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PRESSEKONFERENZ/1472: Kanzlerin Merkel und der bulgarische Ministerpräsident Borissov, 7.6.2017 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz - Mittwoch, 7. Juni 2017

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultanübersetzung)


BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, ich begrüße meinen Kollegen Boyko Borissov nach seiner Wiederwahl ganz herzlich heute hier in Berlin. Ich habe ihm natürlich zu dieser Wiederwahl und zu der Regierungsbildung gratuliert und freue mich, dass wir unsere Zusammenarbeit fortsetzen können.

Wir haben über die bilateralen Beziehungen gesprochen und können sagen, dass diese sehr, sehr gut und sehr intensiv sind. Sie sind von sehr guten Wirtschaftsbeziehungen getragen. Wir werden überlegen, wie wir diese noch erweitern können. Der Ministerpräsident wird dazu demnächst auch mit deutschen Unternehmen Gespräche führen.

Wir versuchen, die Förderung der Jugendbeschäftigung und die Kooperation in der beruflichen Bildung voranzubringen. Wir ermutigen alle deutschen Unternehmen, sich in Bulgarien zu engagieren, weil wir glauben, dass dies eine gute Investition in die Zukunft ist und dass die Vorteile des europäischen Binnenmarkts auch gut genutzt werden können.

Bulgarien ist jetzt zehn Jahre EU-Mitglied und wird ab 1. Januar 2018 zum ersten Mal die Präsidentschaft der Europäischen Union übernehmen. Wir gehen gerne auf die Bitte ein, dass wir Bulgarien bei der Ausübung dieser Präsidentschaft unterstützen wollen. Wir sind uns einig, dass die Europäische Union vor großen Herausforderungen steht - nicht nur, dass wir die Verhandlungen zum Austritt Großbritanniens führen müssen, sondern wir müssen natürlich auch die Entwicklung der Europäischen Union voranbringen und das in einem schwierigen geostrategischen Umfeld.

Deshalb haben wir auch darüber gesprochen, wie sich die Situation aus der Perspektive Bulgariens darstellt. Bulgarien grenzt auf der einen Seite an die Staaten des westlichen Balkan und hat hier natürlich ein großes Interesse an der Stabilität. Wir haben über den sogenannten Berliner Prozess gesprochen, bei dem wir demnächst in Triest - in Italien - mit den Vertretern des westlichen Balkan wieder ins Gespräch kommen werden. Hier geht es vor allen Dingen darum, eine Vision der Hoffnung für diese Länder deutlich zu machen, ihre EU-Beitrittsperspektive immer wieder zu unterstützen und zu betonen. Denn es gibt eine Reihe anderer geopolitischer Akteure, die natürlich auch daran interessiert sind, gute Beziehungen aufzubauen. Wir wollen hier sehr deutlich machen, dass wir die Beitrittsperspektive der Länder des westlichen Balkan natürlich unverändert vor uns sehen und darauf hinarbeiten.

Bulgarien steht vor sehr großen Herausforderungen, was die Erfüllung der Aufgaben und die Bedingungen für die Rechtsstaatlichkeit anbelangt. Wir unterstützen Bulgarien bei seinen Rechtsstaatsreformen. Wir danken Bulgarien vor allen Dingen auch für seine Aufgabe der Grenzsicherung. Bulgarien grenzt an die Türkei und hat diese Grenzsicherung intensiv verbessert, obwohl es noch nicht zum Schengenraum gehört. Wir schätzen aber die Anstrengungen, die Bulgarien in diesem Zusammenhang unternommen hat. Wir haben auch über die Hilfen der Europäischen Union gesprochen, die Bulgarien jetzt Schritt für Schritt in die Tat umsetzt. Aber der Kampf gegen die illegale Migration, der Kampf gegen Schlepper ist eine permanente Herausforderung für die bulgarische Regierung. Ich möchte Bulgarien hier für seine wirklich entschlossene Arbeit danken. Es ist nicht nur die bulgarisch-türkische Grenze, sondern es ist auch die bulgarisch-griechische Grenze, die natürlich eine große Herausforderung darstellt - und dazu noch die Grenzregion am Schwarzen Meer. Insofern also eine sehr exponierte Lage.

Wir arbeiten in der Flüchtlings- und Migrationspolitik sehr eng zusammen. Bulgarien gehört zu den Ländern, die dies als eine gemeinsame europäische Herausforderung begreifen. Ich bin dem Ministerpräsidenten dafür auch sehr dankbar.

Insgesamt geht es uns darum, dass wir natürlich alle in die Lage versetzen, dass sie wirtschaftlich prosperieren können. Bulgarien gehört zu den Ländern, die noch ein sehr geringes Pro-Kopf-Einkommen haben. Deshalb wünsche ich Bulgarien, dass die ökonomischen Investitionen auch wirklich mit Hilfe der Europäischen Union Früchte tragen, sodass die Menschen in Bulgarien auch merken, dass sich ihr Leben Schritt für Schritt verbessert, auch wenn es länger dauert. Unter dieser Maßgabe haben unsere Gespräche heute gestanden. Deshalb danke ich noch einmal ganz herzlich für den Besuch, lieber Boyko. Auf gute weitere Zusammenarbeit!

MP Borissov: Ich bedanke mich auch, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Zeit. Ich bedanke mich auch bei Ihrem Team, das uns bei diesem Termin begleitet hat.

Unsere geografische Lage als Mitglied der EU und als Land, das jetzt bald den EU-Vorsitz übernimmt, gibt uns die Möglichkeit, einiges zu tun und auch den Balkan voranzubringen. Das stimmt mit dem Berliner Plan überein, bei dem es darum geht, dass man diese westlichen Balkanländer und Staaten unterstützt. Ich wünsche mir sehr, dass es auch eine Perspektive für den einfachen Menschen auf der Straße gibt, der auf dem Balkan wohnt. Es geht nicht um die Eliten. Es geht um den normalen Bewohner des Balkan, dass er weiß, dass er Mitglied der EU sein wird, dass er ein freier Bürger sein wird, der auch frei reisen kann, der die Freizügigkeit genießen und überhaupt die Freiheiten, die die Mitgliedschaft in der EU mit sich bringt, nutzen kann.

Es werden also Prioritäten gesetzt werden, und Deutschland wird uns bei dieser noch unbekannten Tätigkeit beim Vorsitz der EU unterstützen. Ich habe gestern mit Präsident Macron gesprochen. Auch er hat uns seine Unterstützung erklärt. Die Triebwerke, die Motoren der Europäischen Union - Deutschland und Frankeich - werden uns unterstützen und das im Sinne auch der anderen Balkanvölker.

Ganz wichtig ist das, was die Bundeskanzlerin gesagt hat. Es gibt viele strategische Player auf dem Balkan, und viele Einflusssphären werden auf dem Balkan ausgeweitet. Bulgarien weiß als ein Land, das sich auf dem Balkan befindet, dass viel Unglück über Europa von dem Balkan aus gekommen ist. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf den Balkan lenken.

Ich habe der Bundeskanzlerin unsere Energieprojekte dargelegt und welche Perspektiven der europäische Gas-Hub Balkan mit sich bringt, der unter Einhaltung aller europäischen Richtlinien und Regeln geplant ist. Ich glaube, dass wir diesbezüglich Unterstützung bekommen werden.

Was die finanzielle und wirtschaftliche Lage Bulgariens betrifft, ist es so, dass wir uns an die Regeln halten und alle Kriterien erfüllen, was die Bereiche Defizit, Verschuldung und die Arbeitslosenzahlen betrifft. Wir haben heute die letzten Statistiken gesehen: 3,5 Prozent Wachstum der Wirtschaft ist, glaube ich, nicht wenig. Es ist aber noch viel zu wünschen übrig, was die Reformen, mit denen wir uns befassen, und die Überwindung der Bürokratie angeht. Das sind alles Themen, die wir im Detail besprochen haben. Ich will das aber heute nicht alles darlegen.

Ich habe auch meine Meinung über die gesamteuropäische Verteidigung geäußert, dass es darum geht, dass wir uns konsolidieren müssen, wenn es um die Sicherheit geht. Damit meine ich nicht nur die Bekämpfung des Terrorismus und die innere Sicherheit, sondern auch die globalen Bedrohungen. Mein Wunschtraum ist es, dass die EU eines Tages ein kollektives Mitglied der Nato werden kann. Aber das sind Themen für die Zukunft. Es wird noch viele weitere Begegnungen geben. Das ist erst einmal eine Idee von mir.

Ich bedanke mich noch einmal für die Gastfreundschaft und für die Gelegenheit, mit Ihnen zu reden. Wir wissen, dass wir mit Ihrer Person und mit Deutschland immer einen Verbündeten haben, der uns unterstützt. Ich versichere Ihnen auch, dass Ihre Unterstützung und Ihre Hilfe für unser Land auf fruchtbaren Boden fallen. Bulgarien wird seinerseits in Bezug auf die Sicherheit an der Außengrenze der EU zur Türkei liefern und alles, was möglich ist, auf die Beine stellen.

Frage: Eine Frage zur Überwachung der Außengrenzen der EU. Bulgarien überwacht alleine mehr als 1000 Kilometer. Das ist eine gesamteuropäische Herausforderung. In welcher Form könnten Deutschland und die EU Bulgarien helfen? Das ist eine Frage an Sie, Frau Merkel.

Herr Borissov, wie stellen Sie sich eine solche Unterstützung von europäischer Seite vor? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Opposition in Bulgarien Ihre Arbeit sehr stark kritisiert.

MP Borissov: Von Kritik habe ich jetzt noch nichts gehört. Ich überlasse das Wort Frau Merkel.

BK'in Merkel: Erst einmal schätzen wir die Anstrengungen, die Bulgarien unternimmt, sehr. Bulgarien ist noch nicht Mitglied des Schengenraums und trotzdem kontrolliert es die bulgarisch-türkische Grenze sehr klar. Dazu hat die Europäische Union auch Unterstützung in Form von Geld gegeben. Das muss jetzt technisch umgesetzt werden, und dafür gibt es eine Zahl von Ausschreibungsverfahren, die einfach ihre Zeit dauern. Diesbezüglich laufen die Bemühungen.

Die bulgarisch-griechische Grenze ist keine Schengen-Außengrenze. Eigentlich muss Griechenland hier den Außengrenzenschutz vollziehen. Deshalb sind alle Bemühungen, die Bulgarien überhaupt an dieser Grenze unternimmt, natürlich sehr wertzuschätzen. Aber noch einmal: Weil Griechenland Mitglied des Schengenraums ist, muss die Grenzsicherung verstärkt von griechischer Seite geleistet werden. Hierzu sind wir natürlich auch mit Griechenland im Gespräch. Griechenland bekommt auch von der Europäischen Union die entsprechende Unterstützung. Dies liegt nicht in der vorrangigen Verantwortung von Bulgarien.

Bulgarien weiß trotzdem, dass der Handel mit Flüchtlingen, das Schleppertum leider auch seine Auswüchse in Bulgarien hat. Deshalb schätze ich den entschiedenen Kampf Bulgariens, gegen diese Schlepper, die auch das Leben der Flüchtlinge in Gefahr bringen, außerordentlich. Das geht bis nach Sofia und in ganz Bulgarien. Hier verdient Bulgarien unsere Anerkennung. Wir haben schon individuell durch deutsche Beamte und deutsche Technik geholfen. Wo immer wir das können, werden wir unsere bilaterale Zusammenarbeit auch fortsetzen. Aber es gibt natürlich auch noch einmal die Zusammenarbeit mit Frontex.

MP Borissov: Ich habe der Bundeskanzlerin davon berichtet, dass es bei dem Regierungswechsel eine gewisse Verzögerung bei den öffentlichen Ausschreibungen gab. Die 160 Millionen, die wir in Bratislava zugeschrieben bekommen haben, sind noch nicht alle eingesetzt worden, denn wir müssen die gesetzlichen Vorgaben einhalten. Wenn die Videoüberwachungsanlagen, die Fahrzeuge, die Geländewagen beschafft werden können, wird das noch besser aussehen. So sind die Regeln. Ich denke, dass so etwas in Deutschland auch nicht ohne öffentliche Ausschreibungen gehen kann.

Wenn es so weit ist, werden wir die zuverlässigste Grenze haben. Es ist eine Tatsache, dass man eine Grenze überwinden kann. Die Berliner Mauer hat man überwunden, obwohl sie von der östlichen Seite sehr streng überwacht wurde. Selbst aus Alcatraz sind Flüchtlinge geflohen. Das ist eine Schutzvorrichtung. Das Ziel ist es, unsere Grenzpolizei gegen größere Menschenmassen zu schützen. Es ist nicht ein Zaun, mit dem wir die Grenze zu einem Gefängnis verwandeln wollen. Nein, es ist nur eine Hilfs- und Schutzvorrichtung. Wenn die Opposition das kritisiert, so ist das ihre ureigenste Aufgabe. Die Opposition will immer, dass alles möglichst schnell geht. Wahrscheinlich ist das bei der Opposition in Deutschland auch so. Wir versuchen, das Maximale zu leisten. Wir sind froh, dass unsere Partner das auch wertschätzen. Es ist besser, wenn wir die gesetzlichen Aufgaben bei den öffentlichen Ausschreibungen einhalten, als wenn wir nachher etwas machen, was uns nicht zur Ehre gereicht.

Frage: Eine Frage an Sie beide zur EU mit Blick auf die baldige bulgarische Ratspräsidentschaft. Großbritannien wählt morgen eine neue Regierung. Welche Auswirkungen erwarten Sie für die Brexit-Verhandlungen? Könnte eine neue Regierung neue Fragen aufwerfen, die noch einmal sozusagen die Leitlinien der EU-Seite einem Update aussetzen müssten?

Frau Bundeskanzlerin, bitte noch aktuell ein Wort zur Türkei. Das Kabinett hat heute den Abzug der Bundeswehr aus Incirlik beschlossen. Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass sich die Eskalationsspirale immer weiter dreht und auch Lösungen für andere schwierige Fragen erschweren könnte, wie zum Beispiel die Freilassung von Deniz Yücel?

BK'in Merkel: Ich glaube, dass der Abzug aus Incirlik einfach die notwendige Folge der Situation ist, dass unsere Abgeordneten kein uneingeschränktes Besuchsrecht in Incirlik haben. Ich glaube aber, dass dieser Punkt vernünftig gelöst werden kann. Wir brauchen als Parlamentsarmee ein solches uneingeschränktes Besuchsrecht. Wir werden nach Jordanien gehen. Wir werden vorher natürlich mit unseren Partnern in der Anti-IS-Koalition darüber sprechen, wie man für eine bestimmte Zeit des Umzugs auch die Ersatzfähigkeiten bereitstellt. Dann wird dieser Umzug schnellstmöglich unter dieser Maßgabe, dass die Anti-IS-Koalition arbeitsfähig ist, natürlich durchgeführt.

Das kann auch dazu beitragen, dass man sich über diesen Punkt nicht permanent mit der Türkei auseinandersetzen muss. Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass Abgeordnete zu ihren Bundeswehrsoldaten gehen können. Man kann sich dann in den Gesprächen auf andere Punkte konzentrieren; da gibt es genügend Schwieriges. Aber ich sehe in diesem Schritt jetzt nicht eine Situation, dass sich die Dinge verschlechtern, sondern es ist einfach eine Konsequenz aus einer Situation, die die Türkei benannt hat, dass sie dieses uneingeschränkte Besuchsrecht nicht garantieren kann. Wir können in allen anderen Fragen gesprächsbereit sein. Gerade das, was der bulgarische Ministerpräsident dargestellt hat, ist auch ganz offensichtlich. Grenzsicherungen alleine reichen nicht. Wir müssen mit der Türkei im Gespräch bleiben. Wir müssen weiter die Situation der Flüchtlinge vor Ort verbessern. Wir müssen mit der Türkei über Fluchtursachen sprechen. All das gehört dazu. Die einfache Errichtung eines Zauns reicht nicht aus, um das Thema der Migration zu beherrschen. Deshalb haben wir eine ganze Reihe von gemeinsamen Interessen mit der Türkei und darüber hinaus enge wirtschaftliche Beziehungen. Insofern ist der Gesprächsfaden sehr notwendig.

Ich sehe also dieses eine Thema sehr lokalisiert. Das wird jetzt nach Jordanien verlagert. Wir werden dort die Bedingungen haben, die wir für unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen.

Zweitens. Der Wahl in Großbritannien können wir nicht vorgreifen - ich kann es jedenfalls nicht. Die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens werden entscheiden. Die Entscheidung zum Austritt aus der Europäischen Union ist getroffen. Wir gehen von dem aus, was die britische Premierministerin Theresa May uns in der Verantwortung der britischen Regierung geschrieben hat. Darauf sind die Leitlinien ausgerichtet. Ich denke, dass die Verhandlungen über den Austritt nach der Wahl zügig beginnen werden.

MP Borissov: Wir haben über das Thema Türkei gesprochen. Die Türkei ist ja unser Nachbar. Es gibt viele negative Momente in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Ich habe auch heute darüber mit der Frau Bundeskanzlerin gesprochen. Mir steht eine Reise, ein Treffen mit Präsident Erdogan und Ministerpräsident Yildirim bevor. Ich werde alles Mögliche versuchen, um die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei in Richtung einer Normalisierung zu bewegen. Das ist ein großes Land, ein wirtschaftlich sehr leistungsfähiges Land mit vielen verschiedenen Kontakten und Verbindungen, insbesondere zu Deutschland. Ich werde versuchen, alles Nötige dazu beizutragen. Es ist unerhört und darf nicht passieren, dass Journalisten festgenommen werden, dass Abgeordnete nicht zugelassen werden. Ich werde den Einfluss, den ich habe, in die Waagschale werfen. Ich kann nicht sagen, ob ich Erfolg haben werde. Aber wir werden versuchen, die Beziehungen zu unserem Nachbarn zu normalisieren.

Frage: Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, eine der wichtigsten Positionen, die der bulgarische Ministerpräsident in den letzten Tagen vertreten hat - dies war auch gestern bei seinem Besuch in Frankreich der Fall -, ist der große Wunsch Bulgariens, dass es kein Europa der zwei Geschwindigkeiten gibt, dass wir so schnell wie möglich in den Schengenraum und in den Warteraum der Eurozone aufgenommen werden. Inwieweit kann uns Deutschland in dieser Richtung unterstützen?

BK'in Merkel: Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist ja so gedacht, dass jedes Land an einer Geschwindigkeit teilnehmen kann. Das heißt, wenn Länder gerne bei etwas dabei sein möchten, wird es keinen Ausschluss der Länder geben. Das heißt, wenn Bulgarien die Voraussetzungen für Schengen erfüllt - und dies ist jedenfalls indirekt mit den Fragen der Rechtstaatlichkeit und der Korruptionsbekämpfung verknüpft -, dann ist Deutschland dafür, dass wir die Aufnahme in das Schengengebiet erreichen. Hieran werden wir sehr entschieden weiter arbeiten. Ich habe nicht ohne Bedacht die Bemühungen Bulgariens gerade auch an der Außengrenze zur Türkei außerordentlich gewürdigt, weil Bulgarien hier durchaus eine außerordentlich hohe Last trägt und eine große Verantwortung hat.

Insofern wollen wir, dass Bulgarien schnellstmöglich Mitglied von Schengen wird. Die Finanzminister, die darüber entscheiden, was mit dem Warteraum ist, werden genau darüber sprechen. Wir kennen diesen bulgarischen Wunsch. Aus unserer Sicht soll Bulgarien so schnell wie möglich alles mitmachen können. Es gibt also keine zwei Geschwindigkeiten, dass wir sagen: Bulgarien oder Rumänien dürfen nicht dabei sein. Das ist überhaupt nicht der Gedanke. Es gibt Länder, die wollen bei bestimmten Sachen nicht dabei sein. Zum Beispiel hat sich Dänemark entschieden, eben nicht bei der Innenpolitik mit dabei zu sein. Das soll möglich sein. Wir wollen keinen zwingen. Aber wer dabei sein möchte, kann selbstverständlich mit dabei sein, wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind.

MP Borissov: Nur noch von mir ein Wort dazu: Am 23. Juni bin ich nach dem Europarat wieder in Berlin und habe ein Treffen mit Vertretern von Familienunternehmen. Kleinere und mittlere Unternehmen sind ja das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Ich werde mich dort mit Finanzminister Schäuble treffen und wir werden Gespräche zum Thema Warteraum führen. Es ist auch für die Investoren sehr wichtig, die in Bulgarien besonders aus kleineren Firmen kommen, wenn Bulgarien in diesen Warteraum der Eurozone kommt. Wir werden unsere Hausaufgaben machen. Wir werden alles, was von uns erwartet wird, bis zu diesem Zeitpunkt machen, damit wir in die erste Geschwindigkeit mit hineinkommen und so dazu gehören. Wir tun alles, was nötig ist, damit das geschieht. Ich glaube, dass wir, verglichen mit einer Reihe von anderen Ländern, bis jetzt gar nicht so schlecht gehandelt haben. Wir machen weiter; das kann ich Ihnen versichern. Am 23. Juni bin ich wieder in Berlin.

Frage: Eine Frage an den Ministerpräsidenten. Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, dass die EU-Kohäsionsfonds ab 2020 an die Erfüllung von Reformauflagen geknüpft werden - sowohl im wirtschaftlichen Bereich als im Rechtsstaatsbereich. Unterstützen Sie die Konditionierung von Strukturhilfemitteln der EU?

Frau Bundeskanzlerin, aus aktuellem Anlass: Die Kernbrennstoffsteuer ist heute für verfassungswidrig erklärt worden. Sehen Sie das auch als persönliches Scheitern, weil das ja unter Ihrer früheren Regierung eingeführt wurde? Ist die schwarze Null durch die Rückzahlung an die Konzerne bedroht?

BK'in Merkel: Ich kann beginnen. Wir nehmen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts natürlich zur Kenntnis. Der Bundesfinanzminister wird jetzt das Urteil auswerten, und natürlich werden wir es dann auch umsetzen. Aber ich glaube, dass wir jetzt erst einmal die Auswertung abwarten müssen. Dann wird Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die geeigneten Vorschläge machen. Ich gehe davon aus, dass unsere großen Ziele nicht in Gefahr geraten.

MP Borissov: Was die Kohäsionspolitik betrifft, so ist meiner Meinung nach die Politik für die ganze EU gut, denn die Verbundenheit unter den Ländern gibt die Möglichkeit, unter anderem die Umwelt zu schonen und zu schützen. Wann hätten besonders die früheren sozialistischen Länder in Osteuropa so viel beim Umweltschutz machen können? Es gibt Kläranlangen; man hat Milliarden mit Hilfe von europäischen Mitteln bei uns über die Kohäsionsfonds investiert. Die Verbesserung der Infrastruktur, der Wettbewerbsfähigkeit und alle anderen Aspekte sind auch zu erwähnen.

Natürlich bin ich auch gegen das, was man häufig als eine Art Konsumeinstellung von neuen Mitgliedern nach dem Motto "Gebt uns die Gelder und wir führen unsere eigene Politik" bezeichnen kann. Dagegen bin ich ausdrücklich. Natürlich hat die nationale Politik, natürlich haben die nationalen Parlamente die Priorität. Aber wenn man einer gemeinsamen Union ist, muss man natürlich auch die Interessen der anderen Mitglieder beachten. Ich denke, dass wir in dieser Hinsicht alle Lehren ziehen und mehr Verständnis für die Belange der anderen haben können. Ich bin dafür, dass die Kohäsionsfonds fortgeführt werden. Wenn bestimmte Länder in Not sind, müssen wir auch unsererseits natürlich das Nötige leisten, um solidarisch zu sein, wie es sich in einer wirklichen Familie gehört. Es geht nicht, dass jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt und sich an Brüssel wendet, wenn es um die nächsten Zahlungen aus den europäischen Fonds geht und darum, diese abzurufen. Ich finde, das ist nicht richtig. Das ist keine richtige Einstellung. Wir haben uns auf dem Boden der Demokratie, der Oberhoheit des Gesetzes und der Freizügigkeit und des Friedens versammelt. Das sind eigentlich die Werte, um die es uns geht, und erst dann kommen die Kohäsionsfonds als Folge all dessen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Mittwoch, 7. Juni 2017

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten
der Republik Bulgarien, Boyko Borissov, am 7. Juni 2017
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/06/2017-06-07-pk-merkel-borissov.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2017

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