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AFRIKA/1027: Tunesien - Ernüchterung nach Revolution, Erwartungen haben sich nicht erfüllt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. August 2011

Tunesien: Ernüchterung nach Revolution - Erwartungen haben sich nicht erfüllt

Von Simba Russeau

Roter Schriftzug auf einer weißen Wand mit der Aufforderung, die Revolution fortzuführen - Bild: © Simba Russeau/IPS

Aufforderung, die Revolution fortzuführen
Bild: © Simba Russeau/IPS

Tunis, 25. August (IPS) - Sieben Monate nach dem historischen Volksaufstand in Tunesien, der zum Sturz von Langzeit-Diktator Zine el-Abidine Ben Ali führte und in der Region den Arabischen Frühling einläutete, haben viele Tunesier die Hoffnung verloren, dass ihnen die Revolution bessere Zeiten bringen wird.

Wie aus einer neuen Umfrage des Forums für angewandte Sozialwissenschaften hervorgeht, blicken nur noch 24 Prozent der Tunesier optimistisch in die Zukunft. Im April waren es noch 32 Prozent gewesen. Besonders groß ist die Enttäuschung in der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid, der Wiege der 'Jasmin-Revolution'. Dort gaben 62,1 Prozent der Menschen an, nicht mehr an einen revolutionsbedingten Fortschritt zu glauben.

Das Ausbleiben von politischen Reformen und sozialer Entwicklung verbunden mit der Sorge, dass die letzten Vasallen von Ben Alis Partei 'Konstitutionelle Demokratische Versammlung' (RCD) an einer Konterrevolution arbeiten könnten, hat in den letzten Monaten zu Streiks und Protesten in Tunis und anderen Städten geführt.

Viele junge Tunesier hatten sich von der Revolution, die Ben Ali am 14. Januar ins Exil nach Saudi-Arabien verschlug, eine rasche Verbesserung der Arbeitsmarktlage erhofft. Doch der Kampf gegen die verbreitete Arbeitslosigkeit, die im letzten Jahr 14 Prozent der Bevölkerung und 25 Prozent der Akademiker betraf, kommt nicht voran.

"Die Revolution, die wir brauchen, muss sich in uns selbst vollziehen", meint die 21-jährige Myriam Ben Ghazi. Sie wirft ihren Landsleuten vor, den gleichen Denkmustern wie vor dem Volksaufstand im Januar verhaftet zu sein. "Dabei haben wir unsere Freiheit gewonnen", sagt sie. "Wir setzen uns mit der Korruption auseinander und werden sicherlich bald erleben, dass es wirtschaftlich bergauf geht."


Verluste in Milliardenhöhe

Doch der Niedergang des Tourismussektors, der 500.000 Menschen beschäftigt, lässt viele im Lande zweifeln. Denn in der Zeit nach dem Aufstand haben sich die jährlichen Einnahmen in Höhe von fast drei Milliarden US-Dollar in diesem Bereich mehr als halbiert. Die Zentralbank bezifferte die Einbußen im Fremdenverkehr und Handel im laufenden Jahr mit zwei Milliarden Dollar. Von den fast sieben Millionen Touristen, die Tunesien jährlich besuchen, sind zwei Millionen Libyer, denen angesichts der schwierigen politischen Situation in ihrem Heimatland nicht der Sinn nach Urlaub stehen dürfte.

Viele Tunesier nehmen der Interimsregierung von Ministerpräsident Beji Caid Essebsi nicht ab, dass die Rückschläge im Handels- und Fremdenverkehrsbereich die versprochenen Reformen verhindern. "Das ist doch nur Rhetorik", meint der 30-jährige Arzt Abdullah Naybet. "Die eigentliche Ursache unserer Probleme liegt in der verbreiteten Korruption."

Der 23-jährige Rabi Kalboussi wirft der ehemaligen Regierung vor, allein auf den Tourismus gesetzt zu haben und andere wichtige Bereiche wie Landwirtschaft und Handel vernachlässigt zu haben. "Tunesien hat ein großes Potenzial, das die Übergangsregierung nutzen sollte. Wir brauchen landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte, die dafür sorgen würden, dass wir nicht mehr von importierten Nahrungsmitteln abhängig sind."


Tiefes Misstrauen in die Justiz

Während die Gerichtsverfahren gegen Ägyptens ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak und seine beiden Söhne Alaa und Gamal im Fernsehen übertragen werden, verurteilte ein Gericht in Tunesien Ben Ali wegen Veruntreuung von Staatsgeldern in Abwesenheit zu 35 Jahren Gefängnis. Die Verhandlung sei ein Witz gewesen, eine Droge, um die Menschen ruhig zu stellen, meint dazu Kalboussi.

Die tunesische Justiz gilt als korrupt. Die Flucht von Saida Agrebi, einer Vertrauten des ehemaligen Präsidenten, und die Freilassung der früheren Minister Bechir Tekkari (Justiz) und Abderrahim Zouari (Transport) bestärken die Öffentlichkeit in dieser Meinung.

Der allgemeine Frust schlägt sich in einer großen Wahlapathie nieder. Nur knapp vier Millionen der 7,5 Millionen tunesischen Wahlberechtigten haben sich in die Wahllisten eingetragen. Der Urnengang am 23. Oktober soll eine Verfassung gebende Versammlung auf den Weg bringen, die eine neue Verfassung erarbeiten wird. (Ende/IPS/kb/2011)


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2011