Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

AFRIKA/809: Demokratie in Mauretanien - Übergangsphasen in Permanenz (inamo)


inamo Heft 61 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2010
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Demokratie in Mauretanien Übergangsphasen in Permanenz

Von Mohamed Fall Ould Bah und Laurence Marfaing


Am 6. August 2008 wurde Nouakchott mit der Nachricht geweckt, alle Chefs der Armeekorps und der Sicherheitskräfte seien durch den Präsidenten abgesetzt worden. Erfahrenen Beobachtern war klar, dies konnte nur zweierlei bedeuten: entweder die Korpschefs waren inhaftiert und der Präsident hatte diese erste Partie gewonnen, oder sie waren frei und er hatte verloren; Letzteres erwies sich als zutreffend: Die Militärs verhafteten Präsident Sidi (in Mauretanien allgemein übliche Bezeichnung für Präsident Sidi Ould Cheikh Abdallahi) und seinen Premierminister, Yahya Ould al-Waqf. So schien der ebenfalls durch einen Putsch - am 3. August 2005 - eingeleitete Demokratisierungsprozess im öffentlichen Leben Mauretaniens ein Ende zu nehmen.


Der Hauptakteur des Putsches am 6. August 2008 ist der damalige Chef der Präsidialgarde, General Mohamed Ould Abdel Aziz. Unterstützt wird er durch eine Gruppe von Parlamentariern, die aus der Adil-Partei hervorgegangen sind(1) und die Mehrheit in beiden Kammern repräsentieren. Als sich die Sicherheitslage stabilisiert hat, wird ein zwölfköpfiges Militärkomitee gegründet: "Der Hohe Staatsrat" (HCE), der per Verfassungsbeschluss die Prärogative des Präsidenten der Republik für sich beansprucht; die übrigen Institutionen bleiben unverändert. Der HCE und seine Anhänger werfen der Regierung Ould Cheik Abdallahis "totalitäre Entgleisung", ihre "mittelmäßige" Wirtschaftsbilanz und ihre schleichende Vereinnahmung durch die "veränderungsfeindlichen Kräfte" vor.

Bei der Bekanntgabe des Putsches zeichnen sich drei Strömungen ab:

• Die Befürworter des Putsches: Sie versammeln in ihren Reihen die meisten der Mehrheitsparteien Ould Tayas(2); ihnen schließen sich zwei Parteien der demokratischen Opposition an: die AJD/MR(3) und Hatem(4).

• Die Anhänger des gestürzten Präsidenten: Sie bilden die Front National pour la Défense de la Démocratie (FNDD), die sich in ihren Forderungen ausschließlich auf die "demokratische Legitimität" beruft und die politischen Leistungen des Präsidenten hervorhebt, insbesondere die Rückkehr der Flüchtlinge(5) und die Sanktionierung der Sklaverei. Ihr einziges Ziel besteht darin, "den Putsch zum Scheitern und den Präsidenten wieder an die Regierung zu bringen".

• Und schließlich Le Rassemblement des Forces Démocratique (RFD). Der Zusammenschluss nimmt zunächst "den Putsch zur Kenntnis", um sich schließlich in der Mitte anzusiedeln, indem er für keine der beiden Strömungen Partei ergreift und eine Lösung der Krise auf Konsensbasis anstrebt.

Von der Organisation der Wahlen bis zum "Putsch im Namen der Demokratie" könnte die Entwicklung der politischen Situation in Mauretanien als ein dezidierter Schritt in Richtung auf einen Demokratisierungsprozess überzeugen. Nun haben sich zwar die Diskurse der Putschisten über die Demokratisierung nicht zu einem Demokratisierungsprozess gewandelt, weil die Akteure in Wirklichkeit, wenn sie nicht überhaupt dieselben geblieben sind, so doch zumindest denselben Interessenssphären und politischen Strömungen entstammen. Aber diese Diskurse haben das soziale Gefüge durchdrungen und ein Teil der Bevölkerung hat begonnen - anders als noch vor einigen Jahren -, sie zu übernehmen, politisches Bewusstsein zu entwickeln und sich organisiert. Die Putsche sind dieselben geblieben, aber die Wahrnehmung seitens der Bevölkerung hat sich verändert....

Die Interpretation des Staatsstreichs, die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Suche nach Strategien zur Krisenbewältigung verlangen eine neue Untersuchung der Situation - jenseits der reduktionistischen Interpretationen, wie sie für derartige Ereignisse üblich sind; einerseits schon deswegen, weil die Studien über Mauretanien evidente Lücken aufweisen: Dies liegt zum Teil an der geographischen Randlage des Landes zwischen den Untersuchungsbereichen der verschiedenen Regionaldiziplinen - zwischen Subsaharischem Afrika und Maghreb-Nahost -, zum anderen aber auch an der Komplexität der traditionellen soziopolitischen Strukturen, die sich zeitabhängig formen und verändern und sich in der Globalisierung zu artikulieren suchen.

Der Artikel zeigt, wie die politischen Akteure ihre Macht sichern, indem sie demokratische Diskurse und Praktiken instrumentalisieren. Dabei benutzen sie die Schemata, welche der tribalen Gesellschaft Mauretaniens zugrunde liegen: mit deren Hilfe sichern sie sich die Kontrolle des politischen Raumes. Behandelt wird die Ära Taya, dann der der Putsch von 2005, der mit dem Segen der internationalen Beobachter die demokratische Wende von 2007 eingeleitet hat, dabei aber die Strukturen beibehielt, die schließlich zum Putsch des 6. August 2008 geführt haben.

Schließlich wird gezeigt, wie die daraus hervorgegangenen neuen politischen Konstellationen eine auf Demokratisierung ausgerichtete Denkweise zu entwickeln scheinen, obwohl sie lediglich Machtverhältnisse vor Augen führen, die ihrerseits aus wiederentdeckten tribalen Denkweisen stammen. Dennoch: der seit dem Putsch ablaufende politische Prozess bringt bisher nicht dagewesene politische Konstellationen hervor, in denen die traditionellen politischen Akteure mehr und mehr auf hartnäckigen Widerstand stoßen; dieser zeigt, in welchem Maße sich das politische Bewusstsein gewandelt hat.


Eine "totalitäre" Demokratie

Wegen seiner eher positiven Einstellung zum Regime Saddam Husseins während des Golfkonflikts und wegen seiner Unnachgiebigkeit gegenüber Protesten im Innern, die sich durch die ethnisch geprägten Unruhen von 1989-90 noch verschärften, ist Präsident Taya auf der internationalen politischen Bühne stark isoliert; daher reagiert er schnell auf die dringenden, bei der französisch-afrikanischen Gipfelkonferenz von La Baule (1990) formulierten Forderungen: In aller Eile arbeitet er sein "Demokratiepaket" aus (Verfassung, Präsidentenamt, Zwei-Kammer-Parlament), verschafft sich entsprechende Kontrollmöglichkeiten und lässt im Juli 1991 per Referendum darüber abstimmen. Auf die Präsidentschaftswahlen im Januar 1992 folgen im März desselben Jahres die Parlamentswahlen.

Ould Taya wandte sich entschlossen den Kräften zu, die dem Wandel am feindseligsten gegenüberstanden: Zu Lasten der städtischen Zentren verschaffte er den Wählerstimmen in ländlichen Gebieten mehr Gewicht, stärkte so die tribalen Denkweisen und führte neue Formen des Stimmenfangs ein. Mit dem Slogan "Wandel innerhalb der Stabilität" mobilisierte er viele, die von den schweren Menschenrechtsverletzungen (6) und den eklatanten Unterschlagungen von Vermögen betroffen waren. Sie hatten sich schon innerhalb einer "Internen Front" mobilisiert, die sich im Zuge ihrer Widerstandsaktion gegen die von außen geförderten, seit den Ausschreitungen Ende der 1980er Jahre exilierten Kräfte gebildet hatte.

Seit der Ankündigung des Demokratisierungsprozesses (im April 1991) erfuhr die bis dahin geknebelte politische Klasse einen gewissen Auftrieb und versuchte, sich einzubringen. Fast alle schwarzafrikanischen Opfer der Repression und der auf die arabische Bevölkerung konzentrierten Politik Ould Tayas organisierten sich in der Opposition, innerhalb der Union des Forces Démocratiques (UFD). Als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen wählten sie Ahmed Ould Daddah, einen Bruder und ehemaligen Minister von Mokhtar Ould Daddah(7). Der Wahlkampf der Opposition zu den Präsidentschaftswahlen von Januar 1992 konzentrierte sich auf die Verurteilung der Ausschreitungen von 1989 sowie der Unterschlagungen öffentlicher Gelder.

Indessen sicherte die Regierung ihren Sieg und wurde von der Opposition des Wahlbetrugs angeklagt. Die Enttäuschung in der Opposition war so groß, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung nur knapp vermieden werden konnte und schließlich sogar die Parlamentswahlen von der Opposition boykottiert wurden. So ließ sie der Regierung freie Hand, sich die absolute Mehrheit im Parlament zu sichern und "ihren" Demokratisierungsprozess weiterzuführen.

Am Vorabend der Wahlen leitete Ould Taya einen Prozess zur Stabilisierung seiner politischen Macht ein, der mit den darauffolgenden Präsidentschaftswahlen von 1997 seinen Höhepunkt erreichte. Während dieser gesamten Periode erstickte er die Stimmen der Opposition, indem er einerseits jeden aufkeimenden Protest verteufelte, und andererseits einige ihrer Führungsmitglieder für sich gewann. Von seinem neuen Parlament ließ er ein alle Ausschreitungen von 1989 umfassendes Amnestiegesetz verabschieden. Er rehabilitierte sich bei den internationalen Geldgebern und sicherte sich auf diese Weise internationale Zuwendungen.

Durch systematische Eliminierung der oppositionellen Kräfte stärkte die gewählte Regierung zum einen eine politische Schicht, die im Wesentlichen aus der Armee hervorgegangen war - oder von dieser kontrolliert wurde - und zum anderen die Akteure der traditionellen Gesellschaft, die auf überwiegend tribaler Basis eine Allianz zwischen Bürokraten, Militärs und Geschäftsleuten besiegeln sollte.

Diese Allianz an der Spitze des mauretanischen Staates wurde begünstigt durch die Ausweitung administrativer Funktionen auf Grund von Entwicklungsprojekten. Diese Art von Administration sollte ursprünglich - aufoktroyiert durch internationale Initiatoren von Strukturanpassungsprogrammen - die Ineffizienz und Korruptheit der Beamten ausgleichen; doch dann gewann sie die Oberhand über den Staat, sie "war der Staat".

So nahm das traditionelle System die Zügel der weiteren Entwicklung wieder selbst in die Hand und erstickte damit die politischen und technokratischen Elemente des Regierungssystems. Das plurisegmentäre politische System bot für dieses (Un)gleichgewicht einen globalen Verhandlungsrahmen, in dem das Gemeinwesen ständig durch das Spiel der Nominierungen und Wahlmandate ausgehandelt wird. In einem solchen sozioökonomischen Klima haben sich illegale Aktivitäten entwickelt (Waffen-, Drogen-, Banknoten- und Menschenhandel), die ihrerseits immer größere Mengen an schmutzigem Geld generieren. Diese werden teilweise in das politische Spiel reinvestiert und tragen so zur Kriminalisierung des Staates bei.

In diesem durch "tribale Spannungen, unbeherrschbare Machtkämpfe, ein offensichtliches Defizit an demokratischen Freiheiten sowie durch ethnische Spaltungen in aller Öffentlichkeit"(8) geprägten Kontext wurde das System am 8. Juni 2003 durch einen Putschversuch heftig erschüttert. Angezettelt hatte diesen eine Gruppe von Offizieren, die mehrheitlich paramilitärischen Organisationen angehörten. Dieser Putsch zählt zu den brutalsten in der Geschichte Mauretaniens. Dennoch vermochte dieser Putsch nicht, zu einer Reflexion über das Regierungssystem Ould Tayas in Gang zu setzen; er läutete jedoch dessen Ende ein, indem er dem Putsch vom 3. August 2005 den Weg ebnete; dessen Hauptakteure waren dieselben, die den vorausgegangenen Putsch vereitelt hatten.(9)


Ein "unvollendeter" Übergangsprozess

Der Putsch vom 3. August 2005 schuf eine Situation, die es vorher nie gegeben hatte: Zum ersten Mal betonte eine Regierung Mauretaniens ihren Willen, einen kompletten Wahlvorgang zu überwachen, an dem sie nicht teilnehmen würde. Die manchmal wiederholten Neutralitätsverpflichtungen und die allen Protagonisten gegenüber garantierte Transparenz haben im Umfeld des Übergangs rasch einen breiten nationalen Konsens geschaffen.

Angesichts der Ankündigung einer solchen Agenda gab die internationale Gemeinschaft(10) schließlich nach und begleitete den Prozess. Die staatlichen Medien(11) öffneten sich nun kontroversen öffentlichen Debatten und vor allem der freien Meinungsäußerung des Volkes. Die Pressefreiheit machte große Fortschritte. In diesem Kontext erlangten viele mauretanische Staatsbürger ein gewisses politisches Bewusstsein, das sich in selbständigem Urteilen und Handeln äußerte.(12) Sie verstanden nun, dass jede Wählerstimme ein Gewicht hat, dass "die eigene Stimme zählt"(13).

Dieser Prozess hat auch die Entwicklung der Organisation der Zivilgesellschaft mit der Einführung bestimmter demokratischer Praktiken, die in der politischen Landschaft Mauretaniens noch neu waren (Abstimmung, Ent-Diabolisierung der Opposition, Gründung einer unabhängigen nationalen Wahlkommission), kräftig vorangetrieben. Die Organisationen der Zivilgesellschaft engagierten sich nachdrücklich für die Vertiefung dieser demokratischen Erfahrung.

Doch diese populäre staatsbürgerliche Dynamik und die Wendung der Dinge ließen allzu schnelle und allzu radikale Veränderungen befürchten. Die Hauptakteure des Putschs vom 3. August 2005, die Obersten Ely Ould Mohamed Vall und Mohamed Ould Abdel Aziz, sind Vertraute Ould Tayas und authentische Produkte seines politischen Systems. Dieser Putsch stellte also nur eine interne Veränderung dar, lediglich eine "Palastrevolution"(14). Dieses politische System des gestürzten Präsidenten Taya, ließ keine Gelegenheit aus, von neuem die Initiative zu ergreifen.

Nach einer kurzen Rückzugsphase eröffnete ihm der nahe bevorstehende Wahltermin die Möglichkeit, eine Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse mittels Urnen herbeizuführen: Dank seiner Verankerung in einem dem prätorianischen Regime (dem CMJD, Conseil Militaire pour la Justice et la Démocratie)(15) nahestehenden Netzwerk gelang es ihm(16) nun, jenem Übergangsregime des CMJD Militärrat für Gerechtigkeit und Demokratie seine Wahlhilfe in Form der Vermittlung von Wählerstimmen aufzuzwingen: Bestimmte Teile der Regierung gaben vor zu befürchten, dass die Wahlbeteiligung und Zustimmung in der Bevölkerung nicht ausreiche, um ihnen die - für den gesamten Übergangsprozess erforderliche - verfassungsmäßige Legitimität zu verschaffen. Deshalb ersuchten sie seit dem 25. Juli 2006 bestimmte Akteure von Wahlagenturen, (Handel mit Wählerstimmen), um deren Hilfe. Auf diese Bitte reagierte die staatliche Administration mit einer Art Pavlov'schem Reflex: Sie griff zu den Mitteln des Wahlbetrugs und der Manipulation der Wahlagenturen.

Während dieser Zeit hatte die Opposition ernsthafte Schwierigkeiten, selbst aktiv zu werden. Die meisten der politischen Parteien waren verunsichert durch die Wahlperspektiven und erschüttert durch den aktuellen politischen Umstrukturierungsprozess, besonders bei den Kommunal- und Parlamentswahlen von 2006. Sah man einerseits, wie sich viele militante Anhänger der alten Staatspartei PRDS(17) ideologisch nahestehenden Gruppierungen anschlossen, so sah man andererseits auch, wie sich viele ehemalige Günstlinge des Taya-Regimes in oppositionellen Gruppierungen ausbreiteten.

Die durch den Putsch geweckten Erwartungen wurden aufs Neue in Frage gestellt, als die Verantwortlichen des Übergangsprozesses unter dem Vorwand der angeblich drohenden Gefahr einer Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse die traditionellen politischen Akteure(18) aufforderten, sich aus dem politischen Spiel der Parteien zurückzuziehen, um als "Unabhängige" aufzutreten. Diese neue Rollenverteilung führte in einigen politischen Parteien zu beträchtlichen Austrittswellen, die den damals schon fortgeschrittenen Prozess der Aufstellung ihrer Kandidatenlisten für diese Kommunal- und Parlamentswahlen erheblich durcheinanderbrachten. Der Rückgriff auf die traditionellen Akteure, die unter der Maske von "Unabhängigen", die schon immer am Beginn jeglichen Widerstandes gegen den Fortschritt in Mauretanien standen, sowie die Schwächung des - aus der Sicht der traditionellen sozialen Strukturen, der Parteien, - neutralsten politischen Umfeldes mussten unausweichlich zu einem schweren politischen Rückschlag in der demokratischen Entwicklung führen...

Die Regierung konnte jetzt nicht einfach wieder uneingeschränkt die Initiative ergreifen: Um ihr politisches System wieder herzustellen, musste sie diskretere klassische Hilfsmittel zur Lenkung des Willens der Öffentlichkeit einsetzen: Der CMJD musste die Hilfe der traditionellen politischen Vermittler nutzen, um den Willen der Wähler einzuschränken und die gewünschte Richtung zu dirigieren. Dieser Eingriff des CMJD in das Wahlsystem hat das Vertrauen, das sich im Laufe des ersten Jahres des Ubergangsprozesses zwischen den verschiedenen Akteuren auf der politischen Bühne entwickelt hatte, endgültig erschüttert.

Bei den Präsidentschaftswahlen im März 2007 lagen im ersten Durchgang (11. März) 19 Kandidaten im Wettstreit. In der zweiten Runde am 25. März standen sich Ahmed Ould Daddah (historischer Gegner der Regierung Ould Tayas) und Sidi Ould Cheikh Abdallahi (ehemaliger Minister unter Mokhtar Ould Daddah und später unter Ould Taya) gegenüber.

Sicher tragen die Verantwortlichen des Übergangsprozesses, deren absolute Neutralität - das Rückgrat des beabsichtigten friedlichen Übergangs und Hauptgarant für die Transparenz der Wahlkämpfe - eine der wichtigsten Verpflichtungen gegenüber dem Volk hätte sein müssen, die Verantwortung für den Vertrauensschwund. Doch auch die politischen Parteien trifft eine Schuld, da sie dem CMJD von Anfang an einen Blankoscheck ausgestellt hatten. Indem sie die inner- und außerparteiliche Formierung aller veränderungsfeindlichen Kräfte akzeptierten, lieferten sie ihnen die personellen Voraussetzungen für eine weitgehende Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse. Das erste Ergebnis dieses Vorgehens war das Auseinanderbrechen der Opposition in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen: Anstatt sich gegen den vom CMJD unterstützten Kandidaten zu stellen - der CMJD war die aussichtsreichste Partei, unterstützt von 18 Parteien der Ex-Mehrheit des Präsidenten und einer beachtlichen Mehrheit in den beiden Kammern des Parlaments -, sagten sich oppositionelle Gruppierungen von der Opposition los, um die Alliance Populaire Progressiste (APP) von Messoud Ould Boulkheir zu unterstützen...


"Unvollständige" Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse

Der CMJD hat Unabhängige auf den Plan gerufen und ermutigt: Dies geschah zum einen, um eine eventuelle Unterstützung des durch den Putsch ausgeschalteten Präsidenten Ould Taya zu vermeiden, zum anderen aber auch, um den Zulauf zu Ahmed Ould Daddah zu bremsen, der als der gefährlichste Herausforderer betrachtet wurde. Die Unabhängigen haben die gewählten Instanzen, welche eine behutsame, wenn auch unvollendete Reproduktion des Taya-Systems zusicherten, mehr und mehr in Beschlag genommen, bildeten jedoch trotz ihrer Stärke keine homogene Gruppe und haben keine Führungsfigur.

Ihr wichtigster Kandidat, Sidi Ould Cheikh Abdallahi, benötigte dringend Unterstützung auf politischem, militärischem und ökonomischem Gebiet; dies schränkte damals seine Fähigkeit ein, seine Rolle als führender Kopf voll auszuspielen...

Freiwillig oder nicht - Cheikh Abdallahi schränkte seinen Handlungsspielraum noch mehr ein, als er im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen Wahlpakte mit zweien seiner Hauptgegner aus dem ersten Durchgang knüpfte, Messoud Ould Boulkheir und Zeine Ould Zidane; außerdem ernannte er nach seinem Wahlsieg den Ersteren zum Parlamentspräsidenten den Letzteren zum Premierminister - beides gegen den Willen der Unabhängigen und anderer kleiner Mehrheitsparteien. Durch diese Maßnahmen sucht er sich die so dringend benötigte Unterstützung zu verschaffen.

Doch gleichzeitig schienen die Koalitionsparteien der demokratischen Opposition oder das, was von ihnen noch übrig geblieben war, Gefangene ihres Strebens nach Ausgleich zu sein. Manipuliert vom CMJD, waren sie bereit, dieses Wahlprozedere zu akzeptieren, obwohl ihnen dessen Mängel bekannt waren, und dies nur, um die Ära des Prätorianismus ein für allemal zu beenden und die unbestreitbaren Errungenschaften des Übergangs zu bewahren. Die - nach der Zahl ihrer Abgeordneten - wichtigste dieser Parteien, die RFD, wurde unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen die wichtigste institutionelle Kraft der demokratischen Opposition.

Nach der Wahl von Sidi Ould Cheikh Abdallahi schien die politische Arena für einen Moment befriedet, und die demokratische Kultur konsolidierte sich dank weitreichender legislativer und politischer Maßnahmen: Hierzu gehören die "offizielle" Offenlegung von Akten von nationaler Bedeutung wie z.B. zur Rückkehr der Flüchtlinge und zur Sanktionierung der Sklaverei. Durch den öffentlichen Raum schien nun ein frischer demokratischer Wind zu wehen, der sich speziell in größerer Meinungsfreiheit im Allgemeinen und in größerer Pressefreiheit im Besonderen äußerte.


Die Weltbank erwartet zweistellige Wachstumsraten

Diese ersten politischen Maßnahmen treffen auf ein ökonomisches Umfeld, das von besonders positiven Elementen gekennzeichnet ist. Im Zusammenhang mit dem internationalen Kampf gegen den Terrorismus war das Interesse der internationalen Gemeinschaft und besonders der USA nach dem 11. September an Mauretanien neu erwacht. Hinzu kommen geostrategische Interessen, die mit der Entdeckung von Ölvorkommen verbunden sind. Schließlich erreicht das Ansehen Mauretaniens nicht allein durch den als exemplarisch angesehenen demokratischen Wandel, sondern auch durch die als transparent deklarierten Wahlen auf der internationalen Bühne seinen Höhepunkt.

Tatsächlich schienen die Perspektiven der mauretanischen Wirtschaft in jenem Jahr 2007 vielversprechend. Die zuerst wunderbaren, dann enttäuschenden Versprechen der Ölwirtschaft wurden häufig in den Medien kommentiert. Die Produktionsrückgänge des Ölfeldes Chinguetty und der Rückzug von Woodside wurden als das Ende jeglicher Hoffnung auf Reichtum durch Erdöl interpretiert. Doch die Entwicklung im Bereich der Ölindustrie bestimmt äußerst viele strategische, technische und sogar politische Faktoren dieses Wirtschaftszweiges, und die meisten dieser Faktoren scheinen heute positiv zu wirken. Allein aus den bereits untersuchten Offshore-Feldern von Tevet und Thiof erwartet die Weltbank ab 2010 zweistellige Wachstumsraten. Die Erkundungsarbeiten veranlassen heute Öl- und Gasriesen zu kostspieligen, für Mauretanien aber einträglichen Investitionen. Vielerlei andere Bergbauressourcen, Gold aus Taziazt, Phosphat aus Bofal, Kupfer von Akjoujt befinden sich in einem fortgeschrittenen Abbaustadium, andere Mineralien, Uranium und Kobalt, noch in der Untersuchungsphase. Das immense mauretanische Territorium hatte sich in ein regelrechtes Labor verwandelt, und allein der Zustrom verschiedenster internationaler Dienstleister wie Banken, Versicherungen, Telekommunikations- und Consultingunternehmen etc. war bereits ein Beweis für das Bestehen bedeutender Wirtschaftsperspektiven und für die Integration des Landes in den Globalisierungsprozess - koste es auf lange Sicht, was es wolle. Gleichzeitig werden jedoch hierdurch wirtschaftliche Interessengruppen gestärkt, die immer schwieriger zu kontrollieren sind.

Die Position Mauretaniens auf der internationalen Bühne, die wirtschaftlichen Versprechen und der Übergang zur Demokratie - alle diese Indikatoren wirkten zusammen und überzeugten so die mauretanische Bevölkerung, vom Aufbruch ihres Landes, der geglückten Transplantation der Demokratie und davon, dass sie sich auf dem Wege der Weiterentwicklung befand. Vertrauen etablierte sich, innovative wirtschaftliche Maßnahmen eröffneten neue Perspektiven.

Indessen zeigte die Regierung ihr wahres Gesicht und erklärte sich offiziell für unfähig, die elementarsten Erwartungen der Bevölkerungsgruppen erfüllen zu können - und dies in eklatantem Widerspruch zur unbegrenzten Höhe der Unterhaltskosten für den Staatsapparat: Im Umfeld des Präsidenten widersetzte sich ein "Schattenkabinett" aus etwa zwanzig Beratern systematisch dem Vorgehen der Regierung von Zeine Ould Zidane, der nicht aus dem Lager des Präsidenten kam und verbissen dessen öffentliche Diskreditierung betrieb. Gerüchte über Wirtschaftsskandale und Korruption verbreiteten sich: vor allem im Zusammenhang mit der kanadischen Ölraffinerie, dem Versorgungsmarkt für Erdöl und dem Privatisierungsprojekt der Société Nationale Industrielle et Minière (SNIM). Überdies spricht man viel über den Einfluss der First Lady auf die Regierungsbeschlüsse und über ihre humanitäre Stiftung FKB, Fondation Khattou mint al-Boukhari. Ihr wird angelastet, von geheim gehaltenen Finanzierungen aus dunklen Kanälen, aber öffentlichen Ursprungs, profitiert zu haben. Trotz eines zunehmend ausgeklügelten juristischen Arsenals zur Bekämpfung der Korruption ließ die prekäre materielle und moralische Lage der Angestellten im öffentlichen Dienst einerseits wie auch die weitgehende Immunität der Schuldigen andererseits einen ehrlichen Willen zur Verbesserung der Lage weiterhin vermissen. Schließlich drangen Jihadisten-Gruppen(19) über die algerisch-mauretanische Grenze ein und führten in Mauretanien spektakuläre Operationen aus, deren Tragweite die Regierung jedoch herunterspielte. Eine gewaltige, die internationalen Partner zunehmend beunruhigende Welle der Unsicherheit überflutete das Land.


Vom Putsch des 6. August 2008 zu den Wahlen des 18. Juli 2009

Angesichts solcher Schwierigkeiten soll sich Sidi Ould Cheik Abdallahi den ehemaligen Oppositionskräften zugewandt und versucht haben, die bereits geknüpfte Allianz mit Messoud Ould Boulkheir durch eine weitgehende Öffnung gegenüber den "negro"-Afrikanern und durch die Suche nach einem vorsichtigen modus vivendi im Umgang mit den anderen Oppositionsparteien zu stärken. Doch die organisierte Rückkehr der Flüchtlinge, die von gewissen Angehörigen der ehemaligen Mehrheit als Hauptrisiko für die politische Stabilität Mauretaniens und als Unterminierung seiner arabischen Identität dargestellt wurde, beunruhigte fortwährend gewisse Gruppierungen der hassanophonen Gesellschaft, in welcher die Gerüchte von "schwarzer Anmaßung", "schwarzer Unverschämtheit", von "schwarzer Gefahr", und von "häufigen Schlägereien zwischen Mauren und Schwarzen" zunahmen. Man warf der "negro"-afrikanischen Bevölkerungsgruppe vor, sich an "falschen Deportierten" zu bereichern, für die teure Entschädigungs- und Reintegrationsprogramme bereitgestellt werden müssten. Schließlich sprach man von einer "negro"-afrikanischen(21) Invasion in das Staatsgebiet, die vom Innenminister, einem "haalpular",(22) veranlasst worden sei.

Die Regierungsmehrheit warf dem Präsidenten Schwäche vor; diese sollte als Erklärung dienen für alle zaghaften Versuche, welche durch Gerüchte verschiedener Herkunft je nach deren Entstehungskontext in die eine oder die andere Richtung aufgebauscht wurden: sei es die Betonung der Vorrangstellung eines bestimmten verantwortlichen Militärs, des Chefs der Präsidentengarde oder eines bestimmten Mitglieds der Präsidentenfamilie oder einfach eines bestimmten Stammes. Was die Regierung auch unternahm - alles wurde durch ein von der gesamten Politiker-Community gebranntes Destillat aus Spott und Häme verunglimpft.

In diesem Kontext schloss sich Sidi Ould Cheik Abdallahi - persönlich geprägt durch die Erfahrung mit der Politik Ould Daddahs und dessen Einheitspartei "Partei des mauretanischen Volkes", PPM, und angetrieben durch die Anhänger der Partei Ould Tayas (PRDS) - der Idee einer vereinigten Mehrheitspartei, gebildet durch den Zusammenschluss der "Unabhängigen" und einiger kleiner Parteien, die seine Kandidatur unterstützt hatten und über eine parlamentarische Mehrheit verfügten: Adil, gegründet im Februar 2008. Die Partei ist das Endprodukt dieser mühevollen Entwicklung des traditionellen politischen Systems, die sich seit dem Putsch des 3. August 2005 vollzogen hat. Sie sichert die kraftvolle Rückkehr des Taya-Systems, und diese wird von den Generälen(23), der APP und den anderen Komponenten der ehemaligen Opposition gefürchtet.

In seiner Rede vom 6. August 2008 legitimierte General Abdel Aziz den Putsch mit der Behauptung, er wolle "die bedrohte Demokratie retten", sowie mit dem Vorwurf, Präsident Sidi habe nichts unternommen, "um die Lebensbedingungen im Alltag der Menschen zu verbessern". Nun kann man aber trotz der Kürze der beiden aufeinander folgenden Amtsperioden Präsident Sidis durchaus politische Errungenschaften feststellen, insbesondere eine Konsolidierung des Dezentralisierungsprozesses und punktuelle Fortschritte vor allem auf regionaler Ebene. In diesem Zusammenhang ist auch die Anerkennung der rechtlichen Stellung der Flüchtlinge und die Organisation ihrer Rückkehr sowie das Gesetz zur Sanktionierung der im Zusammenhang mit der Sklaverei stehenden Praktiken zu nennen. Wie es scheint, hat Präsident Sidi die Risiken der Situation nicht in ihrem tatsächlichen Ausmaß erfasst. Er betrachtete diese Konflikte (Divergenzen) lediglich als Positionierungskämpfe innerhalb "seiner politischen Mehrheit" und reagierte deshalb nicht mit der Entschlossenheit und dem Geschick, die nötig gewesen wären, um das Heft wieder selbst in die Hand zu nehmen.


Und dann ...

Am 22. April 2009 begann der Wahlkampf mit der Schließung der Kandidatenliste für die Präsidentschaftswahlen nach fast zwölf monatigem Ringen mit der Opposition und unter dem Druck ausländischer Akteure. Die Bemühungen der "Kontaktgruppe zur Krise Mauretaniens" (Afrikanische Union, Arabische Liga, OCI(24), EU, ACP(25), UNO ...) mussten zur Organisation direkter Verhandlungen zwischen den wichtigsten Protagonisten der Krise im Juni 2009 in Dakar führen: Putschanhänger, FNDD und die Partei RFD. Unter dem starken Druck der internationalen Gemeinschaft wurden Vereinbarungen über den Weg aus der Krise in Dakar paraphiert und unter großem Pomp in Nouakchott unterzeichnet. Sie sahen insbesondere den Rücktritt des Präsidenten Sidi Ould Cheik Abdallahi vor sowie die Organisierung von Präsidentschaftswahlen am 18. Juli 2009, an denen alle Seiten teilnehmen sollen. Ebenso war die Einsetzung einer unabhängigen, von allen Seiten getragenen Wahlkommission vorgesehen sowie die Bildung einer Übergangsregierung zur Durchführung der Wahlen, in welchen jeweils alle Parteien repräsentiert sind. Die Übereinkunft von Dakar wurde unter den Auspizien einer internationalen Gemeinschaft unterzeichnet, die für den Weg aus der Krise vor allem einen formalen Rahmen schaffen wollte, dessen Konturen sich während der vergangenen Monate Schritt für Schritt abgezeichnet hatten. Einige Staaten Europas - Frankreich, Spanien und Deutschland - und Afrikas - Libyen und Senegal - scheinen sich nur in ganz kleinen Schritten von der Notwendigkeit einer formalen Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung überzeugt zu haben, wobei sie ein vor Ort bestehendes Kräfteverhältnis berücksichtigten, das für die Putschanhänger günstig erschien.

Dabei ist zu allerdings zu bemerken, dass die Putschgegner stark behindert waren durch die tiefgreifenden Spaltungen in ihrem Innern und durch die vielfältigen Vorteile, die der tatsächliche Besitz der Macht in einem Land wie Mauretanien bedeutet. Solange die internationale Gemeinschaft entschlossen schien, den Putsch nicht durchgehen zu lassen, hatten die "Opponenten" die von den Putschanhängern durchgeführte Aktion einer "Normalisierung" heftig stören können. Aber seit den ersten Anzeichen nachlassender Wachsamkeit innerhalb der internationalen Gemeinschaft begann die Regierung, den "Normalisierungsprozess" völlig unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie gestand die Verhandlungen und Vereinbarungen von Dakar nicht einer Opposition zu, deren Aktionen vor Ort sie fürchtete, sondern einer internationalen Gemeinschaft, von der sie Anerkennung und später Unterstützung erwartete.

Die Wahlergebnisse von 2009 haben angesichts der politischen Situation in Mauretanien alle Beobachter mehr oder weniger überrascht. Die meisten dieser Beobachter erwarteten einen zweiten Wahlgang, in dem die beiden ersten von ursprünglich drei Favoriten gegeneinander antreten würden: Ould Abdel Aziz, Ould Daddah und Ould Boulkheir. Der Sieg im ersten Wahlgang (mit 52% der Stimmen) von Ould Abdel Aziz gegen seine bedeutendsten Herausforderer, Messoud Ould Boulkheir (knapp über 16%) und Ahmed Ould Daddah (fast 14%) bei einer Wahlbeteiligung von etwas mehr als 64% geriet zu einer Überraschung. Seine wichtigsten Herausforderer stellten massiven Betrug fest und leiteten eine Beschwerde beim Verfassungsrat ein. Die wildesten Gerüchte machten die Runde: Man sprach von einer Manipulation der Wählerkarteien, der Meldestellen und sogar vom Einsatz chemischer oder elektronischer Verfahren, um den Willen der Wählerschaft in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Anhänger von Ould Abdel Aziz waren im Allgemeinen ebenso überrascht wie die anderen; sie beriefen sich auf die Effizienz der "Normalisierungsaktion" und der populistischen Reden des "Präsidenten der Armen". Ould Abdel Aziz hatte in ihren Augen den traditionellen Sprachstil der Opposition für sich zurückerobert, - den er angeblich als erster angewendet hatte -, indem er der Opposition einen "moderateren" und so auch weniger mobilisierenden Diskurs aufnötigte. Auf diese Weise soll er die wichtigen Randgruppen der traditionellen Wählerschaft hrâtin(26) (siehe den Artikel von Christine Hardung) aus den benachteiligten Gebieten, "Negro"-Mauretanier ... zurückgewonnen haben.

Seine Rede, die nach seinem Sieg alle Wähler um ihn sammeln sollte: "Je suis le Président de tous les Mauritaniens [...], dieser Sieg ist ein Sieg der ökonomischen Entwicklung, des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands für alle" verkündete das Ende einer mehrjährigen Phase politischer Instabilität - und die Etablierung des neuen starken Mannes im Rahmen konstitutioneller Regeln an der Spitze des politischen Systems der islamischen Wüstenrepublik.(27)

Heute scheint sich der Wahlkampfdiskurs von Ould Abdel Aziz, der auf den Kampf gegen Korruption und erkaufte Positionen fokussiert war, erschöpft zu haben, nachdem er zuvor, wie es scheint, im Zusammenhang mit einigen "Affairen"(28) positive Wirkung gezeigt hat. Die Umstände der Bekanntgabe aller dieser Affairen, der an den Tag gelegten Gewissenhaftigkeit bei ihrer Verfolgung und schließlich die Bedingungen ihrer Beendigung haben letztlich die Botschaft vom Kampf gegen die Korruption verdrängt und an deren Stelle die Idee von der Bereinigung stammespolitischer Konflikte wieder in den Vordergrund gerückt. Die Reform der Administration, die im Ruf steht, durch Inkompetenz und Korruption kontaminiert zu sein, scheint sich im Rahmen einer groß angelegten Improvisation zu vollziehen. Die öffentlichen Ämter werden erschüttert durch einen brutalen Wechsel des Vergütungssystems, das vielerlei Frustration und Beunruhigung zu verursachen scheint. Auf diese Weise wird der staatliche Verwaltungsapparat, der schon unter den Politikern zu leiden hat, empfindlich gestört.

Die Wirtschaft bewegt sich am Rande des Erstickungstodes wegen des nahezu generellen Stillstands der internationalen Zusammenarbeit: Sie wurde seit dem Putsch fast vollständig eingestellt. Verhandlungen zur ihrer Wiederaufnahme kommen nur zögerlich und mühsam voran. Zu alledem kommt die Beunruhigung der Unternehmer. Die Wirtschaftsmaschinerie bewegt sich mehr und mehr im Leerlauf.

Wie korrekt und sauber die Wahlen von 2009 auch immer gewesen sein mögen, - sie haben das Land in eine politische Apathie gestürzt, von der es sich nicht erholen kann. Vor allem im Lager der Putschanhänger hat man vom angekündigten Tod der traditionellen politischen Klasse gesprochen und vom Auftauchen einer neuem im Kielwasser des "Neuen Mauretanien". Diese neue politische Klasse soll gerade dabei sein, sich langsam, aber unerbittlich ihren Weg zu bahnen.

Schließlich bleibt zu sagen, dass man im gegenwärtigen Kontext die eminent negative Auswirkung des Scheiterns dieser Demokratisierungsinitiativen immer noch nicht erkannt hat. War der Sieg von Ould Abdel Aziz Ausdruck des Wunsches einer Bevölkerung, die angesichts der Belastung durch Angst, Frustrationen, Unsicherheit und hoher Lebenshaltungskosten, auf die sie generell mit Aggressivität, Rassismus und Xenophobie zu reagieren pflegt - verzweifelt Schutz sucht, den sie nur in einer absoluten Autorität zu finden glaubt? Dennoch bleibt vielleicht eine gewisse Hoffnung, dass die bestehende Situation die Chance zu einem radikalen Wandel in sich trägt dank des Quentchens von politischem Bewusstsein in der Zivilgesellschaft, das sich andeutungsweise in ihrer Bereitschaft zum Kampf im Namen der Demokratie ausdrückt.


Mohamed Fall Ould Bah, Ökonom und Wirtschaftsprüfer; Laurence Marfaing, wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA German Institute of Global and Area Studies, Hamburg.


Aus dem Französischen von Traudi Hutterer.

Anmerkung der Übersetzerin:
Die Begriffe negro-mauretanisch und negro-afrikanisch sind auf Wunsch der Autoren verwendet wurden.

Anmerkungen

1) Adil = arabisches Akronym der Partei "Pacte National pour la Démocratie et le Développement" (Nationalpakt für Demokratie und Entwicklung), welches zugleich auf Arabisch "gerecht" bedeutet.

2) Ould Taya wurde 2005 nach über 20 Jahren autoritärer Regierung von Militär- und Polizeioffizieren gestürzt. Siehe Marfaing, Laurence/Richter, Thomas (2009): Präsidentschaftswahlen in Mauretanien: Ein zweifacher Putschist siegt im ersten Wahlgang. In: Giga Nahost, 8: 2009, S. 2.

3) Alliance pour la Justice et la Démocratie (Bündnis für Gerechtigkeit und Demokratie)/Mouvement de R'econciliation (Versöhnungsbewegung).

4) Eine politisch-militärische Anti-Taya-Organisation.

5) D.h. der 1989 in den Senegal geflohenen negro-mauretanischen Bevölkerungsgruppe. siehe Anm. 26. Zur selbstbezeichnung dieser Gruppe als "negro-mauretanisch" siehe Anm. 21.

6) Besonders 1986-1992, Höhepunkt: 1989.

7) "Vater des Vaterlandes" (Staatschef von 1959-1978).

8) Siehe: Maroc Hebdo International, 562, 13-19 Juin (Juni) 2003.

9) Oberst Ely Ould Mohamed Val, Directeur Général der Sicherheitskräfte und Oberst Mohamed Ould Abdel Aziz, Kommandant des präsidialen Sicherheitsbataillons, gelten als diejenigen, die den Putsch vom Juni 2003 gegen Präsident Taya zum Scheitern gebracht haben.

10) Unter besonderer Beteiligung der Afrikanische Union, (AU = UA, Union Africaine) und der Europäischen Union (EU).

11) Z.B. Radio Citoyenne und Radio Mauritanie.

12) So wurden z.B. Mitglieder der tribalen Elite in ihren eigenen Hochburgen geschlagen, so beiden Kommunal- und Parlamentswahlen 2006 in Zouérate, einer Bergbaustadt im nordwestlichen Mauretanien.

13) Slogans einer durch die Unabhängige Nationale Wahlkommission CENI (Commission Electorale Nationale Indépendante) 2006 organisierte Sensibilisierungskampagne: "Votre vote compte" ("Ihre Stimme zählt").

14) Antil, Alain (2005): La Mauritanie aprés le putsch 2005, Politique étrangère, 4/Hiver: 809-819.

15) Militärrat für Gerechtigkeit und Demokratie, der nach dem Putsch gegen Taya 2005 bis zur Wahl Abdallahis 2007 an der Macht war.

16) Dem ehemaligen System Taya.

17) Die von Taya gegründete Regierungspartei: PRDS (Parti Républicain Démocratique et Social).

18) Diese Akteure aus tribalem Kontext wurden bei der Demokratischen Generalversammlung (Etats Généraux de la Démocratie, EGD) vom 27.12.2008-6.1.2009 als "die tiefste mauretanische Provinz" ("La Mauritanie profonde") vorgestellt. Die Bezeichnung wurde medial ausgiebig verbreitet mit dem Ziel, den politischen Diskurs der Parteien und anderer ziviler Organisationen zu unterbinden.

19) Es handelt sich um die "Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf" (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat/GSPC), die 2006 in der "Al-Qaida im islamischen Maghreb" aufging.

20) Arabisch-berberische Bevölkerungsgruppe Mauretaniens.

21) "Die Schwarze mauretanische Bevölkerung, die in der Region des Senegalflusses lebt, bezeichnet sich selbst als "negro-mauretanisch" - als Ausdruck der bewussten Abgrenzung von der in Mauretanien dominanten berberisch-arabischen (maurischen) Identität." Siehe Marfaing/Richter, Präsidentschaftswahlen in Mauretanien ... Giga Nahost, 8, 2009, S. 4.

22) Haalpular ("Ful-Sprecher") Angehöriger der schwarz-mauretanischen Minderheiten Mauretaniens, zu welchen u.a. auch Fulbe, Wolof und Soniké zu rechnen sind. Cf. Marfaing, Laurence/Richter,Thomas: Präsidentschaftswahlen in Mauretanien: Ein zweifacher Putschist und Ex-General siegt im ersten Wahlgang. Giga Nahost, 8, 2009, S. 3.

23) Darunter Mohamed Ould Abdel Aziz, der, wie es scheint, zusammen mit zwei Kollegen aus der CMJD als Gegenleistung für geleistete Wahlhilfe vom Präsidenten zum General befördert wurde.

24) Organisation de la Conférence Islamique.

25) Assemblée Parlementaire Paritaire (Parlamentarisch-Paritätische Versammlung)

26) Französisch: Haratines: Abkömmlinge schwarzer Sklaven, ca. 40% der Bevölkerung Mauretaniens.

27) Siehe Bahrenburg, Hannes/Richter, Thomas (2008): Nur ein Intermezzo? Zum Scheitern der Demokratisierung in Mauretanien, Giga Focus Nahost, 11. Siehe Marfaing/Richter (2009). Giga Nahost, 8, S. 6.

28) Die Affaire "AIR MAURITANIE", ehemalige staatliche Fluggesellschaft, wegen Zahlungsunfähigkeit 2007 aufgelöst. Mehrere ihrer Chefs wurden wegen schlechter Unternehmensführung verklagt und für einige Zeit inhaftiert, dann gegen Kaution freigelassen. Die Affaire "PROCAPEC", deren Generaldirektor noch immer wegen schlechter Führung inhaftiert ist; die sogenannte "BCM"-Affaire, in deren Verlauf zwei ehemalige Vorstände der mauretanischen Zentralbank und vor allem drei der wichtigsten Geschäftsleute des Landes wegen Veruntreuung von Geldern zunächst festgenommen, dann gegen Kaution freigelassen wurden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Salzproduktion
- Traditionelles Dorf
- AIDS TÖTET!


*


Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 61, Frühjahr 2010

Gastkommentar
- Antimuslimischer Feminismus und Rechtsextremismus - eine Replik, von Birgit Rommelspacher

Mauretanien
Sozialstrukturen und politische Macht, von Abdel Wedoud Ould Cheikh
Demokratie, Islamizität und Stammeskultur, von Ulrich Rebstock
Demokratie in Mauretanien - Übergangsphasen in Permanenz, von Mohamed Fall Ould Bah und Laurence Marfaing
"Moralisches Unternehmertum" und islamische Finanznetze von Mohamed Fall Ould Bah und Abdel Wedoud Ould Cheikh
Das Gesetz Nr. 2007-048 zur Ahndung der Sklaverei, von Christine Hardung
Die saharischen Schulen in der Geschichte Mauretaniens, von Ghislaine Lydon
Shaikhani (1907-1986) und die Erneuerung der Tijaniya in den 40er Jahren, von Britta Frede

Afghanistan
- Deutschland im Krieg: Es geht keinem um Afghanistan, von Conrad Schetter

Algerien/Frankreich
- Die Ermordung der Mönche von Tibhirin und die franko-algerische Staatsräson, von Werner Ruf

Westsahara
- Bereitet der EU-Fischerei in der Westsahara ein Ende! Von Axel Goldau

Palästina/Israel
- Ja zum Mobile-Geschäft! Nein zum Goldstone-Bericht! Von Jonathan Cook

Türkei
- Die "Kurdeninitiative" der AKP, von Havva Kökbudak

Film
- Palästinensisches Kino? Von Irit Neidhardt

Islam in outer space
- Teil II - Die afghanische Weltraummission, von Nils Fischer

Wirtschaftskommentar
- Irak, EU und Nabucco: Die Dreigroschenpipeline, von Inga Rogg

Zeitensprung
- 1970 im September, Redaktion

Ex Libris
Al-Nakba - Dokumentarfilm, besprochen von Hakam Abdel-Hadi
Bettina Marx: Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung, besprochen von Katja Hermann
Anna Kölling: Weibliche Genitalverstümmelung im Diskurs, besprochen von Nils Fischer

//Ticker//


*


Quelle:
INAMO Nr. 61, Jahrgang 16, Frühjahr 2010, Seite 15 - 22
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
Redaktion: INAMO, Postfach 310727, 10637 Berlin
Telefon: 030/864 218 45
E-Mail: redaktion@inamo.de
Internet: www.inamo.de

Die inamo erscheint vierteljährlich, sie kann zum Preis
von 21 Euro plus 2 Euro Versand (innerhalb Deutschlands)
bei der Redakion abonniert werden.

inamo e.V. ist auf Unterstützung angewiesen.
Spenden sind willkommen.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2010