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NORDRHEIN-WESTFALEN/2123: Anhörung zum Hausärztemangel auf dem Land (Li)


Landtag intern 6/2014
Informationen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen

Der Druck steigt
Anhörung zum Hausärztemangel auf dem Land

Von Sonja Wand



22. Mai 2014 - In einer umfassenden Expertenanhörung haben zahlreiche Sachverständige zum Thema Ärztemangel in ländlichen NRW-Regionen Stellungnahmen und Einschätzungen abgegeben. Unter anderem ging es dabei um die Fragen, wie man die hausärztliche Versorgung in ländlichen Regionen sicherstellen und den Beruf attraktiver machen könne. Der Anhörung zugrunde lagen ein Antrag der CDU-Fraktion sowie ein Entschließungsantrag von SPD und GRÜNEN.


Bezüglich einer allgemeinen Einschätzung waren sich die Sachverständigen nicht ganz einig. "Der Mangel ist da", sagte etwa Ansgar von der Osten von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Dirk Ruiss vom Verband der Ersatzkassen dagegen sah keinen direkten Ärztemangel und warnte davor, in Hysterie zu verfallen. Differenzierter sahen es die meisten Sachverständigen: Mit Blick auf den demografischen Wandel werde sich das Problem verschärfen. Es betreffe aber weniger Fachärztinnen und -ärzte und weniger das ärztliche Krankenhauspersonal als vielmehr den Hausarzt, und diesen vor allem in ländlichen Regionen. Weil man aber nicht mehr auf einen "Speckgürtel an Krankenhäusern" (von der Osten) zurückgreifen könne, es also auch dort nicht mehr übermäßig viele fachärztliche Kräfte gebe, fehlten perspektivisch auch Fachärzte, die eine Grundversorgung mitübernehmen könnten. Und für kleine Orte gelte: Wo der Hausarzt fehle, fehle der Facharzt erst recht, gab Dr. Theodor Windhorst von der Ärztekammer Westfalen-Lippe zu bedenken.

"Wir haben keinen Arzt-Kopf-Mangel, sondern einen Arzt-Zeit-Mangel", konkretisierte Bernd Zimmer von der Ärztekammer Nordrhein. 50 bis 60 Wochenstunden und bei Bedarf noch drei Bereitschaftsdienste - dazu sei der medizinische Nachwuchs nicht mehr bereit. Wie auch immer: Demografiebedingt sei mehr Hausarzt-Zeit nicht mittelfristig notwendig, sondern übermorgen, betonte Wolfgang Meunier vom Deutschen Hausärzteverband.

Insgesamt bewertete Windhorst die landespolitischen Bemühungen als ausgesprochen positiv. Ruiss unterstrich: In keinem anderen Bundesland gebe es vergleichbare Initiativen wie das Aktionsprogramm "Hausärztliche Versorgung" - allerdings gebe es auch nirgendwo ein Patentrezept.

1. Stellschraube: Ausbildung

Um mehr junge Menschen für den Beruf der Hausärztin oder des Hausarztes zu begeistern, müsse man an den Hochschulen ansetzen, meinten einige Sachverständige. Viele forderten, die Zahl der entsprechenden Studienplätze zu erhöhen. Meunier ergänzte, wacklige Stiftungslehrstühle nutzten dabei überhaupt nichts; notwendig seien genügend Lehrstühle im ganzen Land. Gerade das Fach Allgemeinmedizin dürfe nicht nur singulär, sondern müsse an allen medizinischen Fakultäten angeboten werden, forderte Thomas May vom Wissenschaftsrat. Da im Raum Ostwestfalen-Lippe (OWL) der drohende Ärztemangel besonders hoch sei, hielt Dr. Thomas Krössin vom Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft OWL es für besonders wichtig, vor Ort auszubilden. Er lobte eine entsprechende Kooperation mit der Universität Bochum, denn dezentrale Strukturen hätten einen Klebeeffekt: Bei sechs Jahren Studium plus ggf. Promotion plus fachärztlicher Ausbildung komme man leicht auf 15 Jahre - eine Zeit, in der Menschen Wurzeln schlügen und dann auch eher bereit seien, in der Region zu bleiben.

2. Stellschraube: Unterstützung

Die Situation sei in Krankenhäusern deshalb weniger dramatisch als bei niedergelassenen Ärzten, weil sich Kliniken ganz gezielt ärztliches Personal aus dem Ausland zur Unterstützung holten, erklärte Windhorst. Jedoch wandte Meunier ein, dass diese Ärztinnen und Ärzte in ihrer Heimat ebenso gebraucht würden. Ein rumänischer Arzt, der daheim pro Patient einen Euro verdiene und einmal nach Deutschland gekommen sei, gehe allerdings verständlicherweise nur ungern zurück. Auch wegen Sprachbarrieren sah er in einer Kompensation der Ärztelücke durch ausländische Kräfte keine Lösung.

3. Stellschraube: Attraktivität

Was kann Jungmedizinerinnen und -mediziner überzeugen, sich mit einer Hausarztpraxis niederzulassen? Um diese zentrale Frage drehte sich die Diskussion immer wieder. "Das Honorar ist okay", meinte der Kölner Hausarzt Dr. Axel Kottmann ebenso wie Ruiss. Vielfach wurde auch das Aktionsprogramm "Hausärztliche Versorgung" der Landesregierung gelobt. Dieses stellt denen, die sich als Hausärzte im ländlichen Raum niederlassen, 50.000 Euro Förderung in Aussicht und fördert daneben auch Weiterbildungen. Aber: "Wenn Sie jemanden wie mir, um die 50, mit Frau und Kindern, 50.000 Euro in die Hand drücken, werden Sie ihn niemals zum Wohnortwechsel bewegen", stellte Kottmann klar. Auch Zimmer meinte, die Niederlassung an einem Ort sei eine lebenslange Entscheidung, sie trage doppelt so lange wie eine durchschnittliche Ehe. Man entscheide sich mit einer Praxisniederlassung zugleich, dort alt zu werden.

Eine andere finanzielle Frage sei aber schon relevant, gab Kottmann zu bedenken: Für junge Ärzte sei die Selbstständigkeit absolut unattraktiv. "Ich nehme nicht 100.000 Euro in die Hand und gucke dann, was passiert."

Rolle der Kommunen

Einige Sachverständige sahen Chancen, dass die Kommunen daran mitwirken könnten, Hausärztinnen und -ärzte zu überzeugen, sich bei ihnen vor Ort niederzulassen. Von der Osten etwa sprach davon, dass die Kassenärztliche Vereinigung entsprechende Medizinerinnen und Mediziner in puncto Niederlassung intensiv berieten, aber erst in einem Gesamtpaket gemeinsam mit der Kommune die besten Erfolge erziele. Stellschrauben der Kommunen sah er in Angeboten für Kinderbetreuung oder der Frage, ob Praxisräume zur Verfügung gestellt werden könnten. Windhorst sprach von einer gezielten Willkommenskultur, die seitens der Kommune gegenüber dem ärztlichen Nachwuchs notwendig sei. Ebenso wichtig sei es bei solchen Lebensentscheidungen, dass zum Beispiel für die Kinder alle weiterführenden Schulen zur Verfügung stünden, ergänzte Meunier. Allein diese Faktoren, meinte Dr. Anne Bunte vom Gesundheitsamt Köln, könnten es aber auch nicht richten: Köln gelte als attraktiv für junge Familien, habe alle relevanten Standortfaktoren - und trotzdem gebe es in manchen Stadtteilen Nachbesetzungsprobleme. Kommunen müssten maßgeschneiderte Profile für den Einzelfall anbieten, forderte Zimmer. Auch die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner müsse mitbedacht werden und in der Kommune eine Zukunft haben: "Es kann nicht sein, dass einer in Münster und einer in Düsseldorf arbeiten muss."

Die Gewährleistungsverantwortung für eine ausreichende ärztliche Versorgung liege bei der Kassenärztlichen Vereinigung und solle auch da bleiben, betonte Dr. Kai Zentara, der für die Kommunalen Spitzenverbände sprach. Wo immer möglich, würden Kommunen gern ergänzend tätig, aber das habe Grenzen: Eine Gewährung von geldwerten Vorteilen sah er kritisch. Denn ein solcher Wettbewerb unter den Kommunen bringe alle in Zugzwang und treibe die Preise für die - selbst klammen - Kommunen hoch.

Entlastung

Ein weiterer Ansatzpunkt, um hausärztliches Personal zu finden und den Beruf attraktiver zu machen, bezog sich auf Entlastungsmöglichkeiten im Arztberuf. Immer wieder sprachen Sachverständige die Möglichkeit an, bestimmte Handlungen an anderes qualifiziertes medizinisches Personal zu delegieren. Allerdings problematisierte beispielsweise Dr. Peter Potthoff von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, dass man zwar viele Versorgungsassistenten ausgebildet habe, sie aber nur in unterversorgten Gebieten einsetzen dürfe. Da die Definition von "unterversorgt" einen erheblichen Aufwand bedeute, forderte er, diese Beschränkung aufzuheben. Ruiss plädierte für eine Landesförderung bezüglich arztentlastender Tätigkeiten. Generell kranke es nicht an Ideen auf diesem Gebiet, sondern an einer zögerlichen bis ausbleibenden Umsetzung, meinte Meunier.

Arbeitszeit

Zu den Dienstzeiten erklärte der Ärztevertreter: Vor allem die häufigen Bereitschaftsdienste seien es, die junge Menschen vom Hausarztberuf abschreckten. Windhorst hingegen hielt die Zeiten dank der Notfalldienstregelungen für relativ geregelt. Auch Kottmann bestätigte, die Honorarverordnung lasse es zu, Dienstzeiten zu verkürzen und - Beispiel Gemeinschaftspraxis - trotzdem annähernd gleichviel zu verdienen. Den Arbeitszeitmangel bekämen dann allerdings die Patientinnen und Patienten zu spüren, verwies er auf lange Wartezeiten.

Vor dem Hintergrund, dass die Zukunft des ärztlichen Personals aus seiner Sicht weiblich sei, sei über Arbeitszeiten ohnehin noch einmal ganz neu nachzudenken, verwies Zimmer auf einen etwaigen Zwei-Drittel-Anteil von Frauen an der Medizin-Studentenschaft. In einer Gesellschaft, die auch noch andere Prioritäten als Arbeit habe, sei eine Wochenarbeitszeit von 37 Stunden für Frauen im Zusammenhang mit Kindererziehungszeiten nicht zumutbar. Da müsse man eher über 27 Stunden pro Woche reden.

Teams bilden

Eine große Chance sahen einige Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Gründen in der Bildung von Teams. Vorschläge reichten von der bereits genannten Gemeinschaftspraxis über Versorgungszentren bis hin zu regionalen multiprofessionellen Teams, die sowohl ärztliche als auch pflegerische Versorgung gemeinsam bewältigen könnten. Von der Osten regte beispielsweise an, Versorgungszentren nicht an fachärztliche Aspekte zu knüpfen sondern auch rein hausärztliche Zentren zu schaffen. Gemeinsam könne eine Dienstzeit von 7 bis 21 Uhr ermöglicht werden, ohne einzelne Kolleginnen oder Kollegen zu überlasten, erläuterte Meunier. Aus Schleswig-Holstein berichtete Dr. Wolfgang Wodarg, dass es dort bereits heute erfolgreiche Projekte zur kostenträgerübergreifenden Integration der für die Versorgung notwendigen Angebote in ländlichen Regionen gebe. Solche regionalen Vereinbarungen könnten eine hausärztlich-pflegerische Grundversorgung abdecken. Eine Arbeit in diesen Modellen fördere auch einen frühen Austausch der unterschiedlichen Professionen untereinander. Auch Weiterbildung lasse sich an solchen Zentren ansiedeln.

Für eine generelle Umsteuerung hin zu einer multiprofessionellen Versorgung sprach sich Prof. Dr. Doris Schaeffer aus. Die Bielefelder Gesundheitswissenschaftlerin betonte, dass die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung längst bekannt sei, nur nicht vollzogen werde. Und in der Pflege sei der Fachkräftemangel noch massiver als in der Medizin.

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Quelle:
Landtag intern 6 - 45. Jahrgang, 4.6.2014, S. 10-11
Herausgeberin: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen,
Carina Gödecke, Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2014