel in Nickelsdorf und an anderen Stellen - helfen. Österreich hat nämlich gestern 20.000 Flüchtlinge an einem Tag bekommen, ein Land, das ein Zehntel der Einwohner Deutschlands hat. Da kann man sich auch überlegen, was für eine große Aufgabe das ist.

Wir wollen also im Geist der Freundschaft, aber natürlich auch mit dem vorhandenen Rechtswerk, das wir haben, versuchen, die Probleme zu lösen. Das hat dazu geführt, dass wir eben auch einen gemeinsamen Anruf bei Donald Tusk, dem Ratspräsidenten, getätigt und einfach gesagt haben: Dieses Problem kann nur gesamteuropäisch gelöst werden. Das ist eine Verantwortung der gesamten Europäischen Union. Deshalb haben wir uns dafür ausgesprochen, in der nächsten Woche einen Sonder-EU-Rat durchführen zu lassen.

Donald Tusk wird das prüfen - nicht, und das sage ich ausdrücklich, um das zu machen, was die Innenminister gestern auf den Weg gebracht haben, nämlich eine Verteilung von 120.000 Flüchtlingen zu diskutieren - das liegt jetzt bei den Innenministern in guten Händen -, sondern um uns mit anderen Fragen zu befassen, erstens mit der Frage: Wie können wir die Herkunftsländer der Flüchtlinge besser unterstützen? Hierfür braucht es eine große europäische Kraftanstrengung.

Zweitens geht es um die Frage: Wie können wir mit der Türkei besser ins Gespräch kommen? Donald Tusk war dankenswerterweise bei Präsident Erdogan und bei dem türkischen Ministerpräsidenten. Er hat uns eben auch darüber berichtet. Ich glaube, es ist auch wichtig, dass der gesamte Rat darüber informiert wird.

(Drittens geht es um die Frage:) Wie können wir - wenn wir dann die Verteilungskriterien beziehungsweise -zahlen festgelegt haben werden, hinsichtlich der die Innenminister gestern vorangekommen sind - schneller die Hot Spots in Griechenland, aber auch in Italien bauen? Denn ohne die Hot Spots wird es auch nicht zu einer Verteilung von Flüchtlingen kommen. Insofern drängt die Zeit aus unserer Sicht, und deshalb können wir hiermit nicht bis Mitte Oktober warten.

Das Ganze wird jetzt geprüft und natürlich auch mit der Präsidentschaft besprochen, aber wir hatten hier ein sehr konstruktives Gespräch. Deutschland und Österreich arbeiten sehr, sehr eng zusammen, und das sollte auch weiterhin so sein. Denn es ist wahr: Deutschland, Österreich und Schweden, wie ich jetzt noch einmal hinzufüge, können das Problem nicht alleine lösen. Aber es wäre ganz undenkbar, wenn auch wir uns nicht mehr kooperativ miteinander abstimmten.

BK Faymann: Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Werterhaltung, Menschen zu helfen, die auf der Flucht sind, ist ein Recht, zu dem wir uns immer bekannt haben. Mit dieser Menschlichkeit, dieser Wertehaltung einer Europäischen Union, die den Friedensnobelpreis bekommen hat, Menschen zu helfen, die den Frieden wollen und vor einem Krieg flüchten, sind wir in organisatorische Schwierigkeiten gekommen, weil die Europäische Union hier nicht gemeinsam ihre Kräfte mobilisiert, sondern diese Frage, wie wir Menschlichkeit und Humanität mit Kontrolle und guter Organisation vereinbaren, plötzlich bei zwei Ländern - mit Schweden bei drei Ländern - geblieben ist. Drei Länder können die Frage der Humanität und des Rechts auf Asyl nicht alleine stemmen. Drei Länder können auch nicht gemeinsam die notwendige europäische Außenpolitik machen, die die Frau Kanzlerin angesprochen hat.

Daher ist ein Europäischer Rat, wie die Kanzlerin bereits ausgeführt hat, so notwendig, um zu fragen: Wie können wir Herkunfts- und Transitländer dabei unterstützen, dass Menschen dort ein Asylrecht vorfinden? Oder stecken wir einfach den Kopf in den Sand und sagen, zuständig wäre jemand anderes; eigentlich bräuchten wir ja nach allen Gesetzen, streng genommen und durchgerechnet, gar keine mehr zu nehmen, denn direkt neben uns ist ja kein Krieg, und alle, die dazwischen sind, hätten ja längst diese Aufgabe zu erledigen gehabt? Was geht das daher uns an? - Es ist wichtig, dass wir nicht den Kopf in den Sand stecken. Es geht um Menschen, und es geht um ein Recht auf Asyl.

Diese europäische Initiative, diese Herkunfts- und Transitländer dabei finanziell und materiell, also konkret - nicht mit Überschriften, sondern mit Handlungen - zu unterstützen und dann an der Außengrenze in Griechenland eine gemeinsame Grenzsicherung mit einem Hot Spot vorzunehmen, der dieses Recht auf Asyl auch ermöglicht und anderen Menschen, die dorthin kommen und kein Recht auf Asyl haben, der ihnen gar keine Hoffnung gibt, auch sagt, dass sie dieses Recht anderswo finden - diese gemeinsamen Standards in der Europäischen Union und diese politischen Fragen sind von drängender Wichtigkeit. Deshalb gibt es auch diese gemeinsame europäische Vorgangsweise. Wir können nicht warten, bis sich die Menschen von Syrien nach Griechenland und von Griechenland über die Westbalkanroute bis zu uns durchgekämpft haben, und sie dann einfach abhalten. Das würde eine humanitäre Katastrophe auslösen. Der müssen wir ins Auge sehen.

Deshalb bin ich so dankbar für die Entscheidungen der deutschen Bundeskanzlerin, und ich sage das hier auch in aller Offenheit. In diesen Stunden vor zehn Tagen war die Frage: Diskutieren wir jetzt lang und mächtig darüber, dass Ungarn diese Leute eigentlich ordentlich zu behandeln hätte? Diskutieren wir jetzt ausführlich über Griechenland? Diskutieren wir jetzt darüber, was notwendig ist, diskutieren wir ausführlich über Syrien und den Krieg, oder helfen wir jenen Menschen, die schon lange nichts zu essen hatten, die losmarschiert sind, die auf ihrem Weg Angst bekommen hatten, überhaupt Freiheit und Schutz zu finden, geben wir ihnen etwas zu essen und versorgen sie medizinisch? - Ich bin dir sehr dankbar, dass du bei dieser Entscheidung nicht zögerlich warst. Es gibt Politiker, die dann Arbeitskreise einberufen. Sie denken viel nach und überlegen sich, wie sie die Schuld auf andere schieben. Nein, es war eine Entscheidung, zu sagen "Wir lassen diese Leute nicht im Stich", wissentlich, dass wir wieder einen Normalbetrieb aufnehmen müssen, wissentlich, dass wir den Dingen ins Auge blicken müssen, die Frage des Asyls der Flüchtlinge nicht in diesen drei Ländern allein lösen zu können.

Nun ist in diesem Normalbetrieb wieder diese enge Kooperation notwendig. Es soll niemand sein Leben verlieren auf der Suche nach Schutz. Wir müssen aber auch gemeinsam vorgehen, etwa dabei, jene Menschen in jene Länder zurückzubringen, die sicher sind, und die vielleicht jetzt in diesen Tagen auch zu uns gekommen sind. Wir müssen also eine Unterscheidung vornehmen: Wer hat denn ein Asylrecht und wer nicht? Aber wir dürfen Menschen, die ein Asylrecht haben, hier nicht im Stich lassen.

Das gemeinsam zu organisieren - humanitär, aufrichtig und kontrolliert -, ist etwas, das wir noch in vielen Details konkret abstimmen müssen. Auch Österreich hat hier an der ungarischen Grenze Maßnahmen wie die Einberufung eines Assistenzeinsatzes des Bundesheeres gesetzt, um die Polizei dabei zu unterstützen. Auch wir müssen die vielen ehrenamtlichen Helfer des Roten Kreuzes und all der Freiwilligenorganisationen unterstützen, die zum Teil am Ende ihrer Kräfte sind, diesen Leuten etwas zu essen zu geben und sie medizinisch zu versorgen. Auch wir benötigen diese Gleichzeitigkeit von Menschlichkeit und Kontrolle. Aber wir werden daran gemessen, ob uns das genauso viel wie die Finanzkrise bedeutet - in der wir uns jeden dritten Tag getroffen und gesagt haben: Wie verhindern wir den wirtschaftlichen Zusammenbruch, der letztendlich auch Menschen getroffen hätte? - und ob wir diese humanitäre Frage ernst nehmen, oder ob wir sie wegschieben und hoffen, dass der Nachbar die Probleme hat. Daher ein aufrichtiges Dankeschön, liebe Angela, für diese enge und gute Zusammenarbeit!

Frage: Frau Bundeskanzlerin, denken Sie bei Ihrer Forderung nach mehr europäischer Solidarität wie der österreichische Bundeskanzler auch an Kürzungen von Mitteln aus den europäischen Strukturfonds, um die Zögerer zu überzeugen? Kommt das für Sie infrage?

Herr Bundeskanzler Faymann, Sie haben jetzt die gute deutsch-österreichische Zusammenarbeit beschworen. Gehört dazu auch, dass die vielen Flüchtlinge, die jetzt in Österreich sind, künftig auch mehr in Österreich registriert werden, oder rechnen Sie damit und hoffen Sie weiter darauf, dass die Flüchtlinge durch Österreich durchreisen und am Ende dann in Deutschland ankommen? Haben Sie da konkret etwas besprochen?

BK'in Merkel: Ich glaube, wir müssen es wieder schaffen, einen europäischen Geist herzustellen. Meine Hoffnung, dass das durch Drohungen geht, ist sehr gering oder nicht ausgeprägt. Wir haben immer, wenn wir Meinungsverschiedenheiten in Europa hatten - es ist jetzt nun wirklich nicht das erste Mal, dass das so ist -, das Gespräch gesucht. Manchmal waren es auch sehr zähe, sehr lange Gespräche. Wir haben geworben, und wir haben bislang immer Lösungen gefunden. Dieser Optimismus leitet mich, auch wenn es dieses Mal sehr, sehr schwer ist und wenn diesmal sicherlich auch noch größere Hürden zu überwinden sind. Deshalb bin ich nicht an dem Punkt, dass wir drohen sollten.

Aber ich will doch sagen, dass viele Menschen in Deutschland - denen sind wir, die Bundesregierung, verpflichtet beziehungsweise denen bin ich verpflichtet - natürlich auch die Frage stellen: Wie funktioniert dieses Europa, wenn es jetzt um menschliche Werte geht? Was ist der europäische Geist, den wir so oft beschworen haben? Daran werden wir natürlich erinnern. Aber Drohungen sind nicht der richtige Weg zur Einigung, glaube ich.

BK Faymann: Ich bin davon überzeugt, dass viele Länder den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass das Problem an ihnen vorbeizieht, weil Deutschland, Österreich und Schweden eine andere humanitäre Einstellung auch nach außen signalisiert haben. Manche wollen uns in den Diskussionen geradezu vorwerfen, dass wir so viel über das Recht auf Asyl sprechen. Aber das Recht auf Asyl mit Füßen zu treten, ist keine Alternative in unserer Wertegemeinschaft. Deshalb war es mir wichtig, hier auch aufzurütteln, wachzurütteln und zu sagen: Es ist auch eine Frage der Solidarität, welche finanziellen Mittel Nettozahler wie wir anderen überweisen. Das hat auch etwas mit Nachholbedarf und Solidarität zu tun. Solidarität ist nicht irgendeine karitative Tätigkeit, die man sich heute einmal überlegt oder nicht, sondern Solidarität heißt, zu erkennen, dass ein Problem gemeinsam lösbar ist und alleine nicht. Deshalb wollte ich das auch dafür einsetzen.

Ich möchte aber auch etwas zu der Frage sagen: Hoffen Sie darauf, dass die Menschen dann in Deutschland ankommen? Das Bevölkerungsverhältnis zwischen Österreich und Deutschland - Sie kennen es ja - liegt bei etwa 1:10. Österreich hat pro Kopf mehr in der Bundesbetreuung. Österreichs Notquartiere sind derzeit alle bis zum letzten Platz voll. Österreich stellt sich dieser Aufgabe, nicht als Land darauf zu hoffen, dass wir keine Probleme haben und der Nachbar sie für uns löst. Aber Österreich kann diese Menschen sicherlich nicht anstelle von Deutschland alleine aufnehmen und versorgen; das werden Sie verstehen. Deshalb bin ich auch dankbar dafür, dass Deutschland nicht sagt "Wir machen die Grenzen dicht" - im Sinne von "Dann kommt keiner herein, der kein Asylrecht hat" -, sondern dass es hierbei um Kontrolle und um gemeinsame Abwicklung geht.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gerade die Entscheidung in der Nacht zum 5. September noch einmal als richtig bezeichnet. Gleichwohl wird Ihnen in den eigenen Reihen und auch medial sehr oft vorgeworfen, dass Sie mehrere politische Signale ausgesandt haben, die eine übertriebene Aufnahmebereitschaft signalisiert hätten und dadurch den Flüchtlingsstrom erst so richtig verbreitert hätten, weil sie weitere Flüchtlinge animiert haben, nach Deutschland zu kommen. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

BK'in Merkel: Ich sage, dass ich der festen Überzeugung bin - gerade auch nach den Vorfällen, die wir in Heidenau hatten, die ja auch noch nicht sehr lange zurückliegen -, dass es darum geht, ein bestimmtes deutsches Gesicht, stellvertretend für viele Bürgerinnen und Bürger, zu zeigen. Ich will einmal daran erinnern: Die Bilder, die um die Welt gingen, waren nicht die von meinem Besuch in der Erstaufnahmeeinrichtung in Heidenau - da waren nämlich gar keine Fotografen dabei -, sondern die Bilder, die um die Welt gingen, waren die von den Bürgerinnen und Bürgern, die am Morgen nach dieser Entscheidung die Menschen in München und anderswo am Bahnhof empfangen haben, die ganz selbstverständlich geholfen haben - die vielen Tausenden. Da hat die Welt gesagt: Das ist aber eine schöne Geste. Das kam aus dem Herzen der Menschen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.

Insofern glaube ich, dass auf der einen Seite dieser Impuls der richtige war, dass es auf der anderen Seite aber auch natürlich ist, dass man dann schaut: Wie kann ich die Dinge wieder so machen, dass unsere Sicherheitsinteressen vertreten werden? Wir haben die Grenzen ja nicht zugemacht - das möchte ich auch nicht -, um dann Österreich die Last zuzuschieben - das kann man natürlich alles so weitergeben -; das würde meiner Meinung nach auch nicht besonders gut funktionieren. Vielmehr haben wir jetzt gesagt: Wir brauchen Kontrollen, wir brauchen einen Überblick, wer bei uns einreist. Über diesen Maßstab haben wir auch gesprochen und in dem werden wir auch weiter partnerschaftlich zusammenleben. Das ist meine Antwort darauf.

Es gibt im Übrigen - weil ja manche auch gesagt haben, sie seien übertölpelt, überrannt, überrascht worden oder was auch immer - Situationen, in denen entschieden werden muss. Ich konnte nicht zwölf Stunden warten und überlegen. Die Leute sind auf die Grenze zumarschiert, und da haben wir diese Entscheidung getroffen - ich habe das ja gar nicht ganz alleine; der Bundesaußenminister war auf einem Außenministerrat. Wir haben sogar noch die rechtlichen Implikationen überprüft: Kann man einen Notfall charakterisieren, ohne das Dublin-System aufzugeben?

Ich möchte an dieser Stelle auch noch etwas zu dem Vorwurf sagen, wir hätten im August keinen Flüchtling nach Ungarn zurückgeschickt und deshalb wären wir ja schuld, dass das Dublin-System nicht mehr richtig funktioniert. Man muss einmal sehen: Im August sind 102.000 Leute zu uns gekommen - im Juli waren es, glaube ich, noch 76.000 -, 70.000 davon über Ungarn und Österreich. Das hat schon viele Kapazitäten gebunden. Sollen wir die Menschen jetzt noch damit befassen, dass sie wieder nach Ungarn zurückgeschickt werden? Rein praktisch kann man uns doch keinen Vorwurf machen, dass wir keinen nach Ungarn zurückgeschickt haben. Wir haben im vergangenen Jahr sehr viel daran gearbeitet zu überlegen, ob wir Flüchtlinge nach Italien zurückschicken können. Das bindet derart viele Ressourcen, dass zum Schluss die bei uns ankommenden Menschen nichts mehr zu essen haben, weil jeder nur noch damit beschäftigt ist, Rückführungen zu versuchen.

Ich glaube, mein österreichischer Kollege Werner Faymann hat eben etwas sehr Richtiges gesagt: Wir sind in einer nicht ganz einfachen Situation, und das ist eine der größten Herausforderungen - ich würde sagen, seit Jahrzehnten -, die wir in Europa haben. Deshalb ist es auch so wichtig, wie wir ganz zum Schluss diese Herausforderung bewältigen. Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen und wir schaffen das. Aber diese Herausforderung werden wir nur gemeinsam bewältigen, und wir werden sie nicht bewältigen, indem wir immer wieder gucken, ob wir noch einen finden, dem wir unsere Sorge und die Tatsache, dass wir noch nicht die letzte Antwort haben, überbringen und sagen: So, jetzt hast du das falsch gemacht. Wenn wir zum Schluss noch den Menschen sagen "Es war ein Fehler, dass ihr die Leute am Münchner Bahnhof freundlich empfangen habt, und nun könnt ihr sehen, was ihr davon habt", dann akzeptiere ich so eine Argumentation nicht.

Frage: Um das konkret zu machen: Was passiert denn mit den tausenden Flüchtlingen, die in Österreich ankommen? Wird von Österreich verlangt, diese Flüchtlinge zu registrieren, oder kann Österreich - wie das jetzt quasi immer schon gemacht wurde - die einfach nach Deutschland weiterschicken, wenn sie nach Deutschland wollen? Für Deutschland würden es dann ja nicht weniger Flüchtlinge werden.

Eine zweite Frage an beide: Wie lange sollen die Grenzkontrollen denn noch durchgeführt werden?

BK'in Merkel: Wir haben heute über eine Arbeitsgruppe gesprochen - die, glaube ich, noch heute beginnen wird zu tagen -, in dem wir genau über diese praktischen Probleme sprechen.

Sie haben in Ihrer Frage aber einen Untersatz gesagt, den ich auch noch einmal kommentieren möchte, nämlich dass die Flüchtlinge nach Deutschland möchten. Was wir in der Europäischen Union nicht haben, ist sozusagen das Wahlrecht, in welchem Land und in welcher Stadt man als Flüchtling gerne sein möchte. Wir sind vielmehr Länder, die sich dem Dublin-System und dem Schengen-Bereich angeschlossen haben und die alle miteinander davon ausgehen, dass sie jeweils Lebensbedingungen haben, die den humanitären Standards entsprechen, die wir nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach dem Asylrecht brauchen. Deshalb reden wir ja auch über Verteilungen innerhalb Europas. Wir werden - das haben wir zum Beispiel als Koalition in Deutschland beschlossen - auch sagen: Wenn jemand seinen Status in einem anderen Land bekommen hat, dann kann es nicht so sein, dass er zum Beispiel finanzielle Mittel in Deutschland bekommt. Wenn wir zu einer Verteilung kommen, dann muss vielmehr Europa insgesamt beziehungsweise die Europäische Union - soweit sich die Länder am Asylsystem beteiligen - ein sicherer Herkunftsbereich sein. Es gibt also kein Wahlrecht, wo man hin will; auch das muss man den Flüchtlingen sagen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, eine Frage mit Blick auf die Ministerpräsidenten-Runde heute Abend: Ihr Vizekanzler, Herr Gabriel, hat heute noch einmal von einer Million Flüchtlingen gesprochen, die möglicherweise in diesem Jahr kommen. Wird es heute Abend, nachdem man zwischen Bund und Ländern schon lange verhandelt, eine Einigung auf die Verteilzentren in verschiedenen Regionen Deutschlands geben oder ist dieser Gedanke vom Tisch?

Herr Faymann, hat diese Flüchtlingskrise, diese Problematik, angesichts der Neinsager im Osten das Potenzial, die EU als Ganzes zu schädigen? Könnte das das Aus für die Europäische Union bedeuten?

BK'in Merkel: Heute Abend wird nicht das Treffen mit den Ministerpräsidenten am 24. September, auf dem wir über die rechtlichen Änderungen und die Finanzen sprechen werden, vorgezogen. Vielmehr wird man sich heute Abend in der Tat mit der Situation der Plätze beschäftigen, man wird sich austauschen über die Fragen "Welche Reserven können wir mobilisieren?", "Was kann die Bundeswehr leisten?", "Wie kann es weitergehen mit einer fairen Verteilung in Deutschland?". Eine solche Verteilung kann über Zentren geschehen, allerdings hat sich die Lage jetzt geändert. Wir versuchen im Augenblick ja, an der Grenze ankommende Flüchtlinge sofort zu registrieren. Das heißt, man braucht vielleicht gar nicht mehr diese großen Verteilzentren, wie München eines war, sondern kann dann sofort die Zuweisungen in die Richtung der jeweiligen Ankunftsorte vornehmen. Darüber, wie wir genau dieses Management zwischen Bund und Ländern einvernehmlich regeln können, werden wir sprechen; denn am vergangenen Wochenende war eine sehr schwierige Situation entstanden, als die Zahl der Flüchtlinge einfach größer war als die Zahl der bereitgestellten Plätze. Wir werden Sie im Anschluss an diese Sitzung ja auch über die Ergebnisse informieren.

BK Faymann: Ich bin schon der Meinung, dass das das Potenzial hat, die Europäische Union als Projekt zu gefährden, denn es gibt hier doch zwei Facetten. Da gibt es die einen, die Angst haben, dass wir hier unkoordiniert vorgehen und als Politik nicht den Überblick haben. Denen zu signalisieren "Wir bringen nichts zusammen" würde das europäische Projekt schwer beschädigen. Die zweite Gruppe - und manchmal überschneiden sich auch die Gefühle - verlangt zu Recht, dass Menschlichkeit keine Schande ist - das Gegenteil ist eine Schande - und dass wir Menschen in Not helfen, anstatt zuzusehen, wie eine humanitäre Katastrophe in Europa passiert. Das heißt, nicht zu handeln gefährdet das europäische Projekt in den Herzen von vielen Menschen, die darauf hoffen, dass diese Europäische Union stark genug ist. Wir haben es in der Wirtschafts- und Finanzkrise geschafft, zu zeigen, dass wir Vergleiche wie etwa mit den 30er-Jahren verhindern, und wir müssen das auch jetzt beweisen.

Dienstag, 15. September 2015

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem österreichischen
Bundeskanzler Faymann, 15.09.2015
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/09/2015-
09-15-merkel-faymann.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2015

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