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AUSSEN/1173: Laudatio von Peer Steinbrück zur Verleihung des 2. Internationalen Willy-Brandt-Preises


SPD-Pressemitteilung 034/13 vom 24. Januar 2013

Laudatio von Peer Steinbrück anlässlich der Verleihung des 2. Internationalen Willy-Brandt-Preises an Jens Stoltenberg am Donnerstag, dem 24. Januar 2013, in Berlin



- Es gilt das gesprochene Wort -

Eines möchte ich aus aktuellem Anlass meiner Rede voranstellen. Im Namen der SPD und ich denke auch in Ihrer aller Namen: Unser Mitgefühl, unsere Gedanken sind heute in besonderer Weise bei den Menschen, die bei dem schrecklichen Anschlag einer islamistischen Terrorgruppe auf eine Gasanlage in Algerien zu Schaden und ums Leben gekommen sind, bei ihren Familien und ihren Freunden.

Unter den Geiseln befanden sich auch norwegische Staatsbürger. Einige von Ihnen konnten entkommen und ihr Leben retten. Doch noch immer ist das Schicksal von fünf norwegischen Staatsbürgern ungeklärt.

Lieber Jens Stoltenberg, in dieser schweren Stunde möchte ich Dir stellvertretend für die Menschen in Deinem Land, vor allem für die unmittelbar Betroffenen, ihre Familien und Freunde, unsere Verbundenheit, unsere Anteilnahme aussprechen. Als Ministerpräsident Norwegens bist Du in dieser Zeit in besonderer Weise in Deinem Land gefordert. Umso mehr wissen wir es zu schätzen, dass Du heute hier zu uns nach Berlin gekommen bist.

Der Internationale Willy-Brandt-Preis ist - ganz im Geiste Willy Brandts - eine Anerkennung, die auch dafür stehen soll, dass trotz aller Gefährdungen, trotz aller Rückschläge, es lohnt, die Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren in der Welt nicht aufzugeben. Dies war immer Willy Brandts Haltung. Wandel wagen, auch wenn es schwierig ist. Frieden wagen und für ihn arbeiten, auch wenn er in weiter Ferne scheint.

Lieber Jens, in diesem Sinne hoffe ich, dass der Internationale Willy-Brandt-Preis für Dich und Euch auch eine Auszeichnung sein kann, die Mut macht, weiter für Frieden und Verständigung zu arbeiten - auch und gerade in einer schwierigen Zeit wie dieser und angesichts einer Tragödie, die uns die Hoffnung eben auf Frieden und Verständigung schwer macht.

Der Anlass für die Verleihung des Internationalen Willy-Brandt-Preises heute an Dich ist jedoch ein anderer. Die Jury des Internationalen Willy-Brandt-Preises hat sich für Dich als Preisträger für das Jahr 2012 entschieden, weil Du in einer ebenfalls herausfordernden Situation, angesichts einer ebenfalls unfassbaren Tragödie etwas Außergewöhnliches getan hast. Etwas das nicht selbstverständlich ist. Du hast eine Entscheidung getroffen, eine Haltung eingenommen und Worte gefunden, die Deinem Land gut getan haben.

Wer frei ist, hat immer eine Alternative.
Das ist es, was uns Bürgerinnen und Bürger ausmacht, was große Staatsmänner ausmacht und ganze Völker.
Wir sind nicht Sklaven unseres Schicksals. Wir haben es selbst in der Hand, auch dann, wenn Not, Leid und Hass am größten sind und wenn am meisten auf dem Spiel steht.

Das lässt sich am Beispiel einiger der größten Staatsmänner unserer Zeit veranschaulichen.

Nelson Mandela entschied sich, 27 Jahre Haft nicht an seinen Übeltätern zu vergelten. Seine Präsidentschaft heilte und versöhnte, statt zu spalten. Das Nachbarland Zimbabwe zeigt, wie es auch anders hätte kommen können.

Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt verwarf 1944, inmitten des Krieges, den Morgenthau-Plan, mit dem das verbrecherische Deutschland in einen Agrarstaat umgewandelt werden sollte. Sein Nachfolger, Henry Truman, entschied sich für den Marshall-Plan, der Deutschland zu ungeahnter Blüte verhalf. Welch Unterschied.

Michail Gorbatschow beendete den Kalten Krieg und war maßgeblich am Gelingen der deutschen Einheit beteiligt - ohne Rücksicht darauf, dass ihn das seine Macht kosten würde.

Willy Brandt sank im Warschauer Ghetto auf die Knie, bat damit stumm um Vergebung für unsagbares Leid und bereitete dadurch den Boden für Freundschaft mit unseren östlichen Nachbarn. Was heute als staatsmännische Geste von großem Rang gilt, war damals im eigenen Land höchst umstritten.

Sie alle hatten Alternativen. Sie alle haben sich für Gewaltlosigkeit, für Freiheit und Demokratie entschieden.

Auch Jens Stoltenberg hatte eine Alternative, an diesem 22. Juli 2011 und an allen folgenden Tagen. Dem Tag, an dem 77 Menschen in Norwegen durch einen rechtsterroristischen Attentäter starben und etliche verwundet wurden. Zuerst im Regierungsviertel in Oslo. Später auf der Insel Utoya, auf der ein Feriencamp der Jugend der sozialdemokratischen Arbeiterpartei stattfand - der Partei von Jens Stoltenberg, unserer norwegischen Schwesterpartei.

Jens Stoltenberg hätte in diesem Augenblick verständlichen Gefühlen nachgehen können: Wut und Hass. Er hätte den Law and Order-Mann herausstellen können, denn wie man weiß, erhöht das in solchen Fällen die Popularität. Er hätte auch einfach nur ein ganz normaler Premierminister sein können, nicht schlechter, nicht besser, als der Durchschnitt.

Jens Stoltenberg tat etwas Unerwartetes.
Er nutzte das breite Band der Alternativen, um auszusprechen, was niemand erwartete, was aber alle ersehnten: Er setzte der Grausamkeit ein Ideal entgegen.

Jens Stoltenberg konnte nicht wissen, wie seine Landsleute reagierten, als er den Satz sprach und später wiederholte: "Norwegen wird diesen Angriff beantworten mit mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Solidarität, aber niemals Naivität". Doch es stellte sich heraus: Durch ihn sprach die Seele seines Landes.

Jens Stoltenberg gab ein Vorbild. Aber nicht entrückt von seinen Landsleuten. Sondern in ihrem Sinne. So wie wir es erhoffen von denjenigen, die wir an unserer statt entsenden, unser Land zu regieren.
Dieser Preis, den wir heute Jens Stoltenberg verleihen, der Internationale Willy Brandt-Preis, ist deshalb auch ein Preis an das ganze norwegische Volk.

Es erfordert zwar häufig eine Einzige oder einen Einzigen, um etwas gesellschaftlich voranzutreiben, aber es zu vollbringen, kann nicht ohne die Hilfe anderer gelingen.
Eine Botschaft muss auf einen fruchtbaren Boden fallen, um keimen zu können.

Umso wichtiger ist es, sich nicht auf die Größe Einzelner zu verlassen. Stattdessen müssen wir dafür sorgen, unseren Gesellschaften ein solides Fundament zu geben. Ein Fundament, das unabhängig von allen Katastrophen und unabhängig von der Qualität der Retter, stabil bleibt.

Über vieles, was dieses Fundament zusammenhält, sind sich Menschen auf aller Welt einig: Humanismus. Respekt. Und Toleranz - und zwar am besten in dem Sinne, dass Andersartigkeit nicht nur hingenommen, sondern als Bereicherung gesehen wird.

Wie erreicht man das? Aufklärung gehört dazu. Bildung. Integration. Demokratie. Und als Sozialdemokrat füge ich hinzu: Gerechtigkeit und Solidarität.

Je weniger Mitglieder einer Gesellschaft abgehängt werden;
je mehr davon profitieren, dass die Flut nicht nur die Yachten, sondern auch die Fischerboote hebt;
je sicherer sich die Bürgerinnen und Bürger fühlen;
je größer die Aufstiegschancen für alle sind;
je größer also der gesellschaftliche Zusammenhalt ist,
desto stabiler wird eine Gesellschaft sein.
Desto mehr wird sie Gefahren widerstehen und die Herausforderungen eines ständigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels meistern - mögen sie noch so groß sein.

In diesem Lichte betrachtet, ist es keine Überraschung, dass gerade die norwegische Gesellschaft auf die Anschläge vom 22. Juli 2011 derart besonnen und würdevoll reagiert hat. Ein sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat seit vielen Jahrzehnten. Eine Gesellschaft, die sich nicht als Ellbogengesellschaft versteht. Eine Gesellschaft, die so egalitär ist, dass sie selbstbewusst und angstfrei reagieren kann.

Eine Gesellschaft auch des Wir, mehr als des Ich. Was sich nach den Anschlägen darin spiegelte, dass viele Norweger ausdrücklich dieses "Wir"-Gefühl erwähnten. Und gerade in Zeiten der Gefahr wird auch dem Letzten klar, dass es ohne die Gemeinschaft nicht geht, dass wir alle aufeinander angewiesen sind und es deshalb auf alle von uns ankommt.

Natürlich ist auch die norwegische Gesellschaft nicht frei von Problemen, von Egoismus, von rechtem Gedankengut. Aber als es darauf ankam, hat das ganze Land in vorbildlicher Weise gezeigt, wofür es steht: Für Zusammenhalt, Toleranz und Liberalität.

"Dugnad" ist ein alter norwegischer Begriff; er bedeutet, etwas freiwillig für andere zu tun. Es ging ehemals um Nachbarschaftshilfe. Aber in einer globalisierten Welt brauchen wir eine Definition von Dugnad, die weit über die eigene Nachbarschaft hinaus geht. Die Probleme sind globaler. Also müssen auch die Lösungen globaler ansetzen.

Auch diesbezüglich sind Jens Stoltenberg und die norwegische Gesellschaft vorbildlich. Sie weiten die Nachbarschaftshilfe zu einer Hilfe über die nationalen Grenzen hinweg aus.

Norwegen engagiert sich in bemerkenswerter Weise für die schwächsten Menschen weltweit, für gerechte Entwicklungschancen und eine bessere Gesundheitsversorgung. Lieber Jens Stoltenberg, immer wieder hast Du diese Themen aufgerufen und im Rahmen der vereinten Nationen vorangebracht. Hinzu kommt das außergewöhnliche Engagement Deiner Regierung für Rüstungskontrolle. Ihr wart die treibende Kraft dafür, dass ein Abkommen zum Verbot von Streubomben auf den Weg gebracht wurde, der sogenannte Oslo-Prozess.

Ich bin der Auffassung: Abrüstungspolitik, die nichts anderes als vorausschauende Friedenspolitik ist, gehört noch viel stärker in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit - in Europa, weltweit und im übrigen auch bei uns in Deutschland.

Jens Stoltenberg und sein Land haben verstanden, dass Frieden und Freiheit nicht durch Abschottung zu erreichen sind. Alles hängt mit allem zusammen. Wer nur retten will, was zu retten ist, wird alles verlieren.

Es wird sich wohl nie verhindern lassen, dass unsere Werte durch terroristische Akte auf die Probe gestellt werden. Aber wir können verhindern, dass sie unsere Werte in Frage stellen.

Dazu müssen wir mutig in die Offensive gehen und das heißt, Tag für Tag für unsere Werte zu streiten. Zu Hause und in der ganzen Welt. Und unsere Werte nicht nur vor uns herzutragen, sondern sie auch zu leben.

Das ist das Vermächtnis von Willy Brandt.
Deshalb verleihen wir diesen Preis.
Und deshalb ist unser heutiger Preisträger Jens Stoltenberg.

Lieber Jens,
Dein Vater Thorvald Stoltenberg, der uns aus seiner Zeit als norwegischer Außen- und Verteidigungsminister noch in guter Erinnerung ist und der bis heute engen Kontakt zur SPD pflegt, war gut mit Willy Brandt bekannt. Ich bin sicher, für ihn ist es eine besondere Freude, dass Du heute im Namen Willy Brandts ausgezeichnet wirst. So wie es auch für Willy Brandt eine besondere Freude gewesen wäre.
Bitte bestell Deinem Vater unsere herzlichen Grüße. Uns alle freut es sehr, dass Du der zweite Träger des Internationalen Willy-Brandt-Preises bist.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 034/13 vom 24. Januar 2013
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2013