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NORDRHEIN-WESTFALEN/2098: Die Landesverfassung auf dem Prüfstand - Bürgerbeteiligung erwünscht (Li)


Landtag intern 4/2014
Informationen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen

Abstand zwischen Bürger und Politik verkleinern
Die Landesverfassung auf dem Prüfstand - Bürgerbeteiligung erwünscht

Das Interview führten Sonja Wand und Christoph Weißkirchen.



Erstmalig nach 60 Jahren hat der Landtag eine Kommission zur Überarbeitung der Verfassung eingesetzt. Zwar wurde diese in der Zwischenzeit mehrmals geändert (siehe Seite 10), doch geschah dies im "normalen" parlamentarischen Verfahren. Jetzt soll einmal grundsätzlich überprüft werden, ob und inwieweit Anpassungen notwendig sind. So der Auftrag des Landtags an die Kommission. Landtag Intern sprach hierüber mit Prof. Dr. Rainer Bovermann, dem Vorsitzenden der Verfassungskommission.


Li: Wie kommt es zur heutigen Verfassungskommission?

Prof. Dr. Bovermann: In den letzten Legislaturperioden hat es immer wieder Anträge zur Änderung einzelner Artikel der Verfassung gegeben, eingebracht von unterschiedlichen Fraktionen. Hinzu kommt der Wandel der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Dadurch ist ein gewisser Beratungsdruck angewachsen. Auch wenn wir alle natürlich davon überzeugt sind, dass sich die Verfassung grundsätzlich bewährt hat.


Li: Ist die Landesverfassung teilweise aus der Zeit herausgewachsen?

Prof. Dr. Bovermann: Im Jahr 1950 wurde die Verfassung in einem ganz bestimmten historischen Zusammenhang verfasst und in einem Referendum angenommen. Der Untergang der ersten Demokratie in Deutschland Anfang der 30er-Jahre sowie zwölf Jahre Diktatur und Weltkrieg hatten ihre Spuren hinterlassen. Also baute man auf eine starke repräsentative Demokratie. Im Laufe der Zeit ist aber der Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach direkter Partizipation gewachsen. Gleichzeitig sinkt die Beteiligung an der repräsentativen Demokratie, nämlich an Wahlen. Darüber müssen wir nachdenken.


Li: Also könnten in der Verfassung künftig mehr Möglichkeiten direkter Demokratie festgeschrieben werden?

Prof. Dr. Bovermann: Das ist nur ein Aspekt, mit dem sich die Kommission beschäftigen wird. Ob die erhoffte Wirkung dann auch eintritt, ist natürlich offen. Darüber hinaus ist es sinnvoll zu überlegen, wie sich unsere heutige repräsentative Demokratie erneuern kann, wie wir mehr Wissen über und Verständnis für unsere Form des Parlamentarismus erreichen können. Über die Verfassungsdiskussion im engeren Sinne hinaus betrifft diese Debatte zum Beispiel auch die Sprache der Politik und die Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern. Schließlich geht es darum, das Interesse an Politik zu wecken und vor allem junge Menschen an die Demokratie heranzuführen.


Li: Ein konkretes Beispiel...

Prof. Dr. Bovermann: ...ist die Debatte über die Absenkung des Wahlalters. Immerhin liegt die Bildungspolitik in den Händen der Länder. Wesentliche politische Entscheidungen betreffen also genau die Menschen, die an Landtagswahlen nach derzeitigem Stand noch gar nicht teilnehmen können.


Li: Grundsätzlich geht es bei der Verfassungsdebatte also um die Organisation der Staatsgewalt?

Prof. Dr. Bovermann: Ja, der Arbeitsauftrag betrifft nur den dritten Teil der Verfassung. Wir werden also nicht die Grundwerte unserer Landesverfassung infrage stellen, sondern uns mit Fragen der repräsentativen und der direkten Demokratie befassen, aber ebenso mit dem veränderten Verständnis von Gewaltenteilung. Heute kontrolliert weniger das Parlament die Regierung als vielmehr die Opposition die Regierung und die sie tragenden Fraktionen.

Dazu gehört auch, die aktuelle Rolle des Verfassungsgerichtshofes zu erörtern, der sich vor allen Dingen mit Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen sowie der Normenkontrolle beschäftigt, der aber - anders als das Bundesverfassungsgericht - nicht von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern angerufen werden kann.


Li: Auch die Kommunen bilden einen Arbeitsschwerpunkt in Ihrer Kommission.

Prof. Dr. Bovermann: Hier wird staatliches Handeln für die Bürgerinnen und Bürger häufig unmittelbar erfahrbar. Finanziell handlungsfähige Kommunen sind also notwendig. Diese dürfen zum Beispiel bei der Schuldenbremse - auch ein Thema für die Verfassungskommission - keine Ausfallbürgen des Landes werden. Daher wird sich die Verfassungskommission mit dieser politischen Ebene beschäftigen, auch wenn sie keinen eigenen Staatscharakter hat.


Li: Stichwort Schuldenbremse: Diese ist ja mittlerweile im Grundgesetz verankert.

Prof. Dr. Bovermann: Hier haben wir zu überprüfen, ob und welche Regelungen in die Landesverfassung aufgenommen werden sollen und welchen Spielraum es überhaupt gibt. Dabei werden wir uns natürlich - wie bei vielen anderen Fragen - von externen Fachleuten beraten lassen.


Li: Haben auch die Bürgerinnen und Bürger Möglichkeiten zur Mitwirkung?

Prof. Dr. Bovermann: Das Parlament verlangt in seinem Einsetzungsbeschluss ausdrücklich effektive und umfassende Mitwirkungsmöglichkeiten für alle Bürgerinnen und Bürger. Das heißt: Jede und jeder ist eingeladen, sich einzubringen. Dies kann über Briefe und E-Mails an die Verfassungskommission geschehen. Schon heute ist die Kommission auf der Webseite des Landtags präsent. In den nächsten Monaten soll eine eigene Homepage folgen. Auch über diese Kontaktseite sind dann Stellungnahmen willkommen. Erste Vorschläge zu konkreten Verfassungsänderungen haben wir schon erhalten. Sie finden natürlich Eingang in den Beratungsprozess.


Li: Die Bürgerinnen und Bürger können sich also schon heute beteiligen.

Prof. Dr. Bovermann: Die Sitzungen der Verfassungskommission sind grundsätzlich öffentlich und werden auch live im Internet übertragen. Alle Protokolle und Stellungnahmen sollen offen zugänglich sein. Wir freuen uns also auf eigene Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger. Beides soll parallel laufen: die Beratungen in der Kommission gemeinsam mit Sachverständigen und die Anregungen der Bürgerinnen und Bürger.


Li: Auch mit dem Verfahren betritt der Landtag also Neuland?

Prof. Dr. Bovermann: Zunächst ist spannend, dass wir ergebnisoffen diskutieren können und sollen. Zweitens suchen wir eine breite Beteiligung. Immerhin könnte der Landtag am Ende auch einen Volksentscheid über mögliche Verfassungsänderungen beschließen, was eine doppelte Legitimation bedeuten würde. Drittens brauchen wir in der Kommission wie auch im anschließenden parlamentarischen Verfahren mindestens eine Zweidrittelmehrheit. Insofern bin ich optimistisch, dass wir eine an der Sache orientierte Debatte führen werden. Nicht zuletzt haben wir den Druck der Öffentlichkeit: Alle, die das möchten, können selbst bewerten, ob da Fensterreden gehalten werden oder ob man sich aufeinander zubewegt. Meinem Eindruck nach sind die Diskussionen in der Kommission ausgesprochen konstruktiv und weniger parteipolitisch gekennzeichnet. Es hat schon seinen guten Grund, dass sich die Verfassung nicht mit einfacher Mehrheit ändern lässt.


Li: Ein offener Diskussionsprozess gerade auch im Internet ist ja nicht ohne Risiken.

Prof. Dr. Bovermann: Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass es möglicherweise auch populistische Forderungen geben könnte. Ich werte aber die positiven Chancen höher als die Risiken. Insofern ist dies vielleicht für alle Beteiligten ein notwendiger Lernprozess. Jedenfalls ist es auch eine Aufgabe der parlamentarischen Demokratie, dass frei gewählte Abgeordnete mit den Bürgerinnen und Bürgern in Dialog treten und Meinungsverschiedenheiten austragen.


Li: Immerhin geht es möglicherweise auch um eine andere Verteilung von politischer Macht.

Prof. Dr. Bovermann: Es wird gegebenenfalls nicht nur Gewinner geben. Wenn etwa das Landesparlament gestärkt werden sollte, kann es sein, dass eine andere Institution Macht abgeben muss. Und wenn die Bürger mehr direkte Mitwirkungsmöglichkeiten erhalten, werden die gewählten Repräsentanten auf Einfluss verzichten müssen. Dieses Spannungsfeld müssen wir aushalten.


Li: Daneben soll eine Verfassung ja auch geprägt sein von regionalen Eigenheiten.

Prof. Dr. Bovermann: Auch wenn ich nicht weiß, ob wir NRW zum Freistaat erklären sollten - einen entsprechenden Vorschlag haben wir von Bürgerseite erhalten - so finde ich doch gut, dass in unserer Landesverfassung auch Besonderheiten wie zum Beispiel das Recht auf Arbeit und der Schutz des Kleingartenwesens enthalten sind. So etwas gehört einfach zu Nordrhein-Westfalen dazu.


Li: Wie ist nun der weitere Fahrplan der Verfassungskommission?

Prof. Dr. Bovermann: Derzeit beraten wir über den Themenschwerpunkt Parlamentarismus und Landesregierung. Nach der Sommerpause wird es um Partizipationsmöglichkeiten und um die Schuldenbremse gehen. Danach befassen wir uns mit den Kommunen und dem Verfassungsgerichtshof. Bis Anfang 2016 wollen wir als Kommission fertig sein und dem Parlament unsere Empfehlungen vorlegen. Dann schließen sich das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren und gegebenenfalls ein Referendum an.


Auf Antrag aller Fraktionen hat der Landtag die Kommission zur Reform der Landesverfassung eingesetzt. Geprüft werden solle laut Beschluss (Drs. 16/3428) zum Beispiel eine mögliche Änderung des Wahlalters, eine Stärkung der Abgeordnetenrechte, die Eidesformel, Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide sowie Beteiligungsmöglichkeiten von EU-Bürgerinnen und -Bürgern auf Landesebene.

Die Arbeiten der Verfassungskommission können im Internet über verfassungskommission.landtag.nrw.de verfolgt werden. Die E-Mail-Adresse der Kommission lautet:
verfassungskommission@landtag.nrw.de.

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Quelle:
Landtag intern 4 - 45. Jahrgang, 9.4.2014, S. 8-9
Herausgeberin: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen,
Carina Gödecke, Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2014