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NORDRHEIN-WESTFALEN/1936: Portrait - Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (Li)


Landtag intern 8/2012
Informationen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen

Portrait: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD)

Von Kristian Frigelj



In einem unbedachten Augenblick verpasst Hannelore Kraft den direkten Weg zur Macht. Die soeben wiedergewählte und vereidigte Ministerpräsidentin bedankt sich in einer kurzen Ansprache ans Parlament und kehrt vom Redepult in die Reihen der SPD-Landtagsfraktion zurück. Diesen unüblichen Weg kommentiert Landtagspräsidentin Carina Gödecke an jenem 20. Juni mit einem dezenten Hinweis: "Frau Ministerpräsidentin, Sie dürfen natürlich jederzeit im Kreis der Landtagsabgeordneten mitten im Plenum Platz nehmen, aber wenn Sie mögen, dürfen Sie nun auch auf den Platz der Ministerpräsidentin." Fröhliches Lachen im Plenum, selbst bei der Opposition, und Frau Kraft geht zu den verwaisten Regierungsbänken und setzt sich ganz rechts auf ihren angestammten Platz.

Es gibt bei ihr immer noch solche Momente der Machtvergessenheit, in denen sie auf Außenstehende besonders menschlich wirkt. Doch sie werden seltener. Denn längst ist Hannelore Kraft in ihrem Amt angekommen und wird davon vereinnahmt. Die Sozialdemokratin ist zur Landesmutter Nordrhein-Westfalens herangewachsen; sie ist unter den populärsten deutschen Politikern die Zweitbeliebteste, knapp hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie ist die Kandidatenhoffnung der SPD im Bund, für was auch immer. Man erinnert sich kaum mehr daran, dass sie 2010 auch nicht den direkten Weg zur Macht einschlug und nach einem unklaren Landtagswahlergebnis und unerquicklichen Sondierungsgesprächen zunächst lieber in der Opposition bleiben wollte.

Sie kann noch leicht die Arbeitertochter aus dem heimatlichen Stadtteil Dümpten in Mülheim an der Ruhr sein - das zeigen ihre Stadionbesuche bei Borussia Mönchengladbach. Sie sitzt jetzt zwar in der VIP-Loge und fügt sich, anfangs noch widerstrebend, den Sicherheitsrichtlinien für Spitzenpolitiker, aber sie benimmt sich wie früher auf den einfachen Sitzplätzen. Wenn Gladbach Tore schießt, springt sie auf, umarmt Sitznachbarn, klatscht Hände ab, wenn es schlecht läuft, mosert sie. Als die 51-jährige nach ihrer Wiederwahl zur Ministerpräsidentin gefragt wird, was sie zuerst "anpacken" wolle, sagt sie: "Meinen Mann." Als die Opposition sie einmal im Plenum allzu sehr piesackt, ruft sie: "Butter bei die Fische" und "Reden wir mal Tacheles." Wenige Schnörkel, etwas Schminke, mehr Kanten. Längst ist dieser im Ruhrgebiet gewachsene Klare-Kante-Charakter zum zentralen Element einer politischen Glaubwürdigkeitsstrategie geworden. Ihr Mantra lautet "versprochen, gehalten".

Authentisch

Kraft ist damit das Kunststück gelungen, eine politische Minderheit in eine neue rot-grüne Mehrheit zu verwandeln. Und auch sonst steht ihre politische Karriere in Kontrast zu den sozialdemokratischen Verläufen in Nordrhein-Westfalen. Sonst war es für die SPD in Nordrhein-Westfalen zur Tradition geworden, dass sie ihre Zugpferde in der Regierung nach Heinz Kühn im Lauf wechselte und eine dynastische Ad-Hoc-Erbschaftsfolge etablierte. Die Nachfolger kündigten sich meist früh an, drängten als Kronprinzen. Kraft hingegen kam aus der Opposition. Sie besitzt keinen politischen Masterplan hin zur Spitze, als sie 1994 in die SPD eintritt und sechs Jahre später als Direktkandidatin erstmals in den Landtag kommt. Es ist ein unbekannter Weg mit ungewisser Richtung, unbekannten Abzweigungen. Die Parlamentsnovizin hat auch Glück, bekommt seltene Chancen, nutzt günstige Gelegenheiten. Ministerpräsident Wolfgang Clement gerät in personelle Not, als sich sein Europaminister 2001 wegen einer Steueraffäre zurückziehen muss. Die damals 39-jährige Kraft hingegen ist ein Vorbild an Transparenz, sie zeigt ihre Einnahmen im Internet; die kluge Mülheimerin wirkt obendrein frisch, geradeaus, unerschrocken. Sie übernimmt später das gewichtigere Wissenschaftsressort. Vier Jahre gehört sie zum Kabinett, und wäre es wohl auch weiter geblieben, wenn nicht die Abwahl der SPD nach 39 Regierungsjahren gekommen wäre.

Sie wird nicht für den Niedergang der alten Regierungspartei verantwortlich gemacht, es müssen andere weichen. Kraft wird zur SPD-Fraktionsvorsitzenden gewählt, zur Oppositionschefin. In dieser Zeit wird der Grundstein für eine langfristige Strategie gelegt. Zwei Jahre später übernimmt sie den vakanten SPD-Landesvorsitz und reserviert sich die Spitzenkandidatur für die Landtagswahl 2010. Altvordere in der SPD betrachten sie mit Skepsis, sie die erste Frau an der Spitze, wirkt nicht wie ein political animal, ein ungewohnter Kontrast zu legendären Leitwölfen. Sie wird unterschätzt. In geselligen Runden erzählt Kraft bisweilen, dass sie einigen auf die Füße getreten sei. Jemand, der sie in kritischen Momenten weit hinter den Kulissen erlebt hat, sagt: "Sie kann ganz schön die Krallen ausfahren."

Natürlich fragt man sich, wohin das alles führen wird. Die stellvertretende Parteivorsitzende Kraft zerschlägt sehnliche Erwartungen in der SPD, sich demnächst um die Kanzlerkandidatur zu bewerben. Sie hat dies für 2013 ausgeschlossen, ebenso für 2017. Kategorisch klingt ihre Absage, ungewöhnlich für einen Politiker, logisch für eine Authentizitätsmeisterin. Keiner weiß, was passiert, wenn die SPD nicht mehr so stillhält wie in diesen Tagen, wenn sie aus allen Ecken laut zu rufen beginnt. Vielleicht kann Hannelore Kraft bestimmen, wann die Partei rufen soll. Sie macht zumindest den Eindruck, als könnte sie entscheiden, wie ihr Weg entlang der Macht verläuft.

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Quelle:
Landtag intern 8 - 43. Jahrgang, 12.09.2012, S. 19
Herausgeberin: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2012