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NORDRHEIN-WESTFALEN/2052: Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet (Li)


Landtag intern 10/2013
Informationen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen

Eine völlig neue Gesellschaft
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet - jetzt folgt die Mammutaufgabe Inklusion

Von Sonja Wand



Im Jahr 2009 ist in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten. Dabei geht es nicht mehr um die Integration von Ausgegrenzten, von Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen. Es geht um ein völliges Umdenken in der Gesellschaft. Es geht um eine inklusive Gesellschaft, also eine Gesellschaft, deren Infrastruktur in allen Bereichen so gestaltet ist, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur zusätzlich hineinpassen, sondern von vornherein ganz normal, ebenso selbstverständlich und damit gleichberechtigt dazugehören. Infrastruktur meint dabei nicht nur Wege und Gebäude, sondern auch Institutionen an sich. Nimmt man diesen Anspruch ernst, und dazu hat sich Deutschland per Unterschrift verpflichtet, bedeutet das gravierende Herausforderungen - auch für das Land Nordrhein-Westfalen.


Eine Gesellschaft, die eine Minderheit ausschließt, ob bewusst oder unbewusst, kann keine Gesellschaft für alle sein. Im Jahr 2009 zählten in Deutschland etwa zehn Prozent der Bevölkerung zur Gruppe von Menschen mit einer Behinderung. Für Menschen wie sie sind laut UN-Konvention weltweit viele Grundrechte nicht selbstverständlich, etwa eine gute Bildung, sich ungehindert von A nach B bewegen zu können, selbstbestimmt zu leben, Arbeit zu finden oder eine angemessene Gesundheitsversorgung.

Die Konvention stellt nun fest, dass die Staaten die Menschenrechte der Bürgerinnen und Bürger mit Handicaps gewährleisten müssen. Und da es sich um Menschenrechte handelt, ist das auch weder verhandelbar noch zweitrangig.

Die UN-Konvention schreibt wesentliche Grundsätze fest, darunter als erstes die Würde des Menschen, seine Autonomie und die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Auch die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen gehört zu den Grundsätzen. Ebenso sind die Einbeziehung in die Gesellschaft, die Chancengleichheit und die allgemeine Zugänglichkeit Grundsätze, ohne die eine inklusive Gesellschaft nicht denkbar ist.

Zuallererst kommt dabei die Bildung ins Spiel, denn sie eröffnet Wege, freilich nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Bisher gibt es in Nordrhein-Westfalen Förderschulen. Die meisten Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen lernen in solchen Institutionen. Manche gehen aber auch heute schon in die sogenannte Regelschule, also in die Schule, in der zum allergrößten Teil Kinder ohne (geistige) Behinderungen lernen. Nun soll es ab dem kommenden Schuljahr schrittweise einen Rechtsanspruch für alle Kinder mit Handicaps geben, eine Regelschule zu besuchen, wenn sie möchten.


Bildung

Diesen Rechtsanspruch leitet die Landesregierung aus der UN-Behindertenrechtskonvention ab. Tatsächlich wird dort der Zugang zur Regelschule als Normalfall beschrieben. Das Recht auf Bildung als Menschenrecht sei zentral für die Verwirklichung anderer Menschenrechte, heißt es dort, und das treffe auch für das gemeinsame Lernen von nicht behinderten und behinderten Kindern und Jugendlichen zu.

Darauf können sich im Grunde auch alle Fraktionen im Landtag einigen. An zwei Knackpunkten scheiden sich aber zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen die Geister. Erstens: Zugang und Rechtsanspruch bedeuten keine Pflicht zur Regelschule für Kinder mit Behinderungen. Die Eltern sollen die Wahlmöglichkeit haben zwischen Förder- und Regelschule für ihr Kind. Sie sollen selbst entscheiden können, in welcher Schulform ihr Kind und seine Entwicklung wohl besser gefördert werden. Die Sorge, dass im Zuge einer Reform der Regelschulen hin zu inklusiven Schulen die Förderschulen mehr oder weniger wegfallen und damit auch die Wahlmöglichkeit der Eltern, ist groß.


Kosten

Zweitens: das Geld. Die Städte und Gemeinden verweisen darauf, dass inklusive Schulen deutlich aufwendiger und teurer sind - beim Umbau und vor allem beim Personal, um die Kinder entsprechend zu fördern. Wenn das Land ihnen nun per Gesetz eine solche Aufgabe übertrage, müsse es den Kommunen wegen des Konnexitätsprinzips auch das Geld dafür geben. Die Finanzierungsfrage ist tatsächlich noch ungeklärt.

Übrigens: Förder-Hochschulen gibt es nicht. Menschen mit Behinderungen studieren an regulären deutschen Hochschulen, unterstützt von entsprechenden Beauftragten oder Servicestellen der Hochschulen. - Wenn sie denn studieren.

Ein Blick in die deutschsprachigen Nachbarländer zeigt, wie unterschiedlich die Inklusion vorankommt: Während in Österreich etwa die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler "mit besonderem Förderbedarf" in allgemeine Schulklassen integriert sind, ist die Inklusion in der Schweiz bisher kaum ein Thema. Der Schweizer Bundesrat hat die UN-Konvention bisher weder unterzeichnet noch ratifiziert.

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Quelle:
Landtag intern 10 - 44. Jahrgang, 27.11.2013, S. 8
Herausgeberin: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2014