INNEN/3073: Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion - Zeit zu handeln, Mut zu mehr Fortschritt in Europa
SPD-Pressemitteilung vom 6. September 2019
Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion - Klausur am 5./6. September 2019
Zeit zu handeln - Mut zu mehr Fortschritt in Europa
Sozialdemokratische Impulse für die neue europäische Legislaturperiode und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020
Europa steht vor wichtigen Weichenstellungen. In der neuen
europäischen Legislaturperiode muss es gelingen, die dringend
notwendigen Reformen und Fortschritte in Europa erfolgreich
voranbringen. Angesichts eines mehr und mehr von Unsicherheit
gekennzeichneten internationalen und ökonomischen Umfelds sowie des
fortschreitenden Klimawandels kann es sich Europa nicht leisten,
weitere Zeit verstreichen zu lassen. Die demokratischen und
fortschrittswilligen Kräfte in Europa müssen jetzt zügig und gemeinsam
handeln - für mehr Investitionen in nachhaltiges Wachstum und
zukunftsfähige Jobs in einem sozialen Europa, für mehr
Steuergerechtigkeit in Europa, für eine starke und wehrhafte
europäische Demokratie und für ein Europa des Friedens und der
humanitären Verantwortung. Wir wollen, dass dafür insbesondere auch
die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr starke Impulse
gibt. Was Europa jetzt braucht, ist ein gemeinsamer Kraftakt der
Fortschrittswilligen.
Unsere Kernforderungen für die kommenden Jahre sind:
- Wir wollen Europa mit einer neuen "Europa2030-Strategie" zum Vorreiter für nachhaltiges Wirtschaften, Zukunftsinvestitionen und sozialen Zusammenhalt machen.
- Wir wollen einen ambitionierteren europäischen Klimaschutz, etwa indem das EU-Klimaschutzziel von 40 auf 50-55 Prozent Treibhausgasminderung bis 2030 angehoben wird und wir eine sozial gerechte CO2-Bepreisung auch für jene Sektoren schaffen, die bisher nicht vom EU-Emissionshandel erfasst sind, aber selbstverständlich perspektivisch einbezogen werden müssen.
- Wir wollen ein verbindliches EU-Sozialprogramm auf den Weg bringen, unter anderem auch durch einen Rahmen für existenzsichernde Mindestlöhne und Grundsicherungssysteme in der EU. Mit einer Arbeitslosenrückversicherung wollen wir zugleich eine solidarische Absicherung im Krisenfall und einen makro-ökonomischen Stabilisierungsmechanismus schaffen.
- Wir wollen die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion erfolgreich abschließen und insbesondere auch ein starkes Investitionsbudget für die Eurozone durchsetzen. Die Banken- und Kapitalmarktunion wollen wir vervollständigen, um die Finanzierungsbedingungen für die europäische Realwirtschaft zu verbessern, Lücken für einen Deregulierungswettbewerb zu schließen und das Geld der Steuerzahler zu schützen.
- Wir wollen einen echten Zukunftshaushalt für die EU vereinbaren und werden dabei Deutschlands erklärte Bereitschaft, mehr in Europa zu investieren, in den Verhandlungen weiter untermauern. Wir wollen, dass sich Europa der neuen geopolitischen Lage und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gemeinsam stellt, indem wir die Europäischen Öffentlichen Güter gemeinsam organisieren und finanzieren, insbesondere auch im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens und damit den europäischen Mehrwert und den europäischen Zusammenhalt stärken.
- Wir wollen unsere Initiative für globale Steuergerechtigkeit weiter vorantreiben: Mit Europas gemeinsamem Gewicht werden wir uns für globale Mindestsätze bei der Besteuerung von Großunternehmen - insbesondere auch der Internet-Giganten - einsetzen. Bei einer Einigung wollen wir dann unter unserer EU-Ratspräsidentschaft mit der verbindlichen Umsetzung in Europa beginnen. Sollte dies nicht gelingen, wollen wir eine europäische Digitalsteuer durchsetzen. Im kommenden Jahr werden wir eine Finanztransaktionssteuer nach französischem Vorbild im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit einführen.
- Wir wollen eine ökologische Wende in der EU-Agrarpolitik, die die Agrarförderung an dem Prinzip "öffentliches Geld für öffentliche Güter" ausrichtet.
- Wir wollen die europäische Demokratie stärken, indem wir transnationale Listen und das Spitzenkandidaten-Prinzip für die nächste Europawahl absichern.
- Wir wollen Europa als Friedenskraft stärken, indem wir Abrüstung und Rüstungskontrolle zu einem strategischen Kernanliegen auch der EU machen und uns einer neuen atomaren Aufrüstungsspirale in Europa und weltweit entgegenstellen.
- Wir wollen endlich Fortschritte hin zu einer verantwortungsvollen gemeinsamen Migrations- und Flüchtlingspolitik der EU schaffen, wobei nötigenfalls eine Gruppe von verantwortungsbewussten Staaten vorangehen sollte. Wir brauchen zudem ein neues europäisches Seenotrettungsprogramm, um das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden.
Den europäischen Zusammenhalt stärken - in Zeiten großer Herausforderungen
Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind ohne Zweifel
enorm. Die globale Klimakrise wird in ihren Folgen zunehmend auch in
Europa spürbar und kann nicht anders als durch eine noch deutlich
ambitioniertere europäische Politik für nachhaltiges Wachstum und
Klimaschutz beantwortet werden. In der internationalen Politik kehren
überwunden geglaubte geopolitische Auseinandersetzungen zurück.
Insbesondere die zunehmende Konfrontation zwischen den globalen
Großmächten USA und China hat das Potential, die Stabilität der
internationalen Ordnung aus den Angeln zu heben. Zusammenarbeit und
Multilateralismus geraten zugleich durch einen neuen Autoritarismus
und Nationalismus unter Druck, der auch in Europa selbst Fuß fasst.
Nach der Kündigung des INF-Vertrages zum Verbot atomarer
Mittelstreckenraketen durch Russland und die USA droht eine neue
atomare Aufrüstungsspirale in Europa und weltweit.
Hinzu kommt: Der bevorstehende Brexit ebenso wie internationale
Handelskonflikte schüren erhebliche Unsicherheit auch für die
europäische Wirtschaft. Die Anzeichen für eine sich abschwächende
Dynamik der Weltwirtschaft verdichten sich. Umso wichtiger ist es
gerade für die deutsche Exportwirtschaft, dass Investitionen und
Nachfrage im europäischen Binnenmarkt angekurbelt werden und sich
Europa mit gemeinsamer Kraft für freien und fairen Handel weltweit
einsetzt. Zugleich stellt sich die dringliche Aufgabe, die gewachsene
Ungleichheit und die sozialen Spaltungen in Europa endlich abzubauen -
auch um den Rechtspopulisten und neuen Nationalisten den Nährboden zu
entziehen, auf dem sie Ängste schüren und Bevölkerungen und
gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufhetzen.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen - für eine Phase des Fortschritts in Europa
Auch wenn die Herausforderungen groß sind, hat Europa alle
Möglichkeiten sie zu meistern, wenn es noch enger zusammensteht und
auf die Kraft seiner Einheit vertraut. Die politischen
Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament mögen nach der
Europawahl unübersichtlicher geworden sein. Auch haben
Rechtspopulisten und Nationalisten über ihre Beteiligung an
Regierungen in Europa mehr Blockademöglichkeiten als in der
Vergangenheit. Dessen ungeachtet verfügen die demokratischen und
pro-europäischen Parteien in Europa aber noch immer über eine
politische Gestaltungsmehrheit, die es mutig und entschlossen zu
nutzen gilt. Die Zeit drängt.
In den letzten Jahren haben wir bereits wichtige Reformen in Europa
angestoßen, etwa zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion, zur
Steigerung von Investitionen oder zur besseren Bekämpfung von
Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten haben dafür vielfach die entscheidenden Impulse
gegeben und Blockaden der Vergangenheit gelöst - sei es im
Europäischen Parlament oder sei es als Teil der Bundesregierung. Doch
noch längst sind nicht alle notwendigen Reformschritte unter Dach und
Fach.
Das gilt für die Stärkung der Währungsunion mit einem eigenen
Eurozonen-Haushalt genauso wie für eine verbindliche Sozialagenda oder
für eine effektive Mindestbesteuerung von Unternehmen, insbesondere
der Internet-Giganten. Auch bedarf es in einigen Bereichen deutlich
höherer Ambitionen, etwa damit Europa seinem eigenen Anspruch als
Vorreiter im Klimaschutz auch wirklich gerecht wird. Bei diesen und
etlichen weiteren Aufgaben sind Weichenstellungen und Ergebnisse in
den nächsten Jahren dringend erforderlich. Insbesondere wollen wir
dabei die deutsch-französische Partnerschaft noch weiter stärken, um
im engen Zusammenspiel mit weiteren Partnern die notwendigen
europäischen Impulse zu geben.
Auch tragen wir dafür Sorge, dass die bestehenden Strukturen und
Formate der bilateralen deutsch-französischen Zusammenarbeit mit Leben
gefüllt werden. Hinzu kommt die Herausforderung durch den Brexit:
Wichtig ist, dass die EU an ihrer klaren Verhandlungslinie gegenüber
Großbritannien festhält und sich auch weiterhin nicht
auseinanderdividieren lässt. Natürlich gebietet die Vernunft, die Tür
für eine gemeinsame Lösung mit Großbritannien nicht zuzuschlagen.
Politische Rabatte, die dem Zusammenhalt Europas und des europäischen
Binnenmarktes widersprechen, darf es aber nicht geben.
Bei alledem ist uns klar: Wer Europa stärken will, muss auch bereit
sein, in Europa zu investieren. Deutschlands Zukunft ist auf das
Engste mit Europas Zukunft verknüpft. Europa ist und bleibt unser
bester Garant und wichtigster Handlungsrahmen dafür, dass wir uns eine
gute Zukunft in Frieden und Wohlstand erarbeiten können. Um dieses
Ziel zu erreichen, haben wir im Koalitionsvertrag die Bereitschaft
unterstrichen, dass Deutschland auch im eigenen Interesse mehr als
bisher zu einem reformierten gemeinsamen Haushalt der EU beisteuert.
Diese Bereitschaft gilt es nun in den weiteren Verhandlungen über den
nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (MFR) Schritt für Schritt
weiter zu untermauern.
Natürlich wird es alles andere als einfach, einen neuen europäischen
Aufbruch zu schaffen.
Dass es nicht leicht wird, darf aber nicht dazu führen, dass die
demokratischen Kräfte in Europa resignieren oder sich im Klein-Klein
verhaken. Das Gegenteil ist notwendig: Ein gemeinsamer europäischer
Kraftakt der Fortschrittswilligen. Darauf kommt es in der neuen
Legislaturperiode mehr denn je an. Dafür wollen wir als
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Impulse geben. Und dafür
wollen wir auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr
2020 nutzen. Wir wollen sie zu einer Phase des Fortschritts in und für
Europa machen.
Dabei setzen wir klare Prioritäten:
1. Ein Pakt für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in Europa
2. Eine europäische Initiative für mehr Steuergerechtigkeit
3. Eine starke und wehrhafte europäische Demokratie
4. Ein Europa des Friedens und der humanitären Verantwortung
1. Ein Pakt für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in Europa
Wir wollen mit einem Pakt für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit eine
umfassende europäische Agenda der Innovation und sozial-ökologischen
Transformation auf den Weg bringen. Unsere Botschaft ist, dass
Nachhaltigkeit Chancen bietet, neue Wege der Wertschöpfung zu
erschließen, unseren Wohlstand zu sichern und Europa zukunftsfest
aufzustellen. Wir wissen längst, dass sich Investitionen in Umwelt-
und Klimaschutz lohnen und dass eine werteorientierte Finanz- und
Wirtschaftspolitik internationale Wettbewerbsfähigkeit sichert. Wir
müssen aber auch politisch durchsetzen, dass soziale und ökologische
Nachhaltigkeitsaspekte verbindlich in wirtschaftlichem Handeln
verankert werden. Dazu brauchen wir auch gute und faire
Handelsabkommen zur Gestaltung der Globalisierung, die Umwelt- und
Klimaschutz, Arbeits- und Sozialstandards, Gleichstellung und
Menschenrechte nicht nur festschreiben, sondern auch wirkungsvoll um-
und durchsetzen können.
Die Herausforderungen der Digitalisierung, Dekarbonisierung,
Globalisierung und des demografischen Wandels werden wir weder den
Marktkräften überlassen, noch sie allein durch nationale politische
Maßnahmen und Initiativen bewältigen können. Mehr denn je brauchen wir
dazu ein starkes, nachhaltiges und gerechtes Europa. Nach den Jahren
der Krisenbewältigung gilt es das Paradigma der reinen Sparpolitik in
Europa zu überwinden und Europas Prioritäten entlang einer
vorausschauenden Zukunfts- und Investitionspolitik auszurichten, die
Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Innovation und soziale Gerechtigkeit
verbindet. Das gemeinsame Europa muss im 21. Jahrhundert seine
Legitimation und politische Begründung mehr denn je aus seiner
gemeinsamen Kraft zur Zukunftsgestaltung beziehen.
a) Agenda für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung
- Europa2030-Strategie: Wir wollen, dass die EU eine "Europa2030-Strategie" vereinbart, die nach dem Auslaufen der bisherigen "Europa2020-Strategie" ein neues umfassendes sozial-ökologisches Fortschrittsprogramm für die EU festschreibt. Dafür müssen bindende Ziele für gute Arbeit, sozialen Fortschritt und nachhaltiges Wachstum im europäischen Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik verankert werden, wobei es insbesondere auch die UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable-Development-Goals, SDGs) zu berücksichtigen gilt.
- Ambitionierter Klimaschutz und gerechte Transformation: Im Sinne der Generationengerechtigkeit und des Erhalts unseres Planeten setzen wir uns dafür ein, dass das europäische Klimaschutzziel auf 50-55 Prozent Treibhausgasminderung bis 2030 (gegenüber 1990) angehoben wird und die EU ein Klimaschutzrecht schafft, das die verschiedenen Sektoren daraufhin umfassend ausrichtet. Dazu gehört für uns auch, dass der bestehende europäische Emissionshandel gestärkt wird und wir auch in Europa in Ergänzung zum Ordnungsrecht eine sozial gerechte CO2-Bepreisung für die Sektoren entwickeln, die vom Emissionshandel nicht erfasst sind. Kontraproduktive Anreize, die zum Beispiel von Steuern und Subventionen ausgehen, müssen beseitigt werden. Wir werden dem Fliegen europaweit einen angemessenen Preis geben, da das bisherige System der Bepreisung zu erheblichen Fehlanreizen führt. Bis zu einer europäischen Regelung für einen angemessenen Preis fürs Fliegen werden wir auf nationaler Ebene dafür sorgen, dass die Billigtickets der Fluggesellschaften der Vergangenheit angehören. Die Einnahmen auf europäischer und nationaler Ebene sollten insbesondere dafür eingesetzt werden, Technologien für einen emissionsfreien Flugverkehr in Deutschland und Europa zu entwickeln. Ab 2020 sollte es auf europäischer Ebene eine verbindliche Quote für die Beimischung von auf Wasserstoff basierendem CO2-freien PtL-Kerosin (Power to Liquid-Kerosin) für den Luftverkehr geben. Zugleich ist für uns klar: Eine ambitioniertere EU-Klimaschutzpolitik muss zusammen mit einer besseren europäischen Strukturstärkungspolitik entwickelt werden. Mit einem EU-Transformationsfonds wollen wir deshalb strategische Investitionen zur Erreichung der Treibhausgasneutralität bis 2050 fördern, hochwertige Beschäftigung und Weiterbildung stärken und in Regionen des Strukturwandels neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnen.
- Schutz von Natur und Umwelt: Wir treten für eine ökologische Wende in der EU-Agrarpolitik ein, die die Agrarförderung an dem Prinzip "öffentliches Geld für öffentliche Güter" orientiert und an Kriterien der Nachhaltigkeit, der ländlichen Entwicklung und des Tier-, Natur-, Klima- und Umweltschutzes bindet. Auch wollen wir angesichts der Auswirkungen des Klimawandels den Schutz von Waldökosystemen und den nachhaltigen Waldumbau zu klimatoleranten Mischwäldern mit überwiegend heimischen Baumarten durch europäische Maßnahmen flankieren - etwa mit einem EU-Soforthilfeprogramm, das vor allem Kleinstwaldbesitzer unterstützen soll oder mit dem Aufbau einer Krisenreserve für Extremwetterereignisse. Zur Finanzierung muss die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU entsprechend neu ausgerichtet werden. Dem Verlust der biologischen Vielfalt wollen wir ein Ende bereiten. Dafür halten wir an unserem Ziel eines eigenständigen EU-Naturschutzfonds fest, damit in europäischen Schutzgebieten Schutz und Pflegemaßnahmen, Artenhilfsprogramme und weitere Maßnahmen zum Erhalt der biologischen Vielfalt gefördert werden. Wir gehen engagiert gegen überflüssiges Plastik und die Vermüllung der Meere vor und setzen uns für eine global verbindliche Internationale Kunststoffkonvention ein. Abfallvermeidung stärken wir durch die Ausweitung von Pfand- und Mehrwegsystemen, sowie europaweit verbindlichen Anforderungen an eine abfallvermeidende und recyclingfreundliche Produktgestaltung. Probleme an der Schnittstelle zwischen Chemikalien-, Produkt- und Abfallrecht wollen wir beseitigen, um Recycling und Wiederverwendung voranzubringen und die Kreislaufwirtschaft im Interesse von Klima- und Ressourcenschutz zu stärken.
b) Agenda für gute Arbeit und ein soziales Europa
- Ein verbindliches EU-Sozialprogramm: Wir wollen die konsequente Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte auf nationaler und europäischer Ebene. Kernelement ist für uns ein Rechtsrahmen für existenzsichernde Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten, die mindestens 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns betragen sollten. Von ihnen profitieren würden insbesondere auch Frauen, die europaweit im Durchschnitt noch immer 16 Prozent weniger verdienen als Männer. Ebenso treten wir für einen Rechtsrahmen zur Stärkung der sozialen Grundsicherung in Europa ein. Zudem wollen wir wirksame EU-Regeln gegen Sozialdumping, beispielsweise bei der Vergabe von Unteraufträgen, bei Briefkastenfirmen, bei vorgetäuschter Entsendung von Arbeitskräften und bei Scheinselbstständigkeit. Auch gilt es die Flucht aus der Beschäftigten-Mitbestimmung durch Verschmelzung, Spaltung und/oder Umwandlung von Unternehmen wirksam europäisch zu unterbinden.
- Arbeit 4.0 als europäische Zukunftsaufgabe: Wir wollen, dass die Zukunft der Arbeit ein Schlüsselthema auch für die europäische Politik wird. Ein gestärkter Beschäftigtenschutz, der dem Trend zum gläsernen und jederzeit abrufbaren Angestellten einen Riegel vorschiebt, auch ein besserer Beschäftigtendatenschutz sowie eine europäische Initiative zur Stärkung von Weiterbildung sind dabei wichtige Schwerpunkte. Als einen ersten konkreten Schritt wollen wir eine EU-Richtlinie zum Schutz von Beschäftigten bei Online-Plattformbetreibern durchsetzen. Generell wollen wir die Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften in Europa als zentrales Element der Demokratie in Unternehmen stärken, besonders auch in Unternehmen europäischen Rechts.
- Europa der Gleichstellung: Wir wollen die Lohn- und Rentenlücke zwischen Frauen und Männern durch die Vereinbarung verbindlicher Ziele und durch ein EU-weites Lohngerechtigkeitsgesetz schließen, das für Transparenz sorgt und Verstöße sanktionieren kann. Wir setzen uns zudem dafür ein, dass die seit Jahren blockierte Richtlinie für eine EU-weite Quote für Frauen in Aufsichtsräten endlich angenommen wird. Deutschland hat die Istanbul-Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen am 1. Februar 2018 ratifiziert. Neben der Ratifizierung und vollständigen Umsetzung der Konvention durch alle EU-Mitgliedstaaten werden wir uns für eine EU-weite Strategie zur effektiven Bekämpfung häuslicher und sonstiger Gewalt gegen Frauen stark machen.
c) Agenda für europäische Zukunftsinvestitionen
- Vorfahrt für Investitionen: Der vor uns liegende Strukturwandel lässt sich nicht mehr durch eine punktuelle Optimierung erreichen - viele Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten müssen neu gedacht und organisiert werden. Für die sozial-ökologische Transformation werden in erheblichem Umfang Investitionen nötig sein - Investitionen in physische Infrastruktur, Anlagen, Technologien, aber auch in die Neuorganisation von Prozessen und in die Schaffung neuen Wissens. Nach Jahren der Sparpolitik sowie auch angesichts einer sich eintrübenden wirtschaftlichen Dynamik ist eine mutige und vorausschauende nationale und europäische Investitionspolitik wichtiger denn je. Diese muss sich genauso auf eine moderne bedarfsgerechte Infrastruktur und Daseinsvorsorge in Europa wie auf Innovation und technologische Führerschaft in Schlüsselbranchen der industriellen Wertschöpfung beziehen. Investitionen in grüne Technologien ("GreenTech"), in erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit haben dabei einen besonderen Stellenwert. Aus diesem Grund sollte der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch mehr Spielräume für nachhaltige Zukunftsinvestitionen ermöglichen. Das EU-Investitionsprogramm "InvestEU" sollte noch deutlicher auf nachhaltige Zukunftsinvestitionen ausgerichtet werden und hierfür zusätzliche finanzielle Spielräume erhalten. Auch sind wir dafür, dass die Europäische Investitionsbank als "Nachhaltigkeitsbank" der EU verstärkt in nachhaltiges Wirtschaften investiert. Die Reform der Eurozone wollen wir erfolgreich abschließen und insbesondere ein starkes Investitionsbudget für die Eurozone im nächsten EU-Haushalt verankern, das - aufbauend auf den deutsch-französischen Arbeiten - Reformen unterstützt, Investitionen ankurbelt und in Krisen stabilisierend wirken kann. Mit einer Arbeitslosenrückversicherung wollen wir ein Instrument der automatischen Stabilisierung im akuten Krisenfall schaffen, ohne dass es dabei zu dauerhaften Transfers kommt. Wir wollen zugleich die Banken- und Kapitalmarktunion vervollständigen, um zum einen den europäischen Unternehmen und Verbrauchern einen effizienteren, besseren und kostengünstigeren Zugang zu Finanzierungen und anderen Bankdienstleistungen zu ermöglichen - dies erhöht das Wachstumspotenzial in Europa und verbessert die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Zum anderen tragen wir so zur Verbesserung der Reaktionsfähigkeit Europas auf Konjunkturzyklen bei. Schließlich sorgen wir durch die Festlegung eines einheitlichen, strengen Regulierungsrahmens für Banken und Kapitalmärkte dafür, dass mögliche Schlupflöcher für Standortwettbewerb durch Deregulierung innerhalb der EU wirksam geschlossen werden.
- Starke und nachhaltige Industriepolitik: Wir wollen mehr gemeinsame industriepolitische Modellprojekte, um Europas technologisches Innovationspotential besser auszuschöpfen und auf den Märkten der Zukunft konkurrenzfähiger zu werden. Wir werden erfolgreiche industriepolitische Projekte in die breite Anwendung überführen und dafür die ordnungsrechtlichen Rahmenbedingungen in der Europäischen Union schaffen. Ein wichtiger Zukunftsmarkt ist die Brennstoff- und Batteriezellenfertigung sowie die grüne Wasserstoffwirtschaft. Wir wollen die europäischen Handelsbeziehungen zu den entsprechenden Rohstoffländern unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten überprüfen und nachhaltig ausrichten. Ebenso werden wir ein entsprechendes Recycling der Batterien in Europa sicherstellen und hierfür die Erfahrungen vorangegangener Projekte auswerten. Die Ergebnisse von laufenden Vorhaben auf den Feldern der künstlichen Intelligenz, einer modernen digitalen Infrastruktur in Europa und eines möglichen Aufbaus transnationaler europäischer Online-Plattformen sollen zusammengeführt und gemeinsam weiterentwickelt werden, verbunden mit dem Ziel, sie europaweit im Sinne des Gemeinwohls zu implementieren. Wir wollen eine nachhaltige Digitalisierung, bei der die Interessen von Mensch und Umwelt im Mittelpunkt stehen. Die Kernfrage lautet: Warum sollten wir Europäer die Erzeugung von "grünem" Stahl, eine nachhaltige Chemieprodukten oder einen emissionsfreien Luftverkehr anderen Wettbewerbern überlassen? Mit einem Europäischen Innovationsrat zur Förderung bahnbrechender (disruptiver) Ideen und Konzepte wollen wir eine zentrale Anlaufstelle schaffen, um Forschung, Innovationen und deren Markteinführung mit EU-Fördergeldern sowie auch unter Einbindung von privaten Geldgebern zusätzlich zu unterstützen. Wir begrüßen die Arbeiten der Europäischen Kommission hieran und befürworten eine feste Verankerung dieses neuen EU-Förderinstruments im nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU. Angesichts der zunehmend offensiven Industriepolitik anderer Wirtschaftsmächte gehört in den kommenden Jahren eine strategische europäische Exportförderung wie auch ein effektiver Außenschutz der europäischen Industrie und des Binnenmarktes auf die Tagesordnung. Unter anderem bedarf es einer Weiterentwicklung des Kartellrechts, indem bei kartellrechtlichen Entscheidungen der Wettbewerb von außen, insbesondere aus Asien und den Vereinigten Staaten, stärkere Berücksichtigung findet. Der Aufbau global wettbewerbsfähiger europäischer Champions muss möglich sein. Im europäischen Binnenmarkt wollen wir zugleich die Rechte und Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher mit einer Verbraucheragenda 5.0. weiter stärken und eine durchsetzungsfähige Europäischen Agentur für Verbraucherschutz aufbauen, die Verbraucherrechte bei EU-weiten Verstößen behördlich unterstützt.
- Ein Zukunftshaushalt für die EU: Den künftigen EU-Haushalt wollen wir konsequent auf Zukunftsinvestitionen, die Bekämpfung des Klimawandels und eine Stärkung des sozialen und territorialen Zusammenhalts in Europa ausrichten. Die Ausgaben sollten zudem auf europäische öffentliche Güter mit einem konkreten Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger konzentriert werden. Für den regionalen Zusammenhalt ist die 2. Säule der GAP (ländliche Entwicklung) zu stärken. Besonders wichtig ist uns, dass die Förderinstrumente im Bereich Bildung und Forschung (Horizont Europa und Erasmus+) gestärkt werden. Die Mittel für das erfolgreiche Austauschprogramm Erasmus+ sollten massiv erhöht und das Programm auch für Azubis und sozial benachteiligte junge Menschen geöffnet werden. Auch die Mittel für die europäische Jugendgarantie, die dafür sorgt, dass junge Menschen in Ausbildung und Weiterbildung kommen, statt in die Arbeitslosigkeit zu fallen, müssen weiter aufgestockt werden. Die EU-Struktur- und Kohäsionspolitik muss so aufgestellt und ausgestattet sein, dass sie den Zusammenhalt Europas effektiv stärkt und auch die Regionen in Deutschland hiervon weiterhin profitieren können. Zugleich sollten die Strukturfonds auch für neue Aufgaben genutzt werden können, etwa für eine zusätzliche europäische Förderung von sozialem Wohnungsbau oder von Kommunen, die in der Flüchtlingsaufnahme engagiert sind.
2. Eine europäische Initiative für mehr Steuergerechtigkeit
Mehr Steuergerechtigkeit zu schaffen, muss zu einem Kernprojekt der EU
in den kommenden Jahren werden. Trotz wichtiger Fortschritte bei der
Bekämpfung von grenzüberschreitenden Gewinnverlagerungen (Umsetzung
der BEPS-Empfehlungen der OECD) nutzen internationale Großkonzerne
noch immer die unterschiedlichsten Schlupflöcher, um ihre Gewinne auf
Kosten der Gemeinschaft kleinzurechnen, in Staaten mit niedrigen
Steuersätzen zu verschieben und letztlich so wenig Steuern zu zahlen
wie möglich. Gerade auch die Internet-Giganten um Google, Facebook,
Amazon und Co schaffen es bisher bei hohen Milliardengewinnen zugleich
nur verschwindend geringe Steuern zu zahlen, gerade auch in Europa.
Damit muss Schluss sein und es muss eine gerechte Besteuerung
gewährleistet werden. Diese zusätzlichen Steuereinnahmen können dann
in Bildung und Forschung, starke Kommunen oder eine gute Infrastruktur
für die Bürgerinnen und Bürger investiert werden. Deshalb werden wir
uns für eine europäische Initiative für mehr Steuergerechtigkeit stark
machen.
- Mindestbesteuerung und europäische Digitalsteuer: Wir wollen mit dem gemeinsamen Gewicht der EU eine effektive globale Mindestbesteuerung durchsetzen. Die hierzu laufenden Verhandlungen in der OECD wollen wir im nächsten Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Sollte eine internationale Verständigung gelingen, werden wir unter unserer Ratspräsidentschaft damit beginnen, diese in EU-Recht umzusetzen. Gelingt dies nicht, werden wir erneut das Ziel verfolgen, rechtzeitig bis Januar 2021 eine EU-weite Regelung für eine Digitalsteuer zu erreichen. Nötigenfalls sollte eine Gruppe von Staaten im europäischen Rahmen gemeinsam vorangehen und die Digitalsteuer einführen.
- Finanztransaktionssteuer: Seit langem kämpfen wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für eine Finanztransaktionssteuer, um den Finanzsektor an der Finanzierung des Gemeinwesens angemessen zu beteiligen. Mittlerweile ist es gerade auch auf deutsche Initiative hin gelungen, die jahrelange Blockade aufzubrechen. Auf der Grundlage einer deutsch-französischen Verständigung hat sich eine Gruppe von fortschrittswilligen Staaten darauf verständigt, Transaktionen mit im Inland ausgegebenen Aktien zu besteuern. Wir machen uns dafür stark, dass diese Einigung nun zügig politisch umgesetzt wird. Dabei befürworten wir es, wenn ein Teil der Einnahmen als neue Eigenmittel auch dem EU-Haushalt zur Verfügung stehen. Längerfristig bleibt unser Ziel eine umfassende Finanztransaktionssteuer, die alle börslichen und außerbörslichen Transaktionen von Wertpapieren, Anleihen und Derivaten sowie alle Devisentransaktionen erfasst.
- Mehr Transparenz und einheitliche Regeln: In Verbindung mit einer Mindestbesteuerung wollen wir auch eine gemeinsame Bemessungsgrundlage bei den Körperschaftssteuern in Europa einführen, die für mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit und damit für mehr Fairness im Steuerwettbewerb sorgt. Außerdem schließen wir damit Lücken zwischen den nationalen Steuersystemen, die von multinationalen Konzernen zur Steuervermeidung ausgenutzt werden. Hinzu kommt: Die in der EU bereits beschlossene Anzeigenpflicht für Steuergestaltungsmodelle werden wir fristgerecht in Deutschland umsetzen und wollen darüber hinaus eine Anzeigenpflicht für innerstaatliche Steuergestaltungen einführen. Als weiteren Schritt hin zu mehr Transparenz wollen wir zudem die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die länderbezogenen Berichte (Country-by-country Reports) veröffentlicht werden. Darüber hinaus wollen wir in der EU die Initiative ergreifen, um ein Verbot anonymer Finanzgeschäfte in Offshore-Gebieten auf den Weg zu bringen. Mit einer Europäischen Staatsanwaltschaft wollen wir die Anstrengungen zur Verfolgung insbesondere von Steuer-Straftaten europäisch besser koordinieren.
3. Eine starke und wehrhafte europäische Demokratie
Europas friedliche Einigung ist ohne Freiheit und Demokratie im Innern
nicht zu denken. Das Europäische Parlament ist dabei das Herzstück der
transnationalen europäischen Demokratie, die einzigartig und
beispiellos in der Welt ist. Allerdings werden Freiheit und Demokratie
heute stärker als je zuvor in Zweifel gezogen oder teils offen
angegriffen. Rechtspopulisten und neue Nationalisten stellen sich
frontal gegen die Einheit Europas und die demokratischen Grundwerte,
auf denen sie beruht. Zwar ist es den Nationalisten bei der Europawahl
nicht gelungen, ihre vollmundigen Ankündigungen in erhebliche
Stimmenzuwächse umzumünzen. Trotzdem verfügen sie über
Blockademöglichkeiten und stellen eine ernste Herausforderung dar.
Unsere Antwort hierauf darf nicht Verzagtheit und schon gar nicht
Anbiederung sein, sondern muss auf den mutigen Ausbau und die Stärkung
der europäischen Demokratie zielen.
- Transnationale Demokratie: Wir wollen das Europäische Parlament und die europäische Demokratie stärken, indem wir uns für transnationale Listen für die kommende Europawahl einsetzen. Darüber hinaus erwarten wir auch, dass das Spitzenkandidaten-Prinzip verlässlich abgesichert wird, damit nach der nächsten Europawahl auch tatsächlich nur eine der Spitzenkandidatinnen oder Spitzenkandidaten die EU-Kommissionspräsidentschaft übernimmt. Wir wollen, dass Mitglieder der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments regelmäßig Anfang des Jahres zusammenkommen, um in gemeinsamen Arbeitsgruppen und öffentlichen Plenardebatten den Meinungsaustausch zu vertiefen und Initiativen zu entwickeln, die in den ordentlichen Beratungen der nationalen Volksvertretungen und des Europäischen Parlaments anschließend aufgegriffen werden.
- Wehrhafte Demokratie: Wir wollen den Schutz der Grundwerte und der Rechtstaatlichkeit in Europa noch konsequenter und verbindlicher machen und auf diese die europäische Werte-Union stärken. Wir wollen dafür den EU-Rechtsstaatsmechanismus weiter verschärfen und um eine Grundwerte-Überprüfung aller Mitgliedstaaten ergänzen, die als Frühwarn-System wirken soll. Mitgliedsstaaten, die rechtsstaatliche Prinzipien missachten, sollen künftig zudem Fördermittel aus dem EU-Haushalt entzogen werden können. Zugleich wollen wir mit einem "Fonds für europäische Grundwerte" Nichtregierungs- und zivilgesellschaftliche Organisationen überall dort direkt unterstützten, wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit besonders unter Druck stehen. Wir wollen die Jugend Europas stärker an politischen Prozessen beteiligen und unterstützen deswegen die Idee, während der deutschen Ratspräsidentschaft einen Jugenddemokratiekongress zu veranstalten.
- Handlungsfähige Demokratie: In einer Zeit großer globaler Herausforderungen und Unsicherheiten ist die gemeinsame Handlungsfähigkeit und strategische Autonomie Europas umso wichtiger. Wir wollen dafür mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat ermöglichen, insbesondere auch in der Steuerpolitik und in der Außenpolitik. Zudem wird es in den kommenden Jahren auf mehr Flexibilität für Fortschritt in Europa ankommen. Wir wollen, dass Deutschland mit anderen zusammen als Tempomacher agiert: mit dem Ziel, dass Gruppen von fortschrittswilligen Staaten verstärkt in unterschiedlichen Themenfelder vorangehen, wenn nicht alle Mitgliedstaaten von vornherein bereit sind mitzumachen. Dafür muss das in den Verträgen angelegte Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit noch viel stärker genutzt werden, um zum Beispiel in der Steuer- und Sozialpolitik Fortschritte zu erreichen.
- Demokratie und Kultur: Wir wollen die europäische Idee stärken und für gemeinsame Werte und Überzeugungen einstehen. Populismus, Nationalismus und Abschottung muss eine gemeinsame, europäische Kultur entgegengestellt und es müssen gesellschaftliche Diskursräume für ein Europa der Bürger - im analogen wie im digitalen Raum - geschaffen werden. Eine vertiefte Kooperation mit anderen europäischen Nationen auch im außereuropäischen Raum sollte Teil einer europäischen Dimension unserer Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik sein. Der Ausbau des europäischen Jugendaustausches und binationaler Jugendwerke, die verstärkte Aufarbeitung und Vermittlung unserer gemeinsamen europäischen Geschichte mit all ihren Brüchen sowie die Förderung einer europäischen Öffentlichkeit tragen dazu bei, Tendenzen der Re-Nationalisierung entgegen zu wirken. Die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands 2020 sollte genutzt werden, um im Rahmen eines Kulturprogramms die uns wichtigen Werte eines starken, einiges und sozialen Europas gerade bei jungen Europäern zu vermitteln.
4. Ein Europa des Friedens und der humanitären Verantwortung
Die europäische Einigung ist nach den kriegerischen Katastrophen des
20. Jahrhunderts ein Friedensprojekt. Angesichts der Herausforderungen
im globalen 21. Jahrhundert hängen Frieden und Sicherheit unseres
Kontinents mittlerweile mehr denn je auch davon ab, dass es Europa
gelingt, Frieden und Stabilität in seiner Nachbarschaft und in den
internationalen Beziehungen insgesamt zu fördern. Wir halten daher
insbesondere auch an der Beitrittsperspektive der Staaten des
westlichen Balkans fest und wollen, dass in einem nächsten Schritt nun
zügig Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien aufgenommen
werden. Wir wollen darüber hinaus, dass Europa als Friedensmacht für
multilaterale Lösungen, starke Vereinte Nationen, Abrüstung und
Entspannung, gerechte Entwicklung, den Schutz der Menschenrechte und
eine nachhaltige Gestaltung der globalen Wirtschafts- und
Handelsordnung eintritt. Dieser internationalen Verantwortung muss
sich Europa auch in seiner Flüchtlings- und Migrationspolitik stellen,
damit die politische Steuerung von Migration mit humanitärer
Verantwortung besser als bisher zusammengebracht wird. Europäische
Initiativen für Abrüstung: Auch wenn Europa selbst nicht
Vertragspartner wichtiger Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen
ist, so kann und muss Europa eine noch aktivere diplomatische Rolle
einnehmen, um Abrüstung und Rüstungskontrolle weltweit zu stärken. Die
Verhandlungen über das Iran-Abkommen haben gezeigt, dass Europa hierzu
in der Lage ist.
Jetzt darf Europa nicht tatenlos zusehen, wenn wichtige Eckpfeiler der
internationalen Rüstungskontrollarchitektur wie der INF-Vertrag zum
Einsturz kommen und eine neue globale Aufrüstungsspirale droht.
Abrüstung muss als strategisches Kernanliegen noch fester in der
europäischer außen- und sicherheitspolitischen Strategie verankert
werden. Auch ist für uns klar: Mit unserer Zustimmung wird es keine
neuen Atomraketen in Deutschland und Europa geben. Zugleich wollen wir
die europäischen Rüstungsexportrichtlinien weiterentwickeln und
schärfen. Und wir wenden uns gegen pauschale Milliarden-Steigerungen
bei den Militärausgaben. Stattdessen befürworten wir mehr und bessere
Kooperation und Synergien zwischen den europäischen Armeen.
In einem komplexer werdenden globalen Umfeld muss Europa in der Lage
sein, seine Interessen und Werte zu verteidigen. Dafür muss Europa
verstärkt mit einer Stimme sprechen. Die Koordinierungsfunktion des
Hohen Vertreters innerhalb der Kommission sollte gestärkt werden, um
eine kohärente Außenpolitik zu ermöglichen. Außerdem muss neben der
Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit der EU auch ihre
Handlungsfähigkeit nachhaltig gestärkt werden. Die ständige
strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) ist hierbei ein erster wichtiger
Schritt. Daneben muss die EU weiter ihre zivile
Krisenreaktionsfähigkeit stärken.
- Gerechte Entwicklung und fairer Handel: Angesichts neuer Handelskonflikte und Tendenzen der Abschottung muss Europa umso dringender sein gemeinsames Gewicht für freien und fairen Handel und eine Stärkung der WTO einsetzen. Wir treten nachdrücklich dafür ein, dass die EU ambitionierte und verbindliche Nachhaltigkeitskapitel mit Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen in ihren Handelsabkommen vereinbart, die die Handelspolitik insbesondere an die Menschenrechte, die ILO-Kernarbeitsnormen sowie die Vereinbarungen des COP21-Klimaabkommens binden. Zugleich muss Europa im Konfliktfall aber auch nötigenfalls in der Lage sein, mit seiner gemeinsamen Wirtschaftskraft dagegenzuhalten, etwa wenn US-Präsident Trump tatsächlich mit Zöllen gegen die europäische Automobilindustrie ernst machen sollte. Auch wollen wir die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) umfassend in der Politik der Europäischen Union verankern. Dies gilt gerade auch für die Ziele im Bereich der globalen Gesundheitspolitik, die wir im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf die Tagesordnung setzen wollen.
- Europa und Afrika: Das Wohlergehen Europas ist eng mit dem unseres Nachbarkontinents Afrika verbunden. Als Teil wichtiger Handlungsfelder, wie sie in den im März 2019 fortgeschriebenen afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung formuliert sind, geht es auch um eine vertiefte Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft, in der wir gemeinsame Zukunft gestalten. Wir brauchen besseres beiderseitiges Verständnis für eine intensivere Partnerschaft. Aufbauend auf der bestehenden europäischen Afrika-Strategie wollen wir eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit den Staaten Afrikas weiter entwickeln, die auf nachhaltige und gerechte Entwicklung zielt.
- Verantwortliche Flüchtlingspolitik: Wir halten am Ziel einer gemeinsamen europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik fest, die alle Mitgliedstaaten zu Solidarität verpflichtet. Angesichts der bisherigen Blockaden sind wir aber zugleich für pragmatische Lösungen offen, die eine bessere gemeinsame Steuerung ermöglichen und zugleich Europas Werten und humanitärer Verantwortung gerecht werden. Solange eine umfassende Reform des Dublin-Systems mit einer dauerhaften solidarischen Flüchtlingsverteilung nicht gelungen ist, sollte zumindest eine Gruppe bereitwilliger Staaten vorangehen und bei Aufnahme, Verteilung und ggf. Rückführung von Migranten konstruktiv zusammenarbeiten. Zugleich sollten mehr Möglichkeiten der legalen Einwanderung geschaffen werden, etwa über Arbeitsvisa, Stipendien oder Resettlement.
Langfristig ist unser Ziel ein europäisches Einwanderungsrecht zu
schaffen.
Besonders wichtig ist auch: Wir stellen uns gegen eine
Kriminalisierung privater Seenotrettung und plädieren für ein neues
europäisches Seenotrettungsprogramm. Das Sterben auf dem Mittelmeer
muss beendet werden.
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Quelle:
SPD-Pressemitteilung vom 6. September 2019
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
Bürgerbüro, Willy-Brandt-Haus
Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin
Tel.: 030/25 991-300, Fax: 030/25 991-507
E-Mail: pressestelle@spd.de
Internet: www.spd.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2019
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